Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Literatur um 1968 – politischer Protest und postmoderner Impuls

Die diesjährige Jahresausstellung des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar gilt der Literatur um 1968. Sie wurde in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl Helmuth Kiesels "Neuere deutsche Literaturgeschichte, Schwerpunkt: 20. Jahrhundert" entwickelt und verfolgt drei Ziele: Sie will die Genese und Entwicklung des 68er-Protests nachzeichnen, die Literatur als Inspirationsquelle und Organon der Protestbewegung zeigen und die Verschränkung von politischem Protest und postmodernem Impuls deutlich machen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer gegenwärtigen Neubewertung der politischen Kultur der Bundesrepublik, die von der 68er-Bewegung bekanntlich einer scharfen Kritik unterzogen worden war.

Die Protestbewegung hatte vielerlei Quellen und Motive. Erinnerungsliteratur und historisch-soziologische Analysen weisen vor allem auf folgende Quellen hin: auf eine sozialistische Denkrichtung, die sich zu Beginn der sechziger Jahre organisatorisch und theoretisch erneuerte und profilierte; auf eine staats- und kapitalismuskritische Haltung in den Kirchen, besonders in der protestantischen; auf kulturkritisches oder kulturpessimistisches Denken, wie es sich in konservativen Kreisen des Bürgertums, aber auch bei der Frankfurter Schule fand; auf den Freudo-Marxismus, der sich vor allem auf die Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse stützte; auf die "Subkulturen" der fünfziger und sechziger Jahre, die der "herrschenden" oder dominierenden und allgemeineren Kultur eigene Vorlieben, Werte, Formen und Institutionen entgegensetzten, also nicht nur "Teilkulturen" waren, sondern auch den Charakter von "Gegenkulturen" hatten. Gemeint sind vor allem jene amerikanischen Bewegungen (der "Beatniks", "Hippies" und "Yippies"), die sich – aneinander anschließend – seit Mitte der fünfziger Jahre von der Gesellschaft abwandten und sich ihr teilweise entgegenstellten. Diesen verdankt auch die deutsche Protestbewegung um 1968 sowohl einen Teil ihrer Erscheinungs- und Demonstrationsformen als auch einen guten Teil ihrer Werthaltungen: nicht nur die Ablehnung von "bürgerlichen" Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit und Fleiß, sondern auch die Wertschätzung von Unkonventionalität, Spontaneität, Kreativität, Sexualität, Drogengenuß und ungehinderter Selbstverwirklichung.

So vielfältig wie die Quellen der Protestbewegung waren ihre Motive und Themen: der Vietnam-Krieg, das Schah-Regime, die Ausbeutung der Dritten Welt, die Fragwürdigkeit der Konsumgesellschaft, die Bildungskatastrophe, das Elend der Universitäten zwischen "Ordinarienwirtschaft" und Massenandrang, die Notstandsgesetzgebung, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, der Anti-Kommunismus der Adenauer-Zeit, der "restaurative" oder gar "faschistoide" Charakter der Bundesrepublik.

Der Restaurationsvorwurf ist keine Erfindung der Protestbewegung. Er eilte der Bundesrepublik voraus. Erstmals erhoben wurde er im Winter 1946/47 von Hans Werner Richter in der Zeitschrift "Der Ruf". Im Kern besagt er, daß die Entwicklung in Westdeutschland auf eine Wiederherstellung jener gesellschaftlichen Verhältnisse hinauslaufe, die schon einmal in den Faschismus geführt hätten. In aufsehenerregender Weise erneuert und verschärft wurde diese Restaurationsthese 1950 von Walter Dirks in den "Frankfurter Heften". Ein Relativierungsversuch, den Eugen Kogon 1952 in derselben Zeitschrift publizierte, und ein Widerlegungsversuch des Schweizer Journalisten Fritz René Allemann, der 1956 unter dem Titel "Bonn ist nicht Weimar" erschien, fanden hingegen wenig Resonanz. Spätestens zu Beginn der sechziger Jahre galt die Bundesrepublik in weiten Kreisen der politischen Publizistik, der einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen und der zunehmend zeit- und gesellschaftskritisch sich gerierenden Literatur als "restaurativ": als ein autoritärer Verwaltungsstaat, in dem viele Machtpositionen mit ehemaligen Nazis besetzt waren und dessen Demokratisierung nur auf dem Papier stand, also nicht in das Bewußtsein und Verhalten der Bürger eingegangen war, sondern immer in Gefahr schwebte, durch die Politikvergessenheit der konsumorientierten Bevölkerung und die Machenschaften reaktionärer Politiker und Wirtschaftsleute rückgängig gemacht zu werden. Der mit der Protestbewegung aufkommende Vorwurf, daß die Bundesrepublik "faschistoid" sei, also an der Grenze zum tatsächlichen und offenen Faschismus sich bewege, ist nur eine Verschärfung der Restaurationsthese.

Alle diese Vorwürfe verkannten, wie inzwischen deutlich geworden ist, daß mit der Erarbeitung und Verkündigung der Länderverfassungen und des Grundgesetzes der Bundesrepublik ein stabiler und zugleich flexibler demokratischer Rahmen für die Entwicklung einer pluralistischen Zivilgesellschaft mit einer Vielzahl von unabhängigen Institutionen, Körperschaften, Vereinen und Milieus geschaffen worden war. Und sie verkennen, daß diese Zivilgesellschaft mit ihren vielen Möglichkeiten der Lebensgestaltung, der politischen Mitwirkung oder Nicht-Mitwirkung, des kooperativen wie des nonkonformistischen Verhaltens, der beruflichen Entfaltung und des sozialen Aufstiegs, nicht erst 1968 in Erscheinung trat, sondern schon Mitte der fünfziger Jahre deutlich erkennbar war. Dies wurde 1988 sogar von einem Autor bestätigt, der um 1968 zu den schärfsten Kritikern der Bundesrepublik gehörte: von Hans Magnus Enzensberger. 1967/68 hatte er geschrieben: "Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muß es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur." 1988 stellte er in seinem Essay "Mittelmaß und Wahn" fest: "Die Rede von der Restauration, ein in den fünfziger Jahren beliebter Topos, beruhte, wie wir heute wissen, auf einer Augentäuschung. Zwar taten die alten Nazi-Kader, was sie konnten, um als Bürokraten, Unternehmer und Richter das Gemeinwesen nach ihren Gesinnungen einzurichten, doch erwies sich das Projekt des "Wiederaufbaus" als aussichtslos und die Rückkehr zur Vorkriegszeit als Chimäre. Als in den sechziger Jahren die Gerüste fielen, war eine völlige Neukonstruktion zu besichtigen." Und in ihr, so Enzensberger weiter, siedelte sich eine sozial und kulturell zwar mediatisierte, zugleich aber außerordentlich "buntscheckige" Gesellschaft an: "Das Mittelmaß, das in dieser Republik herrscht, zeichnet sich durch ein Maximum an Variation und Differenzierung aus."

Die 68er-Zeit war indessen von der Vorstellung erfüllt, daß die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik auf eine katastrophale Weise verfehlt sei und auf eingreifende Weise korrigiert werden müsse. Die Art und Weise, wie die "Transformation" der Gesellschaft in Gang zu bringen sei, wurde in der permanenten "Organisationsdebatte", die 1967 einsetzte, unablässig erörtert. Vier Wege, die gleichzeitig zu begehen waren, wurden favorisiert: (1.) Anhänger der Protestbewegung sollten sich auf den "langen Marsch durch die Institutionen" begeben und sich dabei als "Partisanen im Apparat" betätigen, also den Apparat möglichst okkupieren und umfunktionieren. (2.) "Basisgruppen" sollten in Betrieben und Schulen für die "Politisierung des Bewußtseins" sorgen und die Anhängerschaft verbreitern. (3.) Ein repressionsfreies Gegenmilieu sollte aufgebaut werden, um die Alternative zur bestehenden Gesellschaft konkret werden zu lassen und um zu verhindern, daß die Aktivisten von der bürgerlichen Gesellschaft aufgesogen würden. (4.) Durch "direkte Aktionen" mit möglichst hohem Provokations- und Symbolwert sollte – für Anhänger wie Gegner – die Schlagkraft der Protestbewegung demonstriert werden. Zugleich sollte die bürgerliche Gesellschaft verunsichert und die Entstehung einer "revolutionären Situation" gefördert werden. Ob hierbei auch Gewalt "gegen Sachen" und vielleicht sogar "gegen Personen" angewendet werden durfte, wurde vielfach und heftig diskutiert – auch noch zu einer Zeit, als Gewalt bereits Anwendung gefunden hatte und deutlich geworden war, daß die Trennung von "Gewalt gegen Sachen" und "Gewalt gegen Personen" kaum aufrechtzuerhalten war.

Am 21./22. Mai 1967 brannte in Brüssel das Kaufhaus "A l'Innovation" ab. Mehr als 300 Menschen fanden den Tod. Das Gerücht ging um, der Brand sei von Kritikern des Vietnam-Kriegs gelegt worden. Wenige Tage nach der Brüsseler Katastrophe verteilten in Berlin die Angehörigen der "Kommune 1" jenes berühmt-berüchtigte Flugblatt Nr. 8, das mit der Frage begann "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?" und mit dem Ausruf endete "burn, warehouse, burn!". Als daraufhin die Verfasser gerichtlich der Aufforderung zur Brandstiftung bezichtigt wurden, bescheinigten literaturwissenschaftliche Gutachter der Verteidigung den Flugblättern einen literarisch-praxisfernen Charakter und versuchten, durch Hinweise auf spektakuläre Auftritte und Texte von Avantgardisten wie Marinetti und Breton deutlich zu machen, daß die Kommune-Flugblätter futuristischen und surrealistischen Mustern verpflichtet seien. Der Religionswissenschaftler Jacob Taubes schloß deswegen sein Gutachten, das im November 1967 in der Zeitschrift "Merkur" unter der Überschrift "Surrealistische Provokation" publiziert wurde, mit dem Satz: "Die ,Kommune 1' ist ein Objekt für die Religionsgeschichte und Literaturwissenschaft, aber nicht für Staatsanwalt und Gericht."

Richtig daran ist in jedem Fall, daß die Flugblätter und Aktionen der "Kommune 1" und einiger anderer Gruppen Ähnlichkeit mit Texten und Auftritten von Futuristen, Dadaisten und Surrealisten hatten. Parodistische Verspottung der Selbstgefälligkeit der Gesellschaft, satirische Überbietung ihrer Selbstgerechtigkeit, aggressive Wendung gegen ihre Saturiertheit und Indolenz, schockierende Äußerung von Destruktionsgelüsten, radikale Verwerfung des Bestehenden und furioses Rufen nach einem ganz anderen, nicht bürgerlich entfremdeten und gehemmten Leben finden sich hier wie dort. Als bewußte Anlehnung der Protestbewegung an die künstlerische Avantgarde der ersten Jahrhunderthälfte muß dies nicht unbedingt interpretiert werden; ähnliche Verhältnisse oder Problemlagen drängen wohl zu ähnlichen Reaktionen, die sich dann der Audrucksformen, die dank der kulturellen Überlieferung präsent sind, bedienen, ohne immer auch nach dem Woher zu fragen. Im Fall der "Kommune 1", deren Aktionen eine gewisse Vorbildlichkeit für die Protestbewegung hatten, ist aber ein Traditionszusammenhang mit dem Surrealismus erkennbar. Er führt über die "Situationistische Internationale", eine lose Verbindung von europäischen Künstlern, die darauf aus waren, durch die "Konstruktion" von entlarvenden "Situationen" die Beschaffenheit des gesellschaftlichen Lebens mit seinen Defiziten wie mit seinen Möglichkeiten deutlich werden zu lassen, also seine Veränderungsbedürftigkeit und seine Veränderungsmöglichkeit zu zeigen. In einer programmatischen Schrift der Situationisten hieß es, es gehe darum, "bei jeder Gelegenheit konkret dem Spiegelbild der kapitalistischen Lebensweise andere, wünschenswerte Lebensweisen entgegen[zu]setzen". Wichtiger als die Entwicklung positiver Gegenbilder war aber die Destruktion der eingebürgerten Wertvorstellungen durch eine humoristische oder ironische Beleuchtung, durch eine respektlos-parodistische und lächerlich machende Vorführung – oder durch Methoden des "Terrors".

Mithin bezog die Protestbewegung wichtige Inspirationen aus den subversiven künstlerischen Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig empfing sie aber auch Impulse aus jener neu sich einstellenden kulturellen Disposition, die sich ebenfalls aus der Weiterentwicklung avantgardistischer Positionen ergeben hatte – und die eben im Protestjahr 1968 mit dem Etikett "postmodern" versehen wurde. Diese Affinität wirkt überraschend, ist aber bei genauerem Hinsehen unabweisbar: Mitten im "heißen Sommer" des Jahres 1968, am letzten Juni-Wochenende, fand in Freiburg i. Br. ein Symposion statt, auf dem der amerikanische Literaturkritiker Leslie A. Fiedler einen Vortrag mit dem Titel "The Case for Post-Modernism" / "Plädoyer für eine nachmoderne Epoche" hielt. Fiedlers Vortrag erschien im August 1968 unter dem Titel "Das Zeitalter der neuen Literatur" zunächst in der damals größten deutschen Wochenzeitung, "Christ und Welt", dann, im Dezember 1969 unter dem mottoartigen und deswegen berühmt gewordenen Titel "Cross the border, close the gap" im "Playboy"-Magazin. Diese merkwürdige Doppelpublikation wurde dadurch ermöglicht, daß Fiedler sowohl vom Siegeszug der Pornographie als auch vom Beginn einer "permanenten religiösen Revolution" sprach und beides als Ausdruck menschlicher Befindlichkeiten und Sehnsüchte begriff. Er reflektierte damit auf die eingangs schon beschriebene Disparatheit der Motive, die sich in der Aufbruchsbewegung um 1968 mischten, und machte zugleich die manchmal paradox wirkende Verbindung dieser Motive als eine neue, nach- oder postmoderne Haltung kenntlich.

Konvergenzen zwischen Protestbewegung und Postmoderne gibt es vor allem auf folgenden Feldern: in der Kritik an den traditionellen bürgerlichen Normen und in der Zuwendung zu neuen Werten und Vorbildern aus ganz unterschiedlichen Sphären; in der besonderen Aufmerksamkeit für Minderheiten; in der Aufwertung feministischer Positionen; in der Entwicklung einer pluralistischen Denk- und Lebensform; in der Ästhetisierung des Alltags in Form einer neuen Massenkultur, die keinen Unterschied mehr zwischen hoher und trivialer Kunst kennt. Wie das frühere avantgardistische Denken hat auch das postmoderne Denken einen ausgesprochen subversiven Zug; seine Skepsis gilt allerdings nicht nur dem Machbarkeitswahn und den Freiheitsversprechungen des Kapitalismus, sondern auch dem Machbarkeitswahn und den Gleichheitsversprechungen der antikapitalistischen Utopien.

Das impliziert, daß sich der subversive Impetus des postmodernen Denkens auch gegen einige Motive und Tendenzen der Protestbewegung richtete: gegen ihren emphatischen Utopismus und Messianismus, ihre alles begreifenden Geschichtsdeutungen, den autoritären Gestus, mit dem diese oft verkündet wurden, gegen die totalitären Implikationen mancher antikapitalistischer und antiliberaler Konzepte, gegen den Zwang, alles "politisch" sehen und sich permanent "engagieren" zu müssen. Darin ein Zeichen von Politikvergessenheit oder Neokonservativismus zu sehen, wie es immer wieder geschah, ist verfehlt; vielmehr manifestiert sich in Fiedlers Worten das Bestreben, die Freiheit der Kunst und des Denkens gegenüber allen politischen und sozialen Ansprüchen zu wahren.

Die Literatur hat – in der Bundesrepublik nicht weniger als in den anderen westlichen Ländern – die Protestbewegung mit hervorgebracht. Wichtige Themen der deutschen Protestbewegung ("Aufarbeitung" der NS-Zeit, Kritik der – vermeintlichen – Restauration, Kritik am Kapitalismus und an der Kulturindustrie usw.) waren von der Literatur der fünfziger und sechziger Jahre ins Bewußtsein gehoben worden. Dennoch kam es 1967/68 nicht zu einem generellen "Schulterschluß", sondern zum Konflikt. Die letzte Tagung der "Gruppe 47" vom 5. bis 8. Oktober 1967 in der fränkischen "Pension Pulvermühle" wurde durch Mitglieder des Erlanger SDS massiv gestört und führte zu einem Zerwürfnis unter den Mitgliedern der "Gruppe 47". Ein Teil von ihnen distanzierte sich von den rebellischen Studenten; ein anderer Teil aber solidarisierte sich mit ihnen und begann, die 47er-Literatur als harmlose, systemkonforme und systemstabilisierende Opposition zu kritisieren: "Alibi im Überbau", heißt es in Enzensbergers "Gemeinplätzen, die Neueste Literatur betreffend", die im November 1968 im "Kursbuch" 15 erschienen und mit dem mißverständlichen Wort vom "Tod der Literatur" den Höhepunkt der politisch avanciert sich dünkenden Kritik an der 47er-Literatur markierten. Den Kontext dieser Attacken bildeten Feuilleton-Debatten über die gesellschaftliche Rolle der Literatur ("Kunst als Ware" – Debatte vom Herbst 1968) und Versuche, die Literatur zu einem Organon der Revolution zu machen: durch Entwicklung alternativer, nicht vom Kapital kontrollierter Produktions- und Vertriebsweisen und durch die Reaktivierung und Weiterentwicklung agitatorischer Formen wie Reportage, Lied und Song, Agit-Prop-Lyrik und Agit-Prop-Theater, Lehrstück (Neuausgabe von Brechts "Maßnahme" 1972).

Die Politisierung der Literatur wurde indessen dadurch konterkariert, daß jüngere Autoren wie Peter Handke, Hubert Fichte und Rolf Dieter Brinkmann auf der Autonomie der Literatur beharrten. Schon 1966 hatte Handke in seinem Essay "Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms" geschrieben, "daß es in der Literatur nicht darum gehen kann, politisch bedeutungsgeladene Dinge beim Namen zu nennen, sondern vielmehr von ihnen zu abstrahieren". Und auch: "Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist, hier und woanders (höchstens eine anarchistische). Ich weiß nicht, was sein soll. Ich kenne nur konkrete Einzelheiten, die ich anders wünsche, ich kann nichts ganz anderes, Abstraktes, nennen. Im übrigen interessiert es mich als Autor auch nicht so sehr." Im Kern enthält der Essay von 1966 bereits die Büchner-Preis-Rede von 1973, in der Handke zwar mit der 68er-Frage einsetzte "Wie wird man ein politischer Mensch?", dann aber den Wert der "begriffsauflösenden und damit zukunftsmächtigen Kraft des poetischen Denkens" beschwor und schließlich zu dem Befund kam, daß es wichtiger sei, zu fragen: "Wie wird man ein poetischer Mensch?"

Die Vergegenwärtigung dieser Positionen ergibt zweierlei: zum einen, daß die literarische Situation um 1968 sehr divergierende Tendenzen aufwies und durch das oft verwendete Etikett "Politisierung" nur unzulänglich charakterisiert wird, auch wenn der Zug zur politischen Instrumentalisierung der Literatur dominant war; zum andern, daß die sogenannte "Tendenzwende", die sich zwischen 1972 und 1975 abzeichnete und die oft als "Entpolitisierung" der Literatur beschrieben wurde, keine eigentliche Tendenzwende war, und schon gar keine konservative, sondern das Dominantwerden eines Literaturverständnisses, das schon vor 1968 in der Auseinandersetzung mit der "Gruppe 47", mit der politischen Protestbewegung und mit den subkulturellen Bewegungen entwickelt worden war. Dieses Literaturverständnis trieb keinen Keil zwischen die Literatur und die Politik, negierte nicht die politischen Aspekte und die politische Bedeutung der Literatur. Im Gegenteil: Es ging davon aus und bestand darauf, daß Literatur auch dann politisch war und wirkte, wenn sie sich nicht um politische Theorien kümmerte und nicht nach politischen Zusammenhängen und Hintergründen fragte, sondern sich einer nicht politisch determinierten Reflexion ihrer Gegenstände überließ und nach einer nicht politisch vorgeprägten Artikulation suchte. Die Literatur gewann, indem sie sich um 1973 dem von Handke vertretenen Literaturverständnis öffnete, an Bewegungsfreiheit, wurde thematisch und formal vielfältiger und interessanter, insbesondere durch die Thematisierung spezifisch weiblicher Erfahrungen und durch die Zuwendung zum Alltag; sie folgte nicht mehr dem politischen Denken, sondern durchkreuzte und bereicherte es. Alle Versuche, das Dominantwerden des genuin poetischen Denkens in der Literatur unter je einzelnen Etiketten wie "Entpolitisierung", "quietistischer Rückzug", "existentialistische Wende", "Neue Subjektivität", "Romantischer Rückfall" und so weiter zu begreifen, können der Kontinuität und Vielschichtigkeit dieses Vorgangs nicht gerecht werden. Es ging nicht einfach "gegen Politik" oder um den "Rückzug aus der Politik", sondern um "mehr als Politik": um Dichtung.

Autoren:
Prof. Dr. Helmuth Kiesel, Roman Luckscheiter,
Germanistisches Seminar, Hauptstraße 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 543215

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang