Siegel der Universität Heidelberg
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Meinungen

Reiner Wiehl, Philosophisches Seminar, über das Selbstverständnis der Universität im Wandel 1968-1998.

Wer sich der Jahre von 1968 im Binnenraum der deutschen Universität, sei es nun Heidelberg oder Hamburg, Berlin oder Frankfurt, erinnert, wird in der Universität von damals nur schwer die heutige, in der heutigen nur schwer die damalige wiedererkennen können. Das Alltagsgeschehen in der Universität jener Jahre, die systematischen Störungen der Vorlesungen, die gezielten militanten Attacken auf einzelne Kollegen, die Institutsbesetzungen und Krawalle, schließlich die endlosen Debatten in den universitären Gremien nach Einführung der Gruppenuniversität und die langatmigen strategischen Beratungen innerhalb der verschiedenen Gruppen: all dies läßt es heute geradezu als ein Wunder erscheinen, daß diese Universität sich letztlich ihre Befähigung als Grundinstanz von Forschung und Lehre hat bewahren können. Wenn wir, die wir der Generation der Zeitzeugen jener Jahre angehören, den Studierenden von heute von jener Zeit berichten, haben wir von uns selbst den Eindruck, in die Rolle von Märchenerzählern geschlüpft zu sein, die dem Unwahrscheinlichen die Form der Wahrheit zu verleihen versucht sind. Und doch kann gerade der Rückblick die Augen vor der Tatsache nicht verschließen, daß die Probleme der Universität von heute, wenn auch unter veränderten Bedingungen, dieselben sind wie jene, die sich schon damals abzeichneten: Probleme der modernen Massenuniversität, die nicht mehr nur eine hohe Stätte der Forschung und Lehre, sondern ebenso ein Ort der effizienten Berufsausbildung für leistungsorientierte Gesellschaftstätigkeit geworden war.

Zeitzeugen sind keine besonders zuverlässigen historischen Quellen. Ihre unzuverlässige Zeugenschaft wird heute durch eine Flut von wissenschaftlichen Analysen und sonstigen publizistischen Kommentaren begleitet. Immerhin: für die Zeitzeugenschaft jener Jahre zeigt sich immer wieder ein erstaunliches Realitätskriterium. Dieses besteht in dem Auftauchen einer extrem hohen Emotionalität, die sich der Gespräche zwischen den Zeitzeugen unversehens bemächtigt. In der gemeinsamen Erinnerung erneuern sich alte Bundesgenossenschaften im Bewußtsein heroisch geführter Schlachten, und wenn einer den Spielverderber macht und ein Wort besonnener Distanz einfließen läßt, wird er so angesehen, als bestünden die alten hochpolitisierten Gegnerschaften unverändert fort. Selbst die bilanzierende hochtheoretische Bewertung jener Jahre der Studentenunruhen lassen das Fortbestehen der alten Parteiungen erkennen. Als 1995 Jürgen Habermas der Karl Jaspers-Preis der Universität und Stadt Heidelberg verliehen wurde, hat es nicht nur die fachlich gebotene einhellige Zustimmung gegeben, sondern auch emotionale Kritik, weil man in ihm nur den Wortführer jener Studentenbewegung sehen und nicht wahrhaben wollte, daß er einer der ersten gewesen war, der vom faschistischen bzw. vom faschistoiden Verhalten der Studenten gesprochen hatte. Adornos Tod nach einer Attacke seiner eigenen Studenten fand mehr Häme als allgemeine Anteilnahme. Ich habe in meiner Laudatio auf den Preisträger von 1995 sinngemäß gesagt, daß wer immer die Umtriebe der Studenten in den Jahren um 1968 mit denen um 1933 gleichsetzt, im NS-Staat nicht ernsthaft unter der Diktatur gelitten haben kann. Ich kann in diesem Zusammenhang nicht genug betonen: Es sind im Raume der Universität schlimme Dinge geschehen, vieles am Rande der Legalität, manches den Raum der Legalität überschreitend, bewußt betrieben durch das Spiel studentischer Strategien. Ich war mir, in jenen Jahren an der Universität Hamburg das Fach Philosophie lehrend, mit meinem dortigen Freund, dem inzwischen verstorbenen Germanisten Karl-Ludwig Schneider, darin einig, daß wir in dem Verhalten der Studierenden eine Fülle niederträchtiger Züge wiederfanden, die denen des Verhaltens in der NS-Zeit ähnelten. Karl-Ludwig Schneider hat dies besonders schwer empfunden, er, der dem Hamburger Zweig der "Weißen Rose", also dem studentischen Widerstand gegen Hitler angehört hatte. Im übrigen waren die Gemeinheiten nicht nur ein Privileg der studentischen Eliten. Es gab auch die scheußlichen Züge des opportunen Mitmachens der Menge, ausgedrückt in zustimmendem Gebrüll und Gejohle, und vor allem, es gab die äußerst aktive Mitwirkung der Assistentenschaft. Und was die Professoren betrifft, so haben wir uns damals nicht nur über Kollegen mokiert, die über Nacht ihre Krawatte und ihre guten Anzüge abgelegt hatten und die in die Kleidung einer klassenlosen Gesellschaft geschlüpft waren. Es ging auch um die wenig mutige Aufkündigung von Solidarität mit angegriffenen Kollegen. Wir wissen immer noch nicht genug über die Motive, die den Heidelberger Philosophen Jan van der Meulen unter den Angriffen der Studenten den Freitod hat suchen lassen. Aber es ist hier gut, sich des noblen Nachrufes von Hans-Georg Gadamer zu erinnern, der die Schuld mangelnder kollegialer Solidarität ins Bewußtsein gerufen hat.

Aber was jene Jahre von der NS-Zeit unterscheidet, ist dies: Die Universität war ein kleiner Binnenraum. Und wenn auch viele sich in dem Raum nicht sicher oder sogar bedroht fühlen mußten, sie konnten sich außerhalb dieses Raumes sicher und im Rechtszustand befindlich fühlen unter Bedingungen einer sich zunehmend befestigenden Demokratie. Die Frage nach den Ursachen der Studentenunruhen findet heute zahllose Antworten. Übereinstimmung besteht weitgehend darin, daß die deutsche Universität damals dringend der Reformen bedurfte. Hermann Lübbe hat zurecht daran erinnert, daß kein Kausalverhältnis zwischen diesem Reformbedürfnis und der studentischen Protestbewegung bestand, sofern die politischen Instanzen die Reformarbeit bereits begonnen hatten. Aber dieses Argument schließt gewisse berechtigte Motive der studentischen Protestbewegung nicht aus. Wenn ich von meinem Widerwillen gegenüber den aggressiven und gewalttätigen Ausdrucksformen jener Bewegung gesprochen habe, so steht dies nicht im Widerspruch zur Anerkennung einer Berechtigung bestimmter Motive jener Bewegung. Ich stehe nicht an, zuzugeben, daß ich im Laufe von einem Menschenalter hinzugelernt habe, einiges auch neu zu sehen, und ich denke, daß Lernfähigkeit nicht nur für Studierende, sondern auch für die Lehrenden eine zu fordernde Eigenschaft ist. Die Frage, wie gefestigt die Demokratie 1968 wirklich in Deutschland gewesen ist, ist müßig, da wir heute, dreißig Jahre später, von einer Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich ihrer demokratischen Verfassung und Gesinnung sprechen können, und zwar auch ungeachtet trüber und unerfreulicher Nebenerscheinungen. Aber daß die damals junge Generation von einem tiefen Mißtrauen erfüllt war, gegenüber der Festigkeit dieser Demokratie, gegenüber der in Anspruch genommenen Autorität der älteren Generation der Eltern und Lehrer, daß sie für sich einen radikalen Neuanfang suchte – all dies kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, wie lange Deutschland gebraucht hat und weiterhin noch brauchen wird, um die Geschichte seiner jüngeren und jüngsten Geschichte zu erinnern auf der Suche nach einer neuen Zukunft. Es ist keine Schande, daß diese Erinnerungsarbeit so viel Zeit und Mühe kostet, aber daß dem so ist, ist ein Faktum. Und es ist auch ein Faktum, daß jene damals junge Generation, mit den Greueln der NS-Diktatur bekanntgemacht worden war, während eben diese Gesellschaft, denen sie diese Bekanntschaft verdankte, ihrerseits Komplizenschaften zwischen den Gefolgsleuten jener Diktatur und den neuen Verantwortungsträgern praktizierte, weiterhin rechtmäßige Bestrafung wirklich Schuldiger, sei es unabsichtlich oder absichtlich, verschleppte und sich im übrigen der großen Heuchelei bediente, als sei sie selbst über Nacht durch eine Art Wunder aus einer Gesellschaft der Anhänger jener Diktatur zu einer Gesellschaft von Widerstandskämpfern geworden. Es ist richtig, daß die Studentenbewegung eher moralisierend als politisch tätig gewesen ist, wie denn ihr Marxismus ein aufgesetzter war, wie der der Frankfurter Schule, an dem sie sich orientierte. Aber auch hier muß man sagen: Es war keine Schande, die Moral in dieser Situation zu bemühen. Auch Karl Jaspers war Moralist, als er in eben jenen Jahren die Demokratie der jungen Bundesrepublik in Gefahr sah. Es ist immer leicht, den Moralismus bloßzustellen, und wenn jemand dagegen den Zynismus ins Spiel bringt, wird er zumindest die Lacher auf seiner Seite haben. Eine schlimme Argumentation aber ist es, die einen Kausalzusammenhang konstruiert zwischen berechtigten moralischen Motiven und Entgleisung der Studentenbewegung sowie dem Abdriften einer kleinen Randgruppe in den Terrorismus. Der Fall des Assistenten der Psychiatrie Huber, erfolgloser Doktorand in der Philosophie bei Jan van der Meulen, ist keine Geschichte zum Lachen. Die Einführung der Idee der Gruppenuniversität in den universitären Raum stand und steht im Widerspruch zum eigentlichen Selbstverständnis der Universität, demzufolge sich hier Studierende und Forschende in der Einheit von Forschung und Lehre verbinden und in dieser Verbindung ihr gemeinsames Interesse finden. Die Einführung dieser Gruppenuniversität war ein schlechter Kompromiß der politischen Instanzen, zumindest soweit sie der Vorstellung der Universität als des privilegierten Ortes des Klassenkampfes entgegenkam, beziehungsweise sich als Organisationsform der Vermittlung von Arbeiter und Arbeitgeber mißzuverstehen bemüht war. Das Gerangel und die Taktiken, die durch diese Konstruktion in wichtigen wissenschaftlichen Fragen befördert wurden, führt zu enormer Verschwendung kreativer Arbeitskraft. Aber die Anomalien dieses Konstruktes dürfen eine Idee nicht vergessen machen, die für ein sinnvolles Zusammenwirken von Lehrenden und Lernenden unerläßlich ist. Es ist dies die Idee der Partizipation der Mitglieder der Universität an deren gemeinsamer universitärer Aufgabe. Diese höchst sinnvolle Idee ist durch das Konstrukt der Gruppenuniversität nicht angemessen realisiert und in gewisser Weise verfälscht. Das Problem einer zureichenden Bildung als Voraussetzung einer erfolgreichen Forschung und Lehre ist nicht dadurch gegenstandslos geworden, daß wir heute über keinen allgemeinverbindlichen Bildungskanon verfügen. Ohne angemessene Bildung kann Forschung und Lehre nicht gedeihen. Forschung und Lehre tragen ihrerseits zur öffentlichen Bildung in der Gesellschaft bei und wirken auf diese Weise mit an der ständigen Erneuerung ihrer eigenen Voraussetzungen. Den Geisteswissenschaften kommt hier eine ausgezeichnete Bedeutung zu. Sie wären aber schlecht beraten, wenn sie, sei es auch um der Verteidigung des eigenen Daseinsrechtes gegenüber der Dominanz der Naturwissenschaften willen, diesen einen vergleichsweisen Bildungseffekt bestreiten wollten. Die gegenwärtige Modeströmung, permanente Leistungs- und Effizienzkontrollen der universitären Lehre zu verlangen, ist geeignet, jene Bildungsaufgabe der Universität zu verdecken, die diese sich bewußt aneignen sollte, um die aktuellen Probleme ihrer Erfüllung besser lösen zu können.

Man kann die Wandlung der deutschen Universität mittels der soziologischen Begriffe der Institution und der Organisation beschreiben und ihre internen und externen Gegebenheiten mittels der korrespondierenden begrifflichen Implikationen analysieren. Man sollte sich aber hüten, zwischen den beiden Begriffen einen Gegensatz zu konstruieren, ob man dieselben nun beschreibend oder analysierend verwendet. Wenn es um das Selbstverständnis der Universität in ihrem Wandel geht, sollte man nicht vergessen, daß mit dem Gebrauch der beiden Grundbegriffe Wertungen verbunden sind, die mit der Grundidee der Universität verbunden sind. Die Humboldtsche Idee der Einheit von Forschung und Lehre ist unter diesem Gesichtspunkt alles andere als überholt. Sie ist nur unendlich schwieriger zu verwirklichen, wenn Forschung, insbesondere Grundlagenforschung, und Berufsausbildung sich immer weiter voneinander entfernen. Teilhabe aller Mitglieder der Universität an Forschung und Lehre bedeutet, daß die Institution Universität auch da, wo sie der Öffentlichkeit die Effizienz der Berufsausbildung schuldet, den Ausbildenden eine gewisse Partizipation an der Forschung gewährt. Karl Jaspers, einer der maßgeblichen Denker der Idee der Universität, hat deren Selbstverständnis an die Idee der Philosophie und an deren Selbstverständnis gebunden. Diesem Selbstverständnis zufolge ist die Philosophie auf die Suche nach der Wahrheit verpflichtet. Die Philosophie heute hat auch ihrerseits den Tribut entrichtet, der alle Wissenschaften und wissenschaftliche Forschung zunehmend betrifft, nämlich den der Spezialisierung und die damit verbundene Gefahr des Verlustes der Distanz und des Blickes über die eigenen Grenzen hinaus. Philosophie als akademische Disziplin im universitären Raum ist heute hin- und hergerissen zwischen dem Zwang zur nüchternen, selbstkritischen Bescheidung und berechtigten öffentlichen Erwartungen, die sich an sie richten als Instanz, die die kritische Distanz und den Überblick auch in der Spezialisierung der einzelnen Wissenschaften fördert. Auf diese Weise leistet Philosophie auch einen Beitrag zur allgemeinen Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung, die der Autonomie der Wahrheit und der Förderung der Gesellschaft im Blick auf deren Humanität verpflichtet ist. Anfang April 1998 veranstalteten die Karl-Jaspers-Stiftung Basel und die Philosophischen Seminare der Universitäten Heidelberg und Basel in Verbindung mit dem Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg ein internationales Symposion zum Thema "Karl Jaspers – Philosophie und Politik". Die Tagung wurde unter anderem durch die finanzielle Unterstützung der Stiftung Universität Heidelberg ermöglicht. Folgen Ethik und Politik weitgehend unterschiedlichen Rationalitäten, die sie ihren unterschiedlichen Funktionen schulden? Oder richten sich beide auf je unterschiedliche Weise auf das Ziel des guten Lebens – die Politik in der Bestimmung der Mittel, die Ethik durch die Vorgabe der Zwecke – und bedarf somit die Politik der Steuerung oder Korrektur durch die Ethik? Und wenn ja: Wie muß diese Ethik beschaffen sein? Jaspers hat sich im Verlauf seines Lebens auf sehr verschiedene Weisen zur Politik geäußert. Diese intellektuelle Entwicklung führte von der allgemeinen Kulturkritik der frühen Jahre über die als Suche nach einer politischen Ethik zu verstehende Zeitkritik in den ersten Nachkriegsjahren zu den späten konkreten rechtspolitischen und parteienkritischen Stellungnahmen, wie Klaus von Beyme, Heidelberg, darlegte. Die Forderung des "Überpolitischen" ist von Jaspers in der unmittelbaren Nachkriegszeit und im Rückblick auf die NS-Herrschaft in die Diskussion gebracht worden. Reiner Wiehl, Heidelberg, zeigte, wie sich diese Kategorie auf zwei Weisen auf die Politik beziehe: Im Sinn der "metaphysischen Schuld" werde das Überpolitische zum Maßstab des Politischen, im Sinn der "existentiellen Kommunikation" diene es als Refugium in einer bedrängenden politischen Realität. In der Forderung des Überpolitischen sei der Mensch, in welchem politischen Umfeld er sich auch immer bewege, als vernünftiges und kommunikatives Wesen angesprochen. Diese Seite des Menschen in dessen Bewußtsein wachzuhalten, darin liege die Bedeutung der Forderung des Überpolitischen für das Politische. Mit einem eher kritischen Blick auf Jaspers' späte politische Publizistik erinnerte dagegen Ernst Benda, Karlsruhe, daran, daß Jaspers in seiner Parteienkritik auf problematische Tendenzen in der Entwicklung der Bundesrepublik zwar zurecht aufmerksam gemacht habe, beklagte aber dessen Rolle in der Verjährungsdebatte: Man müsse ihm vorhalten, aus der Distanz eines im geistigen Elitismus befangenen Intellektuellen Politik und Politiker wie ihn selbst anhand von unangemessenen Kriterien abgeurteilt zu haben. Die Grundopposition in der systematischen Frage, wie Ethik und Politik zueinander zu positionieren sind, die sich in den Vorträgen zu Detailfragen zum Werk Jaspers' darstellte, wurde auf eine allgemeinere Weise in verschiedenen Vorträgen diskutiert: Hermann Lübbe, Zürich, verwies auf die Spannung zwischen dem unbedingten Anspruch moralischer Entscheidungen und den durch Institutionen präformierten "politischen Realitäten", die den Politiker von Gewissensfragen entlasten und damit einen normalen Ablauf des politischen Alltags ermöglichen. Volker Gerhardt, Berlin, dagegen versuchte, Individualität und Vernunft sowohl als Bedingungen wie auch als Kriterien politischen Handelns zu erweisen. Wenn Individualität und Vernunft als Bedingungen des politischen Handelns sich nicht selbst aufheben sollen, müssen politische Zwecke vor genau diesem Maßstab gerechtfertigt werden. Dies gelte sowohl für die Gestaltung der Institutionen zu einer politischen Ordnung als auch für einzelne politische Entscheidungen innerhalb dieser Ordnung. Auch Alfred Grosser, Paris, trat für eine Verbindung von Politik und Ethik ein. In einem Plädoyer für eine voluntaristische Sicht von Identität machte er an Beispielen die Disponibilität von identitätskonstitutiven kollektiven Erinnerungen plausibel. Es gelte dann bei der Auswahl und Aneignung von Traditionen auf "richtige" Weise an die "richtigen" Erinnerungen anzuknüpfen: Politik und Moral berühren sich dort, wo auch in den Entscheidungen der Tagespolitik an die europä-ischen Werte der jüdisch-christlichen Tradition und der Aufklärung angeknüpft werde. Mit der Anschlußfrage, wie man sich nun innerhalb von Gesellschaften über solche Wertfragen verständigen kann, beschäftigte sich Jeanne Hersch, Genf. Sie zeigte, daß nicht nur die Philosophie Voraussetzung für vernünftige Politik ist, sondern auch umgekehrt Politik Bedingung des philosophischen Denkens des Individuums ist, das sich nur in der Kommunikation verwirklichen kann. Daß es eine Aufgabe für jede Gesellschaft sei, den Konsens über Werte auf vernünftige Weise erst herzustellen, unterstrich auch Pierre Aubenque, Paris, in seiner Aristotelesinterpretation, die diesen vor der Vereinnahmung durch die Kommunitaristen schützen soll: Auch bei Aristoteles sei der Primat der über das Vernünftige beratschlagenden Einzelnen vor der faktischen Ordnung der Gemeinschaft und ihren Traditionen anerkannt. Trotz aller Kritik an Jaspers' Politikkritik im einzelnen, konnte man den Eindruck gewinnen, daß viele der versammelten Wissenschaftler der Jaspersschen Grundidee einer Verbindung von Politik und Ethik etwas abgewinnen konnten: Daß Vernunft, die sich in Institutionen der politischen Ordnung oder Traditionen objektiviert hat, immer vor dem Maßstab der Vernunft der Subjekte gerechtfertigt werden können muß.
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