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Konsens oder Konflikt in Japan?

Japan ist nach den Vereinigten Staaten die größte Wirtschaftsmacht der Welt. Sie wäre kaum dazu geworden, hätten sich die ehemals feudalen Strukturen seit den 20er Jahren nicht drastisch gewandelt. Wolfgang Seifert vom Japanologischen Seminar untersucht, ob und seit wann in Japan gesellschaftliche Interessen artikuliert werden, beschreibt die Gewerkschaftsverbände als Interessenorganisationen und entwirft ein differenziertes Bild der japanischen Gesellschaft der Gegenwart.

Mitgliedsausweis Der Heidelberger Nationalökonom und Soziologe Emil Lederer (1882-1939) lehrte von 1923 bis 1925 als Gastprofessor an der Reichsuniversität Tôkyô. In seinem Buch "Japan – Europa. Wandlungen im Fernen Osten", das er zusammen mit seiner Frau Emy Lederer- Seidler verfaßte, stellte er 1929 fest: "So ist der Strom des neuen Reichtums (in der japanischen Wirtschaft der zwanziger Jahre, W.S.) zum großen Teil wieder in die alten Kanäle zurückgeleitet worden und die Gesellschaft hat ihre Einheit bewahrt. (…) Die ganz großen Häuser, wie Mitsui und Mitsubishi, greifen noch weiter über ihre Unternehmungen hinaus in die Ministerien hinein. (…) Die Clans beherrschen so heute noch das Land, fast wie zu der Zeit, als es Agrarstaat war. In Japan gibt es eben keine "bürgerliche" Gesellschaft, die der feudalen Klasse entgegensteht. Darum fehlt auch der Antrieb zur freien Konkurrenz, es fehlt das speziell bürgerliche Ethos. Wird diese feudale Struktur auf die Dauer bestehen können?" Die "feudale Klasse" – das waren die großen Holding-Gesellschaften in Familienbesitz (derartige Familien wurden wegen ihrer "vormodernen" Struktur als Clans verstanden) und die Ministerialbürokratie, die sich großteils aus ehemaligen Samurai-Familien rekrutierte. Hinzu kam das ab den zwanziger Jahren aufstrebende Militär, dessen künftige Rolle die Lederers damals noch nicht vorhersehen konnten. Angesichts dieser Kräftekonstellation fragt man sich, wo die Organisationen der Arbeiterschaft waren. Obgleich eine Hauptstütze der Industrialisierung, konnte sie damals offenbar weder gesellschaftlich noch politisch ein Gegengewicht bilden.
Heute, siebzig Jahre später, stellen sich die Verhältnisse anders dar. Die nach den Vereinigten Staaten größte Wirtschaftsmacht der Welt wäre wohl nicht zu dem geworden, was sie heute trotz der schon Jahre anhaltenden Rezession ist, wenn der zitierte Befund auch nur einige Jahrzehnte später noch gestimmt hätte. Ohne hier behaupten zu wollen, der angelsächsische Weg zur modernen Industriegesellschaft sei der einzig mögliche und die westlichen Formen des Austragens industrieller Konflikte hätten stets Modellfunktion für nichtwestliche Länder, ist doch von hiesigen Erfahrungen ausgehend zu fragen, ob und seit wann in Japan gesellschaftliche Interessen artikuliert wurden und wie Interessenverbände eine entsprechende Politik zugunsten ihrer Mitglieder zu betreiben versuchten. Wenn die Forschung diese Fragen positiv beantwortet, so würde sie damit in einem wichtigen Bereich eine unserer Gesellschaft ähnliche Struktur für Japan aufzeigen können. Dieser Befund könnte auch eine praktisch relevante Auswirkung für die interkulturelle Kommunikation mit Japanern haben: Unser Bild würde sich differenzieren, in Japanern und Japanerinnen sähen wir nicht mehr nur, wie bisher so häufig, die gruppenorientierte Persönlichkeit, sondern auch Menschen mit divergierenden berufsbezogenen, gesellschaftlichen und individuellen, ideellen und materiellen Interessen.

Modernisierung und Verbandsbildung

In dem hier vorgestellten Projekt wurden die Interessen-organisationen von Arbeitnehmern und Unternehmern erfaßt, um ihrer jeweiligen Beziehung zum Staat nachzugehen. Dabei haben wir uns zunächst auf die Arbeitnehmerorganisationen beschränkt. Die im Westen nach wie vor weitverbreitete These von der "Japan AG" besagt ja nicht nur, daß bei der Festlegung der Ziele der nationalen Politik relativ leicht ein Konsens aller relevanten gesellschaftlichen Kräfte bzw. ihrer Organisationen erreicht wird, sondern auch, daß sie bei der praktischen Umsetzung kooperativ zusammenarbeiten. Ob dem wirklich so ist, sollte geklärt werden.
Tatsächlich haben die entsprechenden Verbände (wie übrigens auch die Parteien) eine recht lange Geschichte. Die erste Arbeiterorganisation in Form einer branchenbezogenen Gewerkschaft entstand schon 1897, die erste landesweite Dachorganisation 1912. Auch andere Verbände können auf viele Jahrzehnte ihres Bestehens zurückblicken: Die Japanische Industrie- und Handelskammer wurde 1878 gegründet, verschiedene Unternehmerverbände bereits in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts. Frauengruppen und -organisationen formierten sich ebenfalls bereits lange vor dem neuen Feminismus: als früheste Organisation die Tokyoter Frauenvereinigung für Sittenreform, sodann weitere Gruppen im Umkreis der ersten eigenständigen Zeitschrift von Frauen für Frauen, Seitô ("Blaustrumpf", 1911). Im Zuge der Industrialisierung neu entstandene oder ihrer Stellung in der sich modernisierenden Gesellschaft bewußt gewordene Gruppen initiierten (neue) soziale Bewegungen, suchten wie in den westlichen Ländern nach Artikulationsmöglichkeiten für ihre Forderungen und gründeten Interessenorganisationen. Mit deren Hilfe trugen sie gegenüber Politik und Öffentlichkeit ihre Anliegen vor, um so den Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß zu beeinflussen.
Arbeiterzeitschrift Bis 1940 nur geduldet und anschließend in eine Art japanische "Arbeitsfront" integriert, erlebten die Gewerkschaften in den ersten Jahren nach Japans Kapitulation am 15. August 1945, ermuntert von der amerikanischen Besatzungsadministration, ihre Legalisierung und sogleich einen enormen Aufschwung. Harte und teilweise lange industrielle Konflikte wurden in mehreren, heute weltbekannten Unternehmen ausgetragen, so beispielsweise bei Nissan, Tôshiba und – im öffentlichen Bereich – bei Japan National Railways (das Unternehmen wurde inzwischen privatisiert). Aber nach den sogenannten Ölkrisen von 1973/74 und 1978 sind Interessengegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern kaum noch konfliktiv ausgetragen worden. Die japanischen Unternehmensgewerkschaften besprechen heutzutage Fragen der Entlohnung, der Arbeitszeiten usw. stattdessen im Rahmen der "Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Konsultation" im Einzelunternehmen. In Deutschland hingegen handeln zumeist die Gewerkschaften (Industriegewerkschaften) auf der Ebene des einzelnen Industriezweiges diese Bedingungen in Flächentarifverträgen aus. Auch in der Politik herrscht heutzutage zwischen Arbeitnehmerorganisationen und der von der Liberal-Demokratischen Partei gestellten Regierung eher kooperatives Verhalten vor.
Im hier vorgestellten Forschungsprojekt wurden nun nicht die industriellen Beziehungen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern thematisiert, sondern die Formen der Interessenvermittlung und das Einflußpotential der gewerkschaftlichen Dachverbände auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß. Leitende Fragen waren dabei: Wie haben sich die Beziehungen zwischen Regierung / Ministerialbürokratie und gewerkschaftlichen Dachverbänden in den letzten Jahrzehnten verändert? Haben sich neue Formen der Interessenvermittlung herausgebildet? Ist eine der "Konzertierten Aktion" in der Bundesrepublik, wie sie 1967 unter dem damaligen Wirtschaftsminister Schiller ins Leben gerufen wurde, oder eine dem "Bündnis für Arbeit" vergleichbare Institution entstanden? Wo und wie kommt das "Mitspracherecht" der Gewerkschaftsdachverbände überhaupt zur Geltung? Und wie wurde auf Seiten der Gewerkschaftsverbände die Partizipation am politischen Entscheidungsprozeß aufgefaßt und gewertet?
Erste Frauenzeitschrift Die Hypothese lautete, daß in Japan im Gefolge der Ölkrise ein struktureller Wandel der Institutionen und Formen der Interessenvermittlung stattgefunden habe. Hieraus ergaben sich folgende Untersuchungsgegenstände:
  • die ökonomische Krise der Jahre 1973/74 und das Krisenmanagement der Regierung
  • die Entwicklung neuer staatlicher Instrumente der policy-Formulierung und -Implementation
  • die neue, kooperative Politik der Gewerkschaftsverbände und ihre Ursachen
  • die zunehmende Einbeziehung der Dachverbände in den politischen Entscheidungprozeß seitens der Regierung
  • die damit einhergehende Formierung eines neuen, einheitlichen Dachverbandes und das Verschwinden der alten, politisch fragmentierten Verbandslandschaft.
Besonderes Gewicht wurde auf den Kurswechsel in der japanischen Gewerkschaftsbewegung gelegt. Im einzelnen wurden dafür alle seinerzeit bestehenden gewerkschaftlichen Dachverbände beziehungsweise dachverbandsähnlichen Organisationen (sechs an der Zahl) untersucht, ferner die wichtigsten Föderationen von Unternehmensgewerkschaften in 16 Branchen, da aus diesem Kreis die führenden Funktionäre der Dachverbände stammen. Auch die veränderten Arbeitsbeziehungen auf Unternehmensebene selbst wurden berücksichtigt, indem Forschungsergebnisse insbesondere aus der japanischen Industriesoziologie herangezogen wurden.
Der Untersuchungszeitraum (1970 bis 1990) umfaßte drei Phasen, in die sich der Wandlungsprozeß der Formen, Institutionen und Inhalte der Interessenvermittlung einteilen läßt. Die erste Phase betrifft die eher von Konfrontation gekennzeichneten Jahre vor der Ölkrise, die zweite das Tasten nach neuen Mustern der Interessenvermittlung in den 70er und 80er Jahren, und die dritte die Konsolidierung des neuen Arrangements. Sie erstreckt sich bis zur Gründung des neuen Dachverbandes Rengô 1989/1990. Es handelte sich also um eine Längsschnittuntersuchung.
Das Material für Deskription und Analyse waren schriftliche Quellen, vorrangig Dokumente, die vom Arbeitsministerium sowie von den Gewerkschaftsverbänden selbst herausgegeben wurden. Darüber hinaus wurden mitten in der Umbruchphase mit Spitzenfunktionären der 23 erfaßten Gewerkschaftsorganisationen, ferner mit hohen Regierungsbeamten, aber auch mit Vertretern der Unternehmerverbände, ausführliche Interviews durchgeführt. Diese dienten nicht nur dazu, Sachinformationen über funktionale Zusammenhänge zu erhalten. Sie sollten auch die Hintergründe des Handelns der beteiligten Akteure erhellen und größere Klarheit über die Ideen von Partizipation, Reform, Gewerkschaft sowie über die Motive, welche dem Handeln der Gesprächspartner zugrundelagen, verschaffen. Es wurde angestrebt, über das, was die veröffentlichten Dokumente, Beschlüsse etc. erkennen ließen, hinaus zu diesen Motiven und Absichten vorzudringen. Daß zwischen vorgetragenen Prinzipien (tatemae) und wirklichen Intentionen (honne) besonders in der japanischen Gesellschaft ein großer Abstand besteht, gehört zum Standardwissen der Japanologen. Diese Erkenntnis sollte hier genutzt werden. Die persönlich in japanischer Sprache geführten Interviews erlaubten ferner die ad hoc-Formulierung solcher Fragen, die in der Forschung noch nicht aufgegriffen worden waren. Außerdem kam der Zielsetzung ein Faktor zugute, den man als "Bonus für den ausländischen Forscher" bezeichnen könnte: die größere Offenheit und Unbefangenheit, welche die Interviewpartner besonders in einem Bereich zeigten, in dem politische Differenzen, Konkurrenz der Organisationen und persönliche Rivalitäten sonst eher Anlaß zu sehr vorsichtigen Äußerungen geben. Zur privilegierten Situation des ausländischen Forschers zählt weiterhin seine fehlende Einbindung in eine bestimmte Schulrichtung innerhalb der japanischen scientific community. Eine Vorab-Etikettierung des Interviewers wird dadurch unmöglich. Wegen dieser "Unbelastetheit" konnte dann auch tatsächlich eine größere Breite und höhere Authentizität in der Darstellung der Standpunkte erreicht werden, als dies in vergleichbaren japanischen Studien der Fall war. Neben dem Längsschnittaspekt war es dieser Ansatz, der es erlaubte, Neues zutage zu fördern.

Inkorporierung der Verbände nach der Ölkrise

Gründungsmitglieder Es zeigte sich, daß es in der Periode des Wiederaufbaus der japanischen Wirtschaft (1945-1955) zu teilweise heftigen Arbeitskämpfen in großen Unternehmen kam. Auch Konfrontationen der gewerkschaftlichen Dachverbände mit der Regierung auf vielen Politikfeldern, einschließlich der Außen- und Sicherheitspolitik, in der es um die Frage von Japans Neutralität oder "Westbindung" ging, fanden statt. In der anschließenden Phase des raschen Wirtschaftswachstums mit Wachstumsraten von bis zu zehn Prozent jährlich (1955-1973) konnten die Arbeitnehmerorganisationen noch erhebliche Lohnsteigerungen erreichen, auch ohne immer Mittel des Arbeitskonflikts einzusetzen. Nach der Ölkrise von 1978 fanden Arbeitskämpfe nur noch sporadisch statt, es setzte sich auf betrieblicher Ebene die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Konsultation als wichtigstes Verfahren durch. Langsam aber stetig verstärkte sich auch ein auf Kooperation mit Regierung und Verwaltung bedachter Kurs in den Dachverbänden. Die wichtigste Veränderung in den Beziehungen zwischen "Staat" und "Arbeit" bestand sicher darin, daß im Verlauf des Krisenmanagements beide Seiten von der Notwendigkeit überzeugt waren, Kompromisse einzugehen. Die konservative Regierungspartei LDP versuchte ihre in den Städten bröckelnde Wählerbasis zu erweitern und nahm dazu den Dialog mit den Arbeitnehmerorganisationen auf. Sie wies auch die Ministerialbürokratie zu entsprechenden Schritten an. Die gewerkschaftlichen Dachverbände ihrerseits lockerten ihre Bindungen an die Oppositionsparteien der Sozialisten und der Kommunisten.
Es läßt sich nachweisen, daß
  • sich in der Tat neue Formen der Interessenvermittlung herausbildeten, von denen inoffizielle, "persönliche Beratungsorgane" einzelner Minister, besonders des Arbeitsministers und des Ministers für Wohlfahrt und Gesundheit, die größte Bedeutung erlangten. Andererseits erhielten auch die schon zuvor mit Gewerkschaftsbeteiligung arbeitenden offiziellen Beratungsbeiräte mehr Gewicht;
  • sich das "Mitsprachrecht" der Dachverbände – kein verbrieftes Recht, sondern ein nach der Ölkrise verstärkt erhobener Anspruch – institutionalisierte;
  • eine der "konzertierten Aktion" in der Bundesrepublik vergleichbare Institution schon 1970 nach deutschem Vorbild geschaffen wurde, nämlich der "Gesprächskreis für Industrie- und Arbeitsfragen";
  • der in der Untersuchung ermittelte quantitative Beteiligungsgrad der Gewerkschaftsverbände allerdings nicht derart anstieg, um innerhalb des Dreiecks "Regierung, Unternehmerverbände, Gewerkschaftsverbände" von einem "gleichberechtigten" Partner sprechen zu können;
  • sich das Verständnis von "Partizipation" gewandelt hat: Während Partizipation an administrativen Beratungsgremien der Regierung im Selbstverständnis des größten Dachverbandes vor der Ölkrise höchstens als "passive Partizipation" akzeptiert wurde und man sich keineswegs danach drängte, einbezogen zu werden, vollzog sich seither ein Wandel, der schließlich zu "aktiver Partizipation" führte. Dies bedeutet, daß sich die Gewerkschaftsvertreter policy-Vorschläge der Vertreter der Regierung nicht mehr bloß anhören, sondern ihrerseits eigene Vorschläge in die Gremien einbringen, und zwar auch dann, wenn sie dort in der Minderheit sind.
Wahrscheinlich das wichtigste Ergebnis ist darin zu sehen, daß Ende der 80er Jahre ein neuer, einheitlicher Dachverband entstanden ist. Durch ihn wurde die bis dahin bestehende politische Fragmentierung weitgehend überwunden. Dies heißt: Das Erfordernis der "Einheit der Gewerkschaftsbewegung" war angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen für Japan funktional notwendig geworden. Der Preis dafür war und ist nun allerdings, daß die nicht zu den Stammbelegschaften der Großunternehmen gehörenden Beschäftigten ihre Interessen nur selten vom neuen Verband vertreten finden. Diese Arbeitnehmer suchen stattdessen in anderen, kleinen Verbänden eine ihren Bedingungen angemessene Interessenpolitik oder werden Mitglied in neuen Organisationen, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Außerdem darf nicht übersehen werden, daß die Einbindung der Gewerkschaftsverbände in den politischen Entscheidungsprozeß von einem Sinken des gewerkschaftlichen Organisationsgrades der japanischen Arbeitnehmer begleitet wird, ohne daß man ein eindeutiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen beiden Tendenzen nachweisen könnte.
Erstes Büro Insgesamt gesehen ergab die Forschung, daß Japan keineswegs dem Bild einer "Konsensgesellschaft" entspricht, wenn man darunter eine Gesellschaft mit immer schon gegebener sozialer und politischer Homogenität versteht, die harte Interessenkonflikte erst gar nicht entstehen läßt. Und im politischen Bereich kann von einer "Japan AG", in der alle gesellschaftlich relevanten Kräfte am selben Strang ziehen, während allein die Minderheiten nicht einbezogen werden, nicht die Rede sein. Wohl aber sind die Formen des Konfliktaustrags andere als im Westen; auch die Anerkennung der Gewerkschaftsverbände und ihre Beteiligung am politischen Prozeß erfolgte erst relativ spät.
Die hier vorgestellte Forschung (Buchtitel der Habilitationsschrift: "Gewerkschaften in der japanischen Politik von 1970 bis 1990. Der dritte Partner?") steht in einem größeren Forschungskontext. Dabei geht es um Entwicklungslinien der japanischen Gesellschaft und damit auch um Ähnlichkeiten oder Unterschiede gegenüber den westlichen Gesellschaften in der Zukunft. Auf der Ebene der Einschätzung und des Vergleichs von Gesamtgesellschaften (Ländern) werden in der internationalen Diskussion seit längerem zwei gegensätzliche Thesen vorgetragen. Nach der "Konvergenz-These" bilden alle Industriegesellschaften über kurz oder lang ähnliche Institutionen, Verfahren und Wertorientierungen heraus und gleichen sich somit an. Die Gegenthese lautet: Der kulturelle Hintergrund und die geschichtlichen Traditionen einer jeden Gesellschaft sind so tief verankert, daß trotz des Industrialismus kein uniformes Muster entstehen kann. Japan dient schon seit längerem als Erprobungsfeld für beide Thesen, weil es als erstes Land außerhalb der westlichen Welt ein außergewöhnlich hohes Niveau der Industrialisierung – und heute der Informationsgesellschaft – erreicht hat. Einige Vertreter der Konvergenzthese argumentieren, daß für die Unterschiede letztlich nur der im Vergleich zu England und den Vereinigten Staaten späte Beginn der Industrialisierung verantwortlich sei und Japan daher besser mit anderen "Spätentwicklern" wie beispielsweise Deutschland verglichen werden sollte. Interessant und trotz des im Westen abnehmenden Interesses am "japanischen Management" ist noch eine dritte These, nämlich die von der "umgekehrten Konvergenz". Sie besagt, daß die westlichen Länder bestimmte Institutionen Japans etwa im Bereich der Erziehung, aber auch der Arbeitsbeziehungen, übernehmen und sich Japan annähern würden.
Reihenhaussiedlung in Osaka Es liegt auf der Hand, daß zur Untermauerung der einen wie der anderen These weitere Einzelstudien erforderlich sind. Wir arbeiten deshalb daran, nach den Gewerkschaftsverbänden auch andere Interessenorganisationen zu untersuchen. Ebenso steht eine Vergleichsstudie im Bereich der industriellen Beziehungen auf dem Programm. Die Befunde der sozialwissenschaftlichen Japanforschung können in zwei Richtungen nutzbar gemacht werden: Zum einen können sie in die interkulturell vergleichende Forschung über Interessen in der Demokratie eingebracht werden. Zum anderen sind sie aber auch ein wichtiges Element bei der Fundierung von Thesen zur weiteren Entwicklung der japanischen Gesellschaft, und hier besonders zur Divergenz zu oder Konvergenz mit den westlichen Gesellschaften.

Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Seifert
Japanologisches Seminar, Akademiestraße 4-8, 69117 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 76 60, e-mail: if9@ix.urz.uni-heidelberg.de

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