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Das Porträt

Nabelschau der ganz besonderen Art: der Germanist Professor Dr. Jörg Riecke befasst sich nicht nur mit mittelalterlichen Fachsprachen

In einem gewissen Sinne ist Jörg Riecke, der zum Wintersemester eine Professur am Germanistischen Seminar angetreten hat, ein Grenzüberschreiter. Denn beim allerersten Blick auf seine Forschungsgebiete fällt es zunächst schwer, ihn ausschließlich und eindeutig einer der drei Abteilungen (Neuere Literaturwissenschaft, Linguistik, Mediävistik) seines Heidelberger Instituts zuzuordnen. Von seiner Stelle her ist Jörg Riecke Linguist, sein Hauptforschungsgebiet – die Entwicklung des Althochdeutschen – ist aber auch ein Thema für zünftige Mediävisten. Und zugleich beschäftigt sich der Sprachwissenschaftler mit Literatur, an die er freilich mit ganz speziellen Fragestellungen herangeht.


Seine Doktorarbeit verfasste der 1960 in Bielefeld geborene Riecke über die Bildung einer bestimmten Art von Verben im Althochdeutschen, die Spuren semantischer Ausdrucksmöglichkeiten zeigen, wie sie in heutiger Zeit nur noch in den slavischen Sprachen wie etwa dem Russischen zu finden sind. Sein Interesse an der Medizin – "hätte ich nicht Germanistik studiert, wäre ich gerne Mediziner geworden" (Riecke) – und daran, wie sich Dinge aus ihren Anfängen heraus entwickeln, führten dann zum Thema der Habilitationsschrift. Darin untersuchte der Sprachwissenschaftler die Frühgeschichte der mittelalterlichen medizinischen Fachsprache. Jörg Riecke hat die ältesten Bezeichnungen im Deutschen zu Körper, Krankheit und Heilung zusammengetragen und daraus die Entstehung einer Fachsprache herleiten können.

"Auffällig ist, wie oft sich die Bezeichnungen verändert haben", erklärt Riecke. So konnte er über 1000 Fachbegriffe zusammentragen. Besonders häufig taucht dabei der Nabel auf, der, wie so viele Dinge im Mittelalter, nicht nur mit einer Bedeutung belegt war, nämlich der des entsprechenden Körperteils, sondern der auch als Mittelpunkt der Welt verstanden wurde. Gerade was die Entwicklungen in der Frühzeit der Medizin betrifft, will Riecke in nächster Zeit eine Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Medizin in Heidelberg anstreben. "Mit Professor Wolfgang U. Eckart, dem Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin, möchte ich die Heidelberger medizinischen Handschriften der frühen Neuzeit, die sich in der Universitätsbibliothek befinden, erschließen, damit dieser wichtige Schatz besser zugänglich wird", erklärt der neue Germanistik-Professor.

Ebenfalls interdisziplinär kann sich Riecke die Erforschung von Holocaust-Literatur vorstellen – ein Projekt, mit dem er sich bereits an der Universität Gießen, seiner Station vor Heidelberg, schon intensiv auseinandergesetzt hat. Als Sprachwissenschaftler interessiert er sich besonders dafür, wie man einerseits in extremen Situationen mit Sprache umgeht und wie man andererseits diese Situation sprachlich darstellt. Es geht ihm auch darum, vor der Zeit des Nationalsozialismus bekannte Wissenschaftler, Schriftsteller oder Journalisten, die im heutigen kulturellen Gedächtnis vollständig fehlen, wieder den ihnen gebührenden Bekanntheitsgrad zukommen zu lassen. Und ebenfalls im Kontext der Aufarbeitung von Sprachgeschichte steht schließlich das dritte größere Forschungsvorhaben, das Riecke in Angriff genommen hat und das aufgrund der historischen Ereignisse der letzten sechzig Jahre bisher kaum beachtet wurde: die Zeitungen deutscher Minderheiten im osteuropäischen Raum seit dem 17. Jahrhundert und die Entwicklung des sprachlichen Materials dort im Vergleich zu Zeitungen in Deutschland.

In vielen Bereichen der Germanistik zu Hause: der Sprachwissenschaftler Jörg Riecke.     
In vielen Bereichen der Germanistik zu Hause: der Sprachwissenschaftler Jörg Riecke.
Foto: Krug
Das Bild der Vielseitigkeit wird schließlich abgerundet durch den Umstand, dass Riecke zudem Gründungsmitglied der Kempowski-Gesellschaft ist. Zum Ziel hat sie sich gesetzt, das lange Zeit unterschätzte Werk des Anfang Oktober verstorbenen Schriftstellers zu verbreiten. Kempowski hat eines der größten Archive mit Alltagstexten des 19. und 20. Jahrhunderts aufgebaut – durch Tagungen, Publikationen und Ausstellungen soll die Beschäftigung damit und den Texten des Schriftstellers auch nach dessen Tode weitergehen; die Gesellschaft vergibt in diesem Zusammenhang übrigens auch Promotionsstipendien an junge Germanisten.

Die Sprachwissenschaft in Heidelberg kann auf eine lange Geschichte zurückblicken, die nun ein neues Profil bekommen wird durch die Berufung von gleich zwei neuen Professoren in der linguistischen Abteilung innerhalb eines Jahres; neben Jörg Riecke trat im vergangenen Jahr auch Professor Ekkehard Felder seine Stelle an. Alte Traditionen jedoch sollen weiterhin gepflegt werden, so etwa die Mitarbeit am Wörterbuch des Frühneuhochdeutschen, das von Jörg Rieckes Vorgänger Professor Oskar Reichmann herausgegeben wird. Die Arbeitsbedingungen am Germanistischen Seminar bezeichnet Riecke als vergleichsweise hervorragend, weshalb es für ihn keinen reizvolleren Ruf als den nach Heidelberg gegeben habe. Auch für die Studierenden hat Riecke viel Lob übrig – das Niveau sei außerordentlich hoch, weshalb ihm die Lehre großen Spaß bereite. Und nicht nur mit Blick auf die Studierenden meint er noch: "Es scheint sich allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Exzellenz nicht ohne die Geisteswissenschaften funktioniert, weshalb man optimistisch für die zukünftigen Entwicklungen sein darf."
Katinka Krug

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