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Zwei Staaten, zwei Kirchen

Über 40 Jahre hinweg haben sich in den beiden Kirchenbünden Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) unterschiedliche Verhaltensweisen und Einstellungen entwickelt. Obwohl das aus kirchlichen Kreisen zunächst immer wieder bestritten wird, waren und sind die Differenzen im Bereich der Urteilsbildung einer theologischen Ethik des Politischen besonders deutlich zu beobachten. Literarische Selbstbehauptungsakte und empirische Umfragen aus den letzten sechs Jahren bestätigen den aus den Archivbeständen erhobenen, historisch-genetischen Prozeß der Auseinanderentwicklung ehemals leidlich homogener religiöser Milieus in unterschiedliche Subkulturen. Dabei entstanden auf beiden Seiten Minderheiten, die Neigungen für das jeweils andere subkulturelle Gefüge entwickelten. Gerhard Besier hat die Integration des DDR-Protestantismus in die zweite deutsche Demokratie analysiert, nachzulesen in „Der SED-Staat und die Kirche“, 3 Bde., Frankfurt/M.-Berlin 1993/95.

Mit der Auflösung des BEK und der Rückkehr der östlichen Landeskirchen in die EKD im Jahr 1991 entstanden im Raum der Kirche ganz analoge Probleme wie bei der staatlichen Wiedervereinigung, zumal einflußreiche Gruppierungen innerhalb des BEK sowohl an einem reformsozialistischen DDR-Staat als auch an der Fortexistenz beider Kirchenbünde hatten festhalten wollen. Die östlichen Gliedkirchen beanspruchten einen besonderen Respekt und die Achtung vor ihrer „Ost-Identität“. Sie meinten, besondere Erfahrungen und Lernergebnisse unter der sozialistischen Diktatur in die EKD einbringen zu können. Doch daran bestand auf seiten der Westkirchen mehrheitlich kein ernsthaftes Interesse. Infolgedessen kam es nach 1990 nicht zu einer Verkleinerung der Differenzen, sondern zu einer eher noch eindeutigeren mentalen Scheidung. Erste Konflikte traten im Zusammenhang mit der Übernahme des staatlichen Kirchensteuereinzugs, des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen und, bis zum Kompromiß von 1995, mit besonderer Härte in der Militärseelsorge auf.

Die Denkstrukturen und Standortbeschreibungen des BEK im Kontext seiner sozialpolitischen und ökumenischen Aktivitäten übten auch nach der Reintegration eine kaum veränderte Faszination auf linkspolitische kirchliche Kreise im Westen aus. Zu Zeiten der DDR hatten sich westdeutsche Christen in der inneren Emigration Identitätselemente der „Kirche im Sozialismus“ angeeignet und wollten nunmehr – gemeinsam mit den evangelischen Christen im Osten – den Kampf um soziale Gerechtigkeit und mehr Demokratie in der neuen Bundesrepublik und überall in der Welt führen. In diesem sozialrevolutionären Kirchenmilieu überlebte das Erklärungsstereotyp von vor 1989, daß in der Bundesrepublik die individuellen, in der DDR aber die sozialen Menschenrechte verwirklicht worden seien. Die westliche Ordnung der sozialen Marktwirtschaft müsse weltweit durch eine gerechtere soziale Ordnung abgelöst werden.

Für „die Herausbildung politischer Bündnisse“ zwischen „jüngeren reformwilligen Kräften aus der SED“ und „DDR-Oppositionellen“ nennt beispielsweise der frühere Pfarrer und heutige Leiter der Potsdamer Landeszentrale für Politische Bildung Hans Misselwitz in seiner Streitschrift „Nicht länger mit dem Gesicht nach Westen“ (Bonn 1996) einen „Schnittpunkt“: die „Frage nach der ‚Alternative‘ oder dem sogenannten ‚Dritten Weg‘“.

Die „kulturellen Eliten in der DDR“, geadelt durch erlittene Verfolgung im NS-Staat, definierten sich über den „Antifaschismus“, der westdeutsche Staat über „seinen konstitutiven Antikommunismus“. Dadurch, und durch „seine Politik der Integration der wirtschaftlichen, bürokratischen und intellektuellen Eliten des NS-Staates“, habe er die Negativ-Folie zum ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden gebildet.

Der Potsdamer Fortbildner sieht sich und andere oppositionelle Christen in der Tradition Martin Niemöllers, der „Barmer Theologischen Erklärung“ und Dietrich Bonhoeffers: Und es ist für Misselwitz „ein besonders im Westen nie recht anerkanntes politisches Vermächtnis der Ereignisse von 1989, eine vergebene Chance der deutschen Vereinigung von 1990..., daß wir im Blick auf die historische Verantwortung aller Deutschen eine Geste der Aussöhnung unterlassen haben, die das Martyrium zehntausender Kommunisten unter den Nazis würdigt und als Unterpfand der Mitbürgerschaft in einem demokratischen Deutschland anbietet“.

Die wichtige Erfahrung, daß Kommunisten, die der nationalsozialistischen Diktatur widerstanden, hernach ihre eigene aufbauten, geht merkwürdigerweise in Misselwitz’ Geschichtsrekonstruktion verloren. Nicht den „antitotalitären Konsens“, sondern nur den positiv gewendeten, antifaschistischen Konsens „des ,anderen Deutschland‘ im Widerstand gegen Diktatur und Verbrechen im Nationalsozialismus“ will er gelten lassen. Den Grundsatz, daß die „Konservativen aller Milieus“, über die er sonst nicht viel zu sagen weiß, nur zur rückschrittlichen Konservierung der gesellschaftlichen Verhältnisse fähig sind und nicht zu Reformen, begründet Misselwitz nicht näher. Über liberale Denk- und Politiktraditionen verliert er erst gar kein Wort. So bleibt zur humanen Rettung der Republik nur die „innovative Reserve“ aus PDS, Sozialdemokratie, Grünen und Kirche. Diese neue Volksfront, basierend auf der nach Misselwitz typisch östlichen Kultur „gemeinschaftsbezogener Einstellungen“, soll der „globalen Bedrohung durch ökonomische und ökologische Ungleichgewichte“ die „europäische Vision“ von „Freiheit und Wohlstand, Frieden und Demokratie“ entgegensetzen. Misselwitz‘ Buch ist keine isolierte Veröffentlichung. In den vergangenen zwei Jahren ist eine ganz Reihe solcher DDR-Kultbücher erschienen. Daneben gibt es eine historische Schattenwissenschaft mit hohem Anspruch. Diese Gruppierung, bestehend aus Theologen und ehemaligen SED-Historikern und -Funktionären, publiziert in eigens gegründeten Verlagen (GNN, edition ost) ihre religiös-historische Version der Vorgänge in den 80er Jahren und sieht in der kirchlichen wie staatlichen Wiedervereinigung eine „kapitalistische“ Kolonialisierung des sozialistischen Ostens. Mit anderen ehemaligen NVA-Offizieren, SED-Funktionären, Staatsfunktionären für Kirchenfragen und marxistischen Historikern fielen die Autoren der Evaluierung zum Opfer und bemühen sich nun um den Fortbestand einer sozialistischen Schattenkultur. Ihre Literatur ist von Bedeutung für die Mentalitätskonservierung im östlichen Deutschland.

Daß solche Veröffentlichungen nicht als die Hirngespinste einzelner abgetan werden können, sondern Ausdruck empirisch beschreibbarer Subkulturen sind, belegen verschiedene Umfragen aus den letzten Jahren. Deren zum Teil aufschlußreiche Details können hier nicht aufgefächert, sondern nur als Tendenzen zusammengefaßt werden.

Was die Deutschen Ost und West auch nach dem Fall der Mauer noch trennte, sind 40 Jahre unterschiedlicher Lebenskultur. Einer Umfrage des Bielefelder Emnid-Instituts vom Frühjahr 1995 zufolge stimmten 67 Prozent der befragten Ostdeutschen dem Satz zu: „Die Mauer ist weg, aber die Mauer in den Köpfen wächst.“ Die Lebensverhältnisse in der alten DDR erscheinen vielen ihren Bürgern im nachhinein gar nicht mehr so übel. Aber nur 15 Prozent wünschten sie sich zurück; immerhin 83 Prozent wollten die DDR nicht wiederhaben. Sehr viel mehr als 15 Prozent hängen freilich einer „Partialnostalgie“ an, die sich auf bestimmte Lebensbedingungen bezieht. Diese Teil-Verklärung der Vergangenheit nahm zwischen 1990 und 1995 auf einigen Sektoren signifikant zu. Viele Segmente dieser „Teilnostalgie“ lassen sich auf einen Nenner bringen: Sicherheit. Nachdem sie die Verhältnisse in der Bundesrepublik erlebt und von den Systemleistungen enttäuscht wurden, schätzen viele ehemalige DDR-Bürger den hohen Grad sozialer Absicherung in der Diktatur. Ganz ähnlich wie in Umfragen Anfang der 50er Jahre im Blick auf das NS-System, hielten 1995 noch 79 Prozent die Idee des Sozialismus für gut; die Politiker seien nur unfähig gewesen, diese Idee zu verwirklichen. Nur 19 Prozent waren der Auffassung, der Sozialismus sei „ein zum Scheitern verurteiltes System“ gewesen. Beinahe alle Befragten, nämlich 97 Prozent, stimmten dem Satz zu: „Über das Leben in der DDR kann nur mitreden, wer selbst dort gelebt hat.“ Drei Viertel meinten im Rückblick, sie könnten „stolz“ auf ihr Leben in der DDR sein, weil sie das Beste daraus gemacht und sich mit dem Regime nur soweit eingelassen hätten, wie es nicht zu vermeiden war. Von 1990 an läßt sich in einschlägigen Umfragen eine wachsende „Sehnsucht“ der Ostdeutschen nach einem „Dritten Weg“ zwischen Bundesrepublik und DDR verfolgen.

Im Blick auf die beiden großen Konfessionen gab und gibt es in ihrer Beziehung zum jeweiligen Staat signifikante Unterschiede. „Der katholische Teil der westdeutschen Bevölkerung identifizierte sich früher und bis heute tendenziell stärker“ mit der Bundesrepublik, „während umgekehrt Katholiken in der ehemaligen DDR besonders ausgeprägt Distanz zu dem sozialistischen Staat wahrten“ (R. Köcher). Hier zeigt sich eine historische Parallele zum Wahlverhalten des katholischen Bevölkerungsanteils in der Endphase der Weimarer Republik, woraus sich die Ansicht folgern läßt, daß die Staatsloyalität der katholischen Bevölkerung abnimmt, sobald die ideologischen Grundlagen und das praktische Handeln des politischen Systems mit den christlichen Normen im Konflikt liegen.

Es kann vor diesem Hintergrund nicht verwundern, daß auch im Blick auf Glauben und Religion zum Teil signifikante Unterschiede zwischen den beiden differenten Teilkulturen in Deutschland bestehen. Mehr noch: „Weniges trennt Ost- und Westdeutsche so scharf wie die kirchlichen und religiösen Bindungen“ (R. Köcher). Von den 28,2 Millionen (= 34,8 Prozent) Evangelischen leben etwa 4,5 Millionen in den neuen Bundesländern. Für West- wie Ostdeutsche gilt, daß sich Protestanten leichter von ihrer Kirche trennen als Katholiken. In den alten Bundesländern kommen mittlerweile 56 Prozent der heute Konfessionslosen aus der evangelischen Kirche, nur 29 Prozent aus der katholischen; 16 Prozent der Konfessionslosen waren noch nie Mitglied einer Kirche, in Ostdeutschland gilt das für 60 Prozent.

Einer Umfrage des Allensbacher Instituts vom September 1995 zufolge liegt die seit 1990 unverändert hohe Austrittsrate im Osten Deutschlands noch einmal höher als im Westen. Jahr für Jahr verliert die evangelische Kirche 0,7 Prozent ihrer Mitglieder. Und der Anteil derer, für die Gott im eigenen Leben eine untergeordnete Rolle spielt, liegt mit 63 Prozent im östlichen Deutschland fast doppelt so hoch wie im Westen. Diese Haltung spiegelt sich auch in der nach wie vor hohen Teilnahme Ostdeutscher an der atheistischen Jugendweihe.

Auf Mangel an qualifiziertem kirchlichem Personal können die Unterschiede zwischen Ost und West nicht zurückgeführt werden. Der Mitarbeiterbestand ostdeutscher Kirchen ist etwa doppelt so hoch wie im Westen. Die Gemeinden sind kleiner, es gibt im Verhältnis mehr Pfarrer.

Dem vertraulichen Protokoll der Sitzung des Finanzbeirats der EKD vom 4. April 1996 zufolge liegen Modellrechnungen der mit 3,4 Millionen Mitgliedern größten evangelischen Landeskirche, der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, für den Zeitraum von 1991 bis 2040 vor, wonach „von einem Rückgang der kirchensteuerzahlenden Kirchenmitglieder für diesen Zeitraum von 50 Prozent“ ausgegangen wird. Auch die Mitgliedschaftsentwicklung der anderen Landeskirchen geht nach Schätzungen in den nächsten dreißig Jahren um 25-30 Prozent zurück.

In beiden Teilen Deutschlands sinkt mit dem Schwund an Mitgliedern nicht nur das Kirchensteueraufkommen – regional unterschiedlich zwischen vier Prozent und 15 Prozent pro Jahr. Auch das gesellschaftliche Ansehen der Kirchen nimmt laufend ab. Bei einer Umfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften (infas) vom Oktober 1995 kamen unter 19 Institutionen die Kirchen nur noch auf Platz 14.

Es steht zu erwarten, daß die Generation der heute 14- bis 27jährigen Deutschen ein eher noch distanzierteres Verhältnis zur Kirche einnehmen wird. Aber nicht nur das: Die kulturelle Kluft zwischen Ost und West im Blick auf Religiosität erscheint bei dieser Altersgruppe noch tiefer, wie eine im Sommer 1995 veröffentlichte Studie des Bundesjugendministeriums belegt. 79 Prozent der im östlichen Deutschland lebenden Jugendlichen gehören keiner Konfession an, in der übrigen Bevölkerung sind es nur 68 Prozent. Im Westen glauben nach eigenen Aussagen 44 Prozent aller Jugendlichen an die Existenz Gottes, im Osten sind es nur 14 Prozent. Dort bezweifeln zwei Drittel der Befragten, daß es Gott oder eine höhere andere Macht gibt, im Westen sind es nur 17 Prozent. Deutliche Unterschiede bestehen auch beim sonntäglichen Kirchgang. In Westdeutschland gehen zwölf Prozent der Befragten häufig zum Gottesdienst und zehn Prozent nie. In den neuen Bundesländern gehen vier Prozent oft und 79 Prozent nie. In den alten Bundesländern haben 48 Prozent der Befragten an der Kommunion und 42 Prozent an der Konfirmation teilgenommen. In den neuen Ländern waren fünf Prozent bei der Kommunion, 14 Prozent wurden konfirmiert.

Die mindestens quantitativen Differenzen im religiösen Verhalten der Bevölkerung in West und Ost werden meist der religionsfeindlichen SED-Politik und ihrer Langzeitwirkung über 40 Jahre hinweg zugeschrieben, und es wird darauf verwiesen, daß die unmittelbar vorausgegangenen zwölf Jahre NS-Diktatur noch hinzugezählt werden müßten. Das ist unmittelbar plausibel. Weitere Faktoren werden freilich hinzutreten.

Einige Erkenntnisse über die Gründe zum Kirchenaustritt liefert eine Umfrage, die die westdeutsche Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) Anfang 1996 unter ihren Mitgliedern durch das Institut für Markt- und Sozialforschung (Ifak) hat durchführen lassen. Danach erhöht die Neigung zum gesellschaftlichen Engagement die Tendenz zum Kirchenaustritt erheblich. Grundsätzlich scheint zu gelten: Je aktiver die Mitglieder mit ihrer eigenen Lebensbewältigung beschäftigt sind, desto größer ist die Tendenz zum Kirchenaustritt. Beide Ergebnisse überraschen, weil Protestanten spontan die umgekehrte Hypothese für richtig halten könnten: Wer politisch engagiert ist und Probleme mit der eigenen Lebensbewältigung hat, rückt der Kirche näher. Aber was die renommierte Unternehmensberaterfirma McKinsey 1996 in einer Analyse der Angebotspalette zweier Gemeinden und einer Bildungseinrichtung des evangelischen Dekanats München herausgefunden hat, liefert einen Erklärungsansatz: Danach erwarten nämlich die Kirchenmitglieder nicht so sehr freizeitorientierte Veranstaltungen und politische oder soziale Aktionen von ihrer Kirche, sondern die Verrichtung traditioneller Kernaufgaben mit ausdrücklichem Glaubensbezug wie Seelsorge und Predigt. Sie empfahl eine Konzentration auf die Begleitung der Menschen an Schwellenpunkten des Lebens wie Geburt, Hochzeit oder Tod.

Zwischen der Institution Kirche und ihren Mitgliedern bestehen massive Kommunikationsprobleme. Nur noch eine kleine Minderheit der Mitglieder wird durch die Institution regelmäßig erreicht, nur noch ein kleiner Teil der Kinder und Jugendlichen wird im Elternhaus religiös sozialisiert, religiöse Überzeugungen spielen in der Alltagskommunikation kaum eine Rolle, und die Medien berichten fast nur über die Institution, nicht über das individuelle Glaubensleben.

Daß beide großen Kirchen öffentlich Klage über die Medien führen, erklärt sich zu einem guten Teil aus dem volkskirchlich-privilegierten Bewußtsein. Symptomatisch dafür ist folgendes: Obwohl Repräsentanten der beiden Großkirchen in den Aufsichtsgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sitzen, gelingt es diesen offenbar nicht, dort ihr Verständnis von Achtung und Ehrfurcht gegenüber den Religionen durchzusetzen. Karikaturen und Satiresendungen, die nach Auffassung der kirchlichen Medienreferenten den christlichen Glauben und seine Vertreter lächerlich machen und „menschenverachtende Züge“ tragen, geben dem Fernsehpublikum anscheinend keinen Grund zu Beschwerden. Gelegentliche kirchliche Interventionen in den Aufsichtsgremien der Rundfunkanstalten und beim Deutschen Presse- oder Werberat können zur Folge haben, daß Journalisten eine Rüge erhalten. Damit werden freilich traditionelle staatskirchliche Wege mit Quasi-Zwangscharakter beschritten, ohne daß sich dadurch der öffentliche Geschmack, das Verhalten gegenüber religiösen Haltungen veränderte.

Zu seiner Herrschaftssicherung bediente sich das SED-Regime in besonderer Weise psychologischer Erkenntnisse, instrumentalisierte lerntheoretische Gesetzmäßigkeiten und psychotherapeutische Interventionsverfahren, um sich Menschen gefügig zu machen. Über Jahrzehnte in einem Shaping-Prozeß ausgebildete Einstellungen und Verhaltensweisen, die mannigfaltige positive Verstärkungen erfuhren, sind nicht innerhalb weniger Jahre abzubauen, zumal die Erfahrungen in und mit der Bundesrepublik für viele ehemalige DDR-Bürger mit negativen Verstärkungen verbunden waren und sind. Dieser Sachverhalt bedeutet lerntheoretisch, daß die über lange Zeiträume hinweg aufgebauten spezifischen Verhaltensweisen durch unregelmäßige Verstärkung präsent bleiben. In den Nischen des Milieus werden bestimmte Haltungen aus der alten Zeit weiter positiv gewürdigt. Diese Konstellation schlägt in beinahe allen Bereichen gesellschaftspolitischer Einschätzungen und Vorlieben durch. Es gab in der DDR eine herrschende Norm, deren Erfüllung das Bewußtsein vermittelte, zur Elite zu gehören. Das multiple Normengefüge der Bundesrepublik setzte die DDR-Bürger unter enormen Anpassungsdruck, läßt Ängste entstehen und fördert Meideverhalten gegenüber dem Neuen.

Ähnlich wie die Gesellschaftssysteme galten auch die beiden Kirchenbünde als strukturell grundsätzlich verschieden. Unter Rückgriff auf die Erklärungsfigur des „unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontextes“, in den sie eingebettet waren, sahen Ostdeutsche, Westdeutsche, aber auch Kirchen aus der Ökumene im BEK die wahre christusmäßige Gestalt der Kirche als einer machtlosen, armen, sich selbst entäußert habenden Institution. Die reiche EKD dagegen schien mit jenen im Bunde, die im „Kapitalismus“ das Sagen hatten: dem Militär, der Großindustrie und den Banken. Das sah und sieht eine Minderheit westdeutscher, europäischer und amerikanischer Christen ebenso. Darum fühlen sich viele Ostdeutsche in ihrer Überzeugung bestärkt, nur das westliche System und die Uneinsichtigkeit westlicher Kirchenleitungen und Synoden verhindere eine Rezeption der „Lernerfahrung der ,Kirche in der sozialistischen Gesellschaft‘...“.

Die innerkirchliche Zerrissenheit wird zur Zeit zugedeckt, weil die Kirchen im Westen aufgrund der fortschreitenden Säkularisierung mit erheblichen weltanschaulichen und ökonomischen Problemen sowie mit einem wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanzverlust zu kämpfen haben und fürchten, eine offene Austragung des Konfliktes könnte den Zerfall nur beschleunigen.

Autor:
Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier
Kirchengeschichte, Wissenschaftlich-Theologisches Seminar, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 33 94

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