Siegel der Universität Heidelberg
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Gefilmte Genaktivität

Grundlagenforschung und die Suche nach neuen Medikamenten gegen Epilepsie gehen Hand in Hand bei einem außergewöhnlichen Joint Venture zwischen der BASF und der kalifornischen Biotechnologie Firma Lynx Therapeutics, dem Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg und dem Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung. BASF-LYNX im Heidelberger Technologiepark arbeitet mit einer neuen Methodik, die viele Bereiche der Biologie revolutionieren wird. Erstmals ist es möglich, wie in einem Film zu erfassen, welche Gene in den Zellen wann aktiv sind.

Die molekularen und zellulären Mechanismen, die der Veränderbarkeit des zentralen Nervensystems zugrunde liegen, der sogenannten Plastizität (aus dem Griechischen: plastikos, zum Formen geeignet), gehören zu den faszinierendsten Problemen der modernen Biologie. Sie bestimmen einerseits entwicklungsabhängige Verknüpfungen von Nervenzellen zu spezialisierten neuronalen Netzen, wie dem somato-sensorischen und dem visuellen System, andererseits bestimmen sie Lern- und Gedächtnisvorgänge im erwachsenen Gehirn. Sie ermöglichen sogar die Korrektur von motorischen, kognitiven oder sensorischen Fehlfunktionen, die sich unweigerlich bei Schädigungen von bestimmten Hirnarealen, zum Beispiel nach einem Schlaganfall, einstellen. Diese plastischen Veränderungen finden vornehmlich an Synapsen statt, den Schaltstellen der Kommunikation zwischen Nervenzellen. Nur Nervenzellen bilden diese besonderen Strukturen aus, oft bis zu 50 000 pro Zelle. Jede Synapse hat eine präsynaptische Komponente, vergleichbar einem Sender, und eine postsynaptische Struktur, die man sich als Empfangsstation vorstellen kann. Es wird angenommen, daß Regulationsvorgänge, welche den molekularen Aufbau von Synapsen während der Entwicklung des Nervensystems regeln, auch wesentlich für plastische Veränderungen im erwachsenen Gehirn verantwortlich sind. Viele der Moleküle, die am Aufbau, an der „Architektur“, von Synapsen beteiligt sind, wurden in den letzten Jahren entdeckt, und die Gene, die den Bauplan für diese Moleküle enthalten, sind in der Abfolge, „Sequenz“, ihrer Bausteine bekannt.

Die Postsynapse als Empfangsstation für Signale, die andere Nervenzellen aussenden, enthält Antennen, „Rezeptoren“, für Botenstoffe, die „Transmitter“, die von der sendenden Nervenzelle auf einen Reiz hin ausgeschüttet werden. Wir unterscheiden Transmitter, die erregende Wirkung haben, von solchen, die hemmend wirken. Der für die Erregungsausbreitung im Gehirn bei weitem wichtigste Botenstoff ist die Aminosäure L-Glutamat. Glutamat, von der Präsynapse der Nervenzelle in einem kurzen Impuls freigesetzt, aktiviert in der Postsynapse spezifische Rezeptormoleküle, die eine für Natrium- und Kalium- und oft auch für Kalziumionen durchlässige Membranpore, einen „Ionenkanal“, besitzen. Die Aktivierung des Rezeptors führt zur Öffnung des Ionenkanals für einige Tausendstel einer Sekunde und damit zum Einstrom von positiv geladenen Ionen in das postsynaptische Neuron. Der Ioneneinstrom durch viele (10 - 1000) Kanäle erniedrigt die elektrische Spannung der empfangenden Nervenzelle und erhöht so die Wahrscheinlichkeit, daß diese selbst eine Botschaft an andere Neuronen sendet.

Obwohl die Funktion der Glutamatrezeptorkanäle nur für die schnelle synaptische Signalübertragung bekannt ist, sitzen diese Rezeptoren auch an der Zelloberfläche der meisten Nervenzellen im Gehirn, finden sich also nicht nur in Synapsen. Das hat zur Folge, daß unkontrollierter Anstieg von Glutamat zu einer ernsten Schädigung, ja zum Ableben von Nervenzellen führen kann. Eine plausible, mechanistische Erklärung für die schädliche Wirkung von zuviel Glutamat ist die, daß ein für die Nervenzelle nicht verkraftbarer Einstrom von Kalziumionen erfolgt, der letztlich zum Tod der Zelle führt. Die hier vereinfacht dargestellte krankhafte Situation gilt für plötzlich eintretende Schädigungen des Gehirns, zum Beispiel bei Schlaganfall, nach Schädelverletzungen und während Krampfanfällen (Epilepsie). Sie wird auch als eine Ursache für chronische Erkrankungen, wie die Parkinsonsche Schüttellähmung oder die Alzheimersche Krankheit, vermutet. Interessanterweise bewirkt ein Zuviel an Kalziumionen den Tod der Nervenzelle, während der zeitlich und in seiner Menge wohldosierte Kalziumeinstrom durch synaptisch lokalisierte Rezeptorkanäle für die normale Funktion von Synapsen unerläßlich ist. Man könnte auch sagen, daß die gut ausgewogenen molekularen Mechanismen, die Neuronen zur Funktionssteuerung ihrer Synapsen zur Verfügung stehen und die den vielfältigen Leistungen unseres Gehirns zugrunde liegen, Nervenzellen zerstören können, wenn sie unkontrolliert angeworfen werden. Erkrankungen des Gehirns, wie zum Beispiel Epilepsie, können somit auch als besonders ausgeprägte Formen der Plastizität angesehen werden.

Nach dieser kurzen Beschreibung von Synapsen und ihrer Plastizität, von Glutamat und seinen Rezeptoren, möchten wir betonen, daß jede Veränderung im Aufbau von Synapsen nur über das An- und Abschalten von im Kern der Nervenzelle gespeicherten Genen bewirkt werden kann. Denn alle Baupläne für die Struktur einer Synapse sowie für ihre Funktionsträger wie Enzyme oder Ionenkanäle sind auf den Genen festgeschrieben und müssen bei Bedarf von dort abgerufen werden. Es gibt also Signalwege von der Synapse – oder anderen Zellbereichen – in den Zellkern, mittels derer die Aktivität von Genen gesteuert werden kann. Aktivitätssteuerung von Genen heißt nichts anderes als die Kontrolle über die Zahl der Boten („messenger“)-Ribonukleinsäure-Moleküle (mRNA), die von Genen abgelesen werden und auch als „Transkripte“ bezeichnet werden. Sie tragen den Bauplan der Proteine zur zellulären Maschinerie für die Proteinsynthese. Bis vor kurzem gab es keinen Weg, der es erlaubte, die Aktivität aller Gene in Zellen gleichzeitig zu bestimmen. Dies gilt insbesondere für Gene, die für den Umbau von Synapsen als Grundlage von plastischen Veränderungen benötigt werden, oder die mit der Zunahme der Schädigungen einhergehen, die für Epilepsie typisch sind.

„Fingerabdruck“ für ein Gen

In den letzten Jahren ist eine Methode entwickelt worden, die es ermöglicht, alle Änderungen der Genexpression in Zellen oder Geweben zu erfassen, und zwar nicht nur in Form einer Momentaufnahme, sondern auch als Zeitverlauf wie in einem Film. Sie wurde von dem bekannten Molekularbiologen Sydney Brenner erdacht und wird zur Zeit in der kalifornischen Biotech-Firma Lynx Therapeutics, geleitet von Sam Eletr, der zuvor bei Applied Biosystems schon die Entwicklung der DNA-Sequenzierautomaten geleitet hatte, realisiert. Die Methode, mit MPSS (kurz für Massive Parallele Signatur Sequenzierung) bezeichnet, ist eine elegante Mixtur aus kombinatorischer Nukleotidchemie, Molekularbiologie, Festphasensequenzierung und isothermaler Oligonukleotidhybridisierung. Ausgehend von einer komplexen Mischung von Transkripten, wie sie für Zellen oder Gewebe typisch ist, in der die einzelnen mRNA-Spezies entsprechend der jeweiligen Aktivität ihrer Gene vertreten sind, werden mit Hilfe von Enzymen etwa eine Million mRNA-Moleküle in komplementäre DNA-Kopien umgewandelt. Jede dieser DNA-Kopien bekommt an ihren Anfang eine von 16 Millionen verschiedenen, etwa 30 Basen langen Sequenzen angeheftet. Sie erhält damit eine Adresse, die spezifisch für diese DNA-Kopie ist, und in der sich die DNA-Kopien aller anderen umgewandelten Transkripte unterscheiden. Nach Vermehrung (etwa 100 millionenfach) dieser DNA-Kopien, inklusive ihrer jeweiligen Adressen, werden die DNA-Moleküle von winzigen, fünftausendstel eines Millimeters messenden Kugeln eingefangen, und zwar so, daß alle DNA-Moleküle mit derselben Adresse an ein- und dasselbe Kügelchen binden. Dies wird durch Oligonukleotidsequenzen ermöglicht, die komplementär zum Adressencode direkt an den Kügelchen synthetisiert wurden. Hunderttausende dieser Kügelchen, mit jeweils etwa einer Million DNA-Molekülen beladen, werden nun in eine spezielle Reaktionskammer von einem Quadratzentimeter Fläche eingebracht, wo sie stabil plaziert durch eine Minipumpe mit Substanzen und Enzymen umspült werden können. Hier findet die Signatursequenzierung der DNA statt, ein zyklischer Ablauf von enzymatischen und molekularbiologischen Schritten. Die Abfolge der Bausteine der DNA, welche die jeweiligen Signatursequenzen darstellt, wird unter Zuhilfenahme von Leuchtfarbstoffen ermittelt. Eine Spezialkamera verfolgt durch ein Mikroskop bei jedem Zyklus die Helligkeitsänderungen an allen Kügelchen. So läßt sich mit Hilfe eines Computerprogramms eine für jedes Kügelchen individuelle Signatursequenz bestimmen.

Der Begriff Signatursequenz beinhaltet, daß in den etwa hunderttausend Genen, die Menschen und andere Säuger besitzen, jede beliebige Abfolge von 20 DNA-Bausteinen höchstens einmal vorkommen sollte, und daß deswegen die Abfolge von 20 Bausteinen als unverwechselbare Signatur, als „Fingerabdruck“, für ein Gen und sein Transkript dient. Da mit MPSS alle Transkripte eines aktiven Gens von derselben Position ab sequenziert werden, aber individuelle DNA-Kopien von Transkripten desselben Gens durch ihren Adressencode von verschiedenen Kügelchen eingefangen werden, läßt sich am Ergebnis der MPSS-Methode direkt der unterschiedliche Anteil der Transkripte verschiedener Gene in der Gesamtheit aller mRNA-Moleküle ablesen. Ein Vergleich der Resultate, gewonnen aus gesundem und krankhaft verändertem Gewebe, offenbart die für die jeweilige Krankheit typischen Änderungsmuster in der Genexpression. Ein Vergleich der Expressionsmuster zu verschiedenen Zeitpunkten während des Krankheitsverlaufs wird wichtige molekulare Informationen über frühe und späte Änderungsmuster liefern. Es sei nochmals betont, daß eine Genexpressionsanalyse in dieser Tiefe und Schärfe mit vorhandenen Methoden bisher nicht möglich ist und daß MPSS die Möglichkeit bietet, viele Gebiete der Biologie (Entwicklungsbiologie, molekulare Medizin, dynamische Genomanalyse) zu revolutionieren. Dies gilt natürlich auch für die Erforschung derjenigen molekularen und zellulären Mechanismen, welche die Plastizität des Gehirns ermöglichen.

Da, wie oben ausgeführt, diese Mechanismen auch bei Erkrankungen des Gehirns zum Tragen kommen, ja ursächlich beteiligt sein können, sollten sich durch MPSS gewonnene Erkenntnisse zur Entwicklung von neuen Methoden der Verhinderung von Erkrankungen oder deren Heilung eignen. Eine tiefgreifende Analyse der zeitlichen Veränderungen in Genaktivitäten, die mit dem Verlauf von Krankheiten einhergehen, kann Schlüsselgene identifizieren, deren Produkte für eine Verschlimmerung des Krankheitsprozesses verantwortlich sind und gegen die eine Behandlung mit Medikamenten möglich wird. Unser wissenschaftliches Interesse an der neuen Technologie sowie die neuartigen therapeutischen Aspekte veranlaßten uns, Kontakt mit Lynx Therapeutics aufzunehmen und zusammen mit der BASF die Möglichkeiten für ein gemeinsames „Joint Venture“ zwischen BASF und Lynx hier in Heidelberg auszuloten. Ein wichtiger Faktor für den, nun öffentlich bekannten, Erfolg dieser Gespräche war das gute persönliche Verhältnis, das sich sehr bald zwischen allen Beteiligten anbahnte. Inzwischen hat BASF-LYNX seinen Sitz im Heidelberger Technologiepark, und die ersten Mitarbeiter sind bereits in Kalifornien bei Lynx Therapeutics, um sich in die MPSS-Methodik einzuarbeiten. Der hiesige Standort ermöglicht es zugleich, die angewandten Projekte der Firma, vor allem die Suche nach neuen Medikamenten zur Verhinderung von Epilepsie, mit unserer Grundlagenforschung an synaptischer Plastizität im Gehirn unterstützend zu begleiten.

Autoren:
Prof. Dr. Peter H. Seeburg, Prof. Dr. Bert Sakmann
Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung, Jahnstr. 29, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 486-0

Dr. Alfred Bach
BASF-lynx Bioscience AG, Im Neuenheimer Feld 519, 69120 Heidelberg

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