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Aus der Stiftung Universität Heidelberg

Das Archäologische Institut der Universität Heidelberg veranstaltete zum 150jährigen Bestehen der Heidelberger Archäologischen Sammlungen ein Internationales Symposion zum Thema "Gegenwelten zu den Kulturen Griechenlands und Roms in der Antike". Forscher aus drei Generationen auf den Gebieten der Archäologie, der Philologie, der Religion und der Allgemeinen Geschichte Griechenlands und Roms sowie der angrenzenden Hochkulturen des Alten Orients und Ägyptens kamen im April 1999 im Internationalen Wissenschaftsforum Heidelberg zusammen. Die Eröffnungsveranstaltung in der Aula der Alten Universität sowie öffentliche Vorträge in der Heuscheuer an zwei Vormittagen verschafften der Veranstaltung eine öffentliche Wirkung. Presse und Rundfunk berichteten überregional über das Symposion. Die Finanzierung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stiftung Universität Heidelberg gewährt.
Der Begriff der "Gegenwelten" soll das Phänomen bezeichnen, daß Gesellschaften ihre Identität einerseits durch Symbole, Mythen und Ideologien ihrer eigenen "Welt" andererseits durch Abgrenzungen gegen andere, fremde oder feindliche "Welten" begründen und definieren. Dabei kommen oft wenig reale Erfahrungen über die Fremden zur Geltung, um so mehr aber ideelle Konzepte und Strategien, die die "Fremde" vor allem als Opposition zu den eigenen Lebensordnungen, Wertvorstellungen und Leitbildern konstruieren. Darum stehen in alten Kulturen wirkliche und mythische "Gegenwelten" in enger Verbindung zueinander: Dämonen und Monster im Vorderen Orient wie im frühen Griechenland, mythische Giganten und Amazonen, "barbarische" Perser, Kelten und Germanen erweisen sich gleichermaßen als Antipoden und bedrohliche Gegner der eigenen Welt.
Der Eröffnungsvortrag von Hans-Joachim Gehrke über "Gegenbild und Selbstbild. Das europäische Iran-Bild zwischen Griechen und Mullahs" zog die aktuellen Linien des Themas bis in die Gegenwart. Für frühere Epochen wurden von anderen Teilnehmern Feindbilder in verschiedenen Kulturen dargestellt: im Alten Orient "Der Sieg über die Mächte des Bösen: Götterkampf und Kriegsführung"; in Griechenland "Perser, Amazonen und Kentauren: Feindbilder – Traumbilder" und "Die Giganten als Gegenbilder der Polis"; in Rom "The Pax Romana: Bridge or Barrier between Friend and Foe" und "Unordnung als Gegenwelt: Der Kampf der Giganten gegen die Götter"; schließlich, nach der Entdeckung Amerikas: "Barbaren und Indianer: Antike Ethnographie und neuzeitliches Völkerrecht".
Konkrete Erfahrungen der Fremde waren vor allem in Griechenland ungemein häufig: Sie begannen beim Verlassen der eigenen Stadt, das den Eintritt in andere Lebensordnungen bedeutete, und steigerten sich bis zu den komplexen Kontakten der griechischen Koloniestädte in Italien und anderswo, sowohl untereinander als auch zu der einheimischen Bevölkerung. "Rituale des Reisens" erhielten dadurch eine besondere Bedeutung. Gegenwelten sind jedoch oft weit komplexer als die einfachen Oppositionen zwischen Freund und Feind, Gut und Böse, Ordnung und Chaos, gottgeliebt und gottlos. Die mythischen Amazonen verkehren in gefährlicher Weise alle "normalen" Verhaltensmuster der Geschlechter, aber die Amazone Penthesilea erregt die Liebe des Achill. In Griechenland konnte der Orient zugleich als Gegenwelt von Erzfeinden, als hoch geachteter Antipode für griechische Gegenentwürfe und als Inbegriff eines glücklichen, luxuriösen Lebens erscheinen, in Rom hielt man sich "Ägypten als Paradies" vor Augen. Feindwelt und Traumwelt lagen nahe beieinander, das eine konnte leicht in das andere umschlagen. In dieser Ambivalenz der "Fremde" liegen überraschende Perspektiven: etwa "Die Philosophie der Barbaren" oder die Frage "Warum haben die Barbaren keine Bilder?"
Ausgeprägte Ambivalenz zeigen besonders die Gegenwelten anthropologischer Dimensionen: In der Welt der Satyrn und Mänaden werden subversive Züge der eigenen Person in ein Gegenbild der rauschhaften Ekstase projeziert. Und "Das Totenreich: eine Gegenwelt?" stellt ein vielfältiges Spektrum von Gegenkonzepten zur Welt der Lebenden dar.
Letzten Endes hat die Ambivalenz der Gegenwelten eine deutliche anthropologische Dimension: Das "andere" ist stets bedrohlich und faszinierend zugleich, "fear and desire" gehören zusammen. Dennoch sind die verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich damit umgegangen: Für die spätere römische Welt wurde eine breite Tendenz zu "Bildern ohne Ambivalenzen" diagnostiziert.
Gegenwelten werden die wissenschaftliche Phantasie weiter stimulieren. Das Symposion erhielt durch die Nachrichten aus dem Kosovo eine konkrete Perspektive, wie sie erschreckender kaum denkbar war.
 

Prof. Dr. Tonio Hölscher 

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