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Kurzberichte junger Forscher

Der Studentenauszug nach Neustadt im Juli 1848

Vorlesungsboykotte haben als studentische Protestform eine lange Tradition: Es gibt sie praktisch, seit es Universitäten gibt. Während heutige Studentengenerationen ihren Forderungen durch Streikaktionen und durch die Besetzung von Universitätsgebäuden Nachdruck zu verleihen versuchen, war das massivste Druckmittel der Studentenschaft seit dem Spätmittelalter traditionell der Auszug aus der Universitätsstadt. Zur gängigen Protestform schlechthin wurden Studentenauszüge jedoch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als viele Studenten gegen das Metternichsche Repressionssystem an den Universitäten protestierten. Auch in Heidelberg war dies die große Zeit der Studentenauszüge: Während es vor 1800 eigentlich nur zwei Auszüge gab – 1586 und 1601, kam es nach dem Übergang der Universität an Baden (1803) in etwas mehr als vier Jahrzehnten zu insgesamt fünf studentischen Sezessionen: 1804, 1810 und 1814 waren es kürzere Aktionen, 1828 ein mehrtägiger Auszug nach Schwetzingen und Frankenthal, und im Juli 1848 kam es schließlich zum längsten und (bislang) letzten Auszug mit dem Ziel Neustadt an der Weinstraße. In den meisten Geschichten der Universität Heidelberg werden diese Auszüge jedoch – wenn überhaupt – nur am Rande erwähnt, und auch speziellere Untersuchungen fehlten bislang fast völlig, wenn man von älteren Arbeiten der studentischen Traditionsliteratur absieht. Grund genug also, im Jubiläumsjahr der Revolution von 1848 auch auf die studentischen Aktivitäten dieser Monate einen neuen Blick zu werfen.

Der Studentenauszug von 1848 verdient schon deshalb besonderes Interesse, weil er – im Gegensatz zu den früheren Auszügen – von der großen Mehrheit der Studentenschaft getragen wurde: Nach dem amtlichen Bericht der Universität beteiligten sich 364 der 564 Immatrikulierten, das heißt, knapp zwei Drittel der Studierenden, studentische Quellen sprechen sogar von "wackeren 430 Kämpfern". Nicht zuletzt deshalb erregte er erhebliches öffentliches Interesse: Eine Arbeit von 1983 bezeichnet ihn "neben dem Göttinger Auszug" sogar als das "meistbeachtete akademische Unternehmen des Revolutionsjahres". Diese Aufmerksamkeit verdankte der Auszug auch seinen unerwarteten Folgen, denn er lieferte den Anlaß für die Auflösung aller demokratischen Vereine in Baden, und damit de facto für das Verbot einer Partei, die erst zwei Monate zuvor bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Land eine überwältigende Mehrheit errungen hatte.

Diese auch 1848 für eine studentische Aktion nicht selbstverständliche politische Brisanz war das Ergebnis einer bemerkenswerten Eskalation: Begonnen hatte die Angelegenheit am 7. Juli 1848 nämlich noch relativ harmlos, als der Universitätsamtmann einen Aufruf des neugegründeten Demokratischen Studentenvereins vom Schwarzen Brett entfernte. Erst die Reaktion des Kurators, eines seit 1845 mit der Oberaufsicht über die Universität betrauten erzkonservativen Spitzenbeamten, machte die Sache zum Politikum: Zwischen Hecker und der nur etwa 25 Mitglieder starken Studentengruppe sah er "keinen andern Unterschied, als daß jene die Waffen schon ergriffen haben und drohend außerhalb der Grenzen stehen, diese aber [...] im Lande werben, um im eintretenden Augenblick mit jenen gemeinsam den Bürgerkrieg zu entzünden", obwohl sich der Studentenverein in seiner gedruckten Satzung ausschließlich zu friedlichen Mitteln bekannte. Der Kurator drängte auf ein scharfes Eingreifen und stieß damit bei Innenminister Bekk auf offene Ohren: Dieser wollte die Gelegenheit nutzen, um ein Exempel zu statuieren, und verfügte – gegen die Empfehlungen von Prorektor und Senat – am 11. Juli das Verbot des Studentenvereins. Aber auch die demokratischen Studenten waren nach der Entfernung ihres Aushangs aktiv geworden: Sie suchten Rückhalt beim Allgemeinen Studentenverein, einem Zusammenschluß der meisten studentischen Verbindungen und Gruppen. Unvereinbar waren die Rechtsgrundlagen, denen sich beide Seiten verpflichtet fühlten: Universität und Regierung beriefen sich auf die Monarchie und die alte Ordnung, während die Studenten sich durch die Märzerrungenschaften und die Grundrechtsdebatte der Nationalversammlung legitimiert sahen.

Obwohl die Mehrheit der Studenten die radikalen politischen Vorstellungen des Demokratischen Studentenvereins nicht teilte, gelang es seinem Vorsitzenden, dem aus Magdeburg stammenden 18jährigen stud. phil. Adolph Hirsch, seine Kommilitonen für die Sache des verbotenen Vereins zu mobilisieren. Nur Stunden nachdem das Verbot am 15. Juli in Heidelberg bekanntgemacht worden war, beschloß eine studentische Vollversammlung ein Ultimatum an die Landesregierung, in dem der Auszug angekündigt wurde, falls das Verbot nicht sofort zurückgenommen werde. Entscheidend war dabei die geschickte Argumentation des charismatischen Redners Hirsch, der betonte, daß es nicht nur um seinen Verein, sondern um politische Grundrechte und die Rechte der gesamten Studentenschaft gehe. Dabei kam ihm zugute, daß Universitätsleitung und Regierung das Verbot mit dem studentischen Charakter des Vereins begründet und unter Berufung auf ein Gesetz von 1833 erlassen hatten: Nicht nur demokratische Studenten mußten darin einen Versuch erkennen, die vormärzliche Sondergesetzgebung gegen die Studenten in die neue Zeit hinüberzuretten.

Nachdem das Ministerium erwartungsgemäß auf ihre Forderungen nicht eingegangen war, entschlossen sich die Studenten, ihre Drohung wahr zu machen. Am Morgen des 17. Juli 1848 versammelten sie sich auf dem Karlsplatz und zogen begleitet von Turnern, Arbeitern und bürgerlichen Demokraten hinter einer großen schwarz-rot-goldenen Fahne zur Stadt hinaus. Entscheidend für den zahlenmäßigen Erfolg war die fast geschlossene Teilnahme der Studentenverbindungen: Selbst drei der fünf traditionell eher konservativen Corps hatten sich der Aktion angeschlossen. Neustadt, das Ziel des Auszugs, war in doppelter Hinsicht beziehungsreich gewählt: Im Vordergrund stand zweifellos die Erinnerung an das Hambacher Fest von 1832, doch auch die Idee, an das Casimirianum, die calvinistische Exilhochschule des 16. Jahrhunderts, anzuspielen, stand dabei Pate. Wie sich bald herausstellte, hatten die Studenten eine gute Wahl getroffen: Die Bevölkerung der Stadt nahm sie freundlich auf und beherbergte sie in ihren Privathäusern. Daß das Verhältnis völlig reibungslos war, lag nicht zuletzt an der disziplinierten Organisation auf studentischer Seite. In allen Fragen federführend war ein 18-köpfiger Ausschuß, der mittels eines Flugblattes bei den Einwohnern um Sympathie warb und sich erfolgreich um gute Beziehungen zu den örtlichen Behörden bemühte. Durch eine Mischung aus politischen Versammlungen, Ausfahrten, Bällen und Kommersen gelang es ihm, die Kommilitonen bei Laune und gleichzeitig bei der Sache zu halten, denn trotz aller Geselligkeit und Ausflugsstimmung verloren die ausgezogenen Studenten ihr konkretes Ziel nicht aus den Augen: die Wiederzulassung des Demokratischen Studentenvereins. In ihren Beschlüssen zeigt sich jedoch politischer Pragmatismus: Eine Petition an den Landtag forderte nicht mehr die unbedingte Aufhebung des Verbots, sondern signalisierte die Bereitschaft, eine gerichtliche Entscheidung zu akzeptieren. Den Kompromißcharakter der studentischen Positionen illustriert eine von Neustadt aus verbreitete Presseerklärung: "Die ausgezogenen Studenten gehören keineswegs sämmtlich der republikanischen Richtung an, vielmehr eben so gut der constitutionellen; aber sämmtlich und einstimmig sind sie jeder Willkühr und Polizeiherrschaft feind." Nennenswerte Unterstützung erfuhren die Studenten dennoch nur von ihren Kommilitonen in Tübingen und Wien sowie von den Demokraten, namentlich vom Heidelberger Historiker und Paulskirchenabgeordneten Karl Hagen, sowie von republikanischen Zeitungen und Vereinen. Die Stadt Heidelberg bot sich als Vermittlerin an – "in schöner Übereinstimmung von freiheitlichem Denken und wirtschaftlichen Interessen suchten die Heidelberger den Studenten goldene Brücken zu bauen" (Peter Moraw), doch blieb eifrige Pendeldiplomatie der Stadt auf allen Seiten erfolglos.

Beendet wurde der Auszug schließlich durch die kompromißlose Haltung der Regierung. Nachdem die Zweite Kammer die Petition mit 34:6 Stimmen deutlich zurückgewiesen hatte, war für Innenminister Bekk der Weg zu einem Verbot auch der anderen demokratischen Vereine frei – unglücklicherweise hatten die Studenten selbst u. a. die Forderung nach "thatsächlicher Gleichstellung" mit den übrigen Demokraten erhoben, eine Forderung, die nun pro forma erfüllt wurde. Dieser Schachzug signalisierte den Studenten, daß durch eine Fortsetzung der bereits sechs Tage andauernden Sezession nichts mehr zu erreichen war, zumal ihrem Anliegen nun der spezifisch studentische Charakter genommen war. Am 23. Juli beschlossen die Ausgezogenen daher fast einhellig die Rückkehr nach Heidelberg, nutzten allerdings die vom Landtag gewährte Dreitages-Frist zur straflosen Rückkehr voll aus: Erst am 25. Juli verließen sie Neustadt. Ihren Wiedereinzug in Heidelberg gestalteten sie als Demonstration ihrer Niederlage: Sie verbaten sich den Jubel der erleichterten Bürgerschaft und betraten die Stadt schweigend, mit eingerollten Fahnen und Trauerflor. In einer öffentlich angeschlagenen Proklamation gelobten sie, "den heiligen Kampf um unser aller Recht" weiter durchfechten zu wollen.

Angesichts dieses offensichtlichen Scheiterns sind viele Zeitgenossen und die meisten Historiker zu einem negativen Urteil über den Studentenauszug von 1848 gekommen. Als politische Demonstration betrachtet läßt sich der Auszug jedoch auch positiver bewerten: Die Idee, eine traditionelle studentische Protestform im Revolutionsjahr in einem politischen Kontext einzusetzen, war kreativ, sie wurde diszipliniert und selbstbewußt ausgeführt und war letztlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten erfolgreich. Die Studenten bedienten sich geschickt der gängigen Massenmedien ihrer Zeit und sie lenkten erfolgreich das öffentliche Interesse auf ihre Forderungen. Durch das Verlassen Heidelbergs übten sie ökonomischen Druck aus, der dazu beitrug, die Stadt Heidelberg für ihre Sache zu mobilisieren. Schließlich zeugt auch der Abschluß des Auszugs von politischer Reife: Er wurde mit einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung beendet, als eine Durchsetzung der Forderungen nicht mehr zu erwarten war. Mit Blick auf die Studentenschaft selbst blieb der Auszug aber durchaus nicht ohne Wirkung. Für kurze Zeit entstand ein neues Selbstverständnis, aus dem heraus man eine institutionelle Anerkennung im Rahmen der Universität einforderte. Der "Ausschuß der Heidelberger Studentenschaft" verstand sich als legitimierte Studentenvertretung, beanspruchte die Aula für ihre Versammlungen und wollte auch bei der Besetzung von Lehrstühlen mitreden, wie die Initiative zur Berufung Ludwig Feuerbachs im August 1848 eindrücklich belegt. Wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens bereitete die Reaktionszeit nach dem Sommer 1849 diesen zukunftsweisenden Ansätzen ein Ende, so daß die Idee einer organisierten Studentenvertretung erst Jahrzehnte später wieder aufgegriffen wurde.

Robert Zepf, M. St., Historisches Seminar

Eine ausführlichere Darstellung des Studentenauszugs vom Juli 1848 erscheint in Bd. 3 (1998) der Zeitschrift Heidelberg: Jahrbuch zur Geschichte der Stadt (Kurpfälzischer Verlag, DM 35, lieferbar vorauss. ab Sept. 1998).

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