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Nach bestem Vermögen tatkräftige Hilfe leisten

Dieses Versprechen gab im Jahr 1921 der deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann seinem russischen Kollegen Maxim Gorki, der die Welt in einem dramatischen Aufruf auf das Elend seiner Landsleute aufmerksam gemacht hatte. Gorkis Hilferuf blieb nicht ungehört. Die junge Weimarer Republik war eins der ersten westlichen Länder, die sich um eine zentrale Verpflegungs- und Medikamentenhilfe für Rußland bemühte. Es entstand die "Deutsche Hungerhilfe". Wolfgang Eckart vom Institut für Geschichte der Medizin erläutert die Vorhaben und Wirkungen des Programms, dessen humanitäre Hilfe freilich nicht nur altruistisch war.
Die Frage nach der Rolle deutscher Medizin im Rahmen auswärtiger Kulturpolitik der Republik von Weimar wurde bislang kaum gestellt. Ihr muß zunächst eine andere Frage – die nach der generellen Bewertung der deutschen Medizin im Rahmen einer informellen äußeren Kulturpolitik vor 1914 – vorangehen. Eingehende Untersuchungen zur Rolle der Medizin in der deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor 1914 liegen bislang nicht vor. Indes wird schon beim Durchmustern der gedruckten Quellen des Kaiserreichs offensichtlich, daß auch der Medizin ein nicht unerheblicher Beitrag im Sinne einer "Weltpolitik als Kulturmission" zugedacht war. So wurden Begriffe wie Zivilisations- und Kulturarbeit im letzten Vorkriegsjahrzehnt immer deutlicher vernehmbar. Die Zielländer und Motive einer solchen informellen Kulturpenetration, die sich als Ergänzung deutscher Großmachtpolitik verstand, wurden dabei durchaus differenziert behandelt: Gegenüber den sogenannten "unzivilisierten" deutschen Kolonialvölkern Afrikas war es insbesondere die "erzieherische Bedeutung" ärztlicher Tätigkeit, bei den ostasiatischen Zielländern stand die enge Verflechtung medizinischer Projekte mit dem kaiserlichen Wirtschafts- und Kulturimperialismus im Vordergrund. Es waren vor allem die Erfolge der medizinischen Wissenschaft, die – als Signum deutscher Weltgeltung im Mutterland allgemein akzeptiert und mit wohlklingenden Wissenschaftlernamen verknüpft – nach außen als personenbezogene Objekte wissenschaftlicher Kulturpropaganda eingesetzt wurden. Als Aktivposten deutscher auswärtiger Kulturpolitik im westlichen und östlichen Ausland galten die Auslandskrankenhäuser.
Die Dienstleistungen eines eigens für solche Fragen geschaffenen Referats in der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes erstreckten sich von der Nachrichtenbeschaffung über auswärtige Medizinalangelegenheiten und der Geldbeschaffung bis hin zur Bereitstellung von Informationen über das deutsche Medizinalwesen. Grundsätzlich galten für die Medizin die gleichen Richtlinien, wie sie Außenminister Walter Simons (1861-1937) im Januar 1921 im Hauptausschuß des Reichstages für die auswärtige Kulturarbeit umrissen hatte: An eine offensive imperialistische Kulturpropaganda nach französischem Muster sei nicht mehr zu denken; Deutschland müsse sich vielmehr damit begnügen, durch herausragende Leistungen auf "sachlichem, wissenschaftlichem und technischem" Gebiet, aber auch "durch Festhalten an der deutschen Art" das Ansehen des Reiches im Ausland wiederherzustellen und zu festigen. Dabei hatte Simons die bedeutungsvolle Tätigkeit deutscher Ärzte im Ausland unterstrichen, die in herausragender Weise geeignet sei, einer solchen Zieldefinition zu entsprechen.
Am Beispiel der deutsch-sowjetischen Beziehungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre lassen sich exemplarisch bedeutende Bereiche der auswärtigen Kulturpolitik vorstellen, in denen die Medizin als Instrument deutscher Außenpolitik funktionalisiert wurde und sich der organisatorischen Begleitung und finanziellen Unterstützung des Auswärtigen Amtes versichern konnte. Es handelt sich hierbei im einzelnen um die deutsche Hungerhilfe für Rußland, die Förderung medizinwissenschaftlicher Forschungsinstitute, des deutschen Auslandskrankenhauswesens, des Arzneimittelexportes im Rahmen einer medizinischen Kulturpropaganda und schließlich um die Unterstützung wissenschaftlicher Vortrags- und Besuchsaktivitäten medizinischer Hochschullehrer.

Deutsche Hungerhilfe für Rußland

Kein geringerer als der große russische Schriftsteller Maxim Gorki (1868-1936) hat mit einem dramatischen Aufruf vom 12. Juli 1921 versucht, die Weltöffentlichkeit auf das Leid seiner hungernden Landsleute aufmerksam zu machen und Nahrungs- und Arzneimittelhilfe in sein Land zu lenken. Wichtige Persönlichkeiten Sowjetrußlands schlossen sich ihm an, unter ihnen auch Lenin. Gorki und Lenin hatten die Weltöffentlichkeit tatsächlich in größter Not angerufen. Mitten in schwerster Seuchenzeit, welche die ohnedies gewaltigen Kriegs- und Revolutionsfolgen verschärfte, traf das russische Volk eine durch die katastrophale Mißernte des Frühsommers 1921 verursachte Hungersnot. Hatten vom Revolutionsjahr 1917 bis zur Mißernte vor allem Fleck- und Rückfallfieber, Malaria, Pest, Cholera und die weltweite Grippe-Epidemie des Winters 1918/19 Hunderttausende von Opfern gefordert, so traf der Hunger das durch Krieg, Revolution und Seuchen gepeinigte russische Volk nun doppelt hart. Im April 1922 schätzte der Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, der Polarforscher Fridtjof Nansen (1861-1930), die Zahl der Hungernden in Rußland und in der Ukraine auf 35 bis 40 Millionen Menschen. Besonders hart litten die Kinder. Die Säuglingssterblichkeit lag 1921/22 zwischen 80 und 100 Prozent; bis zu 40 Prozent der Kleinkinder erlagen Hunger und Krankheiten. Nachdem Ende 1922 der Höhepunkt der Katastrophe überschritten war, mußten insgesamt fünf Millionen Hungertote beklagt werden. Für Lenin bedeutete die Hungersnot innen- wie außenpolitisch eine erhebliche Gefahr. Nach innen traten die Mißstände der kaum funktionierenden "sozialistischen Ökonomik" offen zutage, denn nicht zuletzt Korruption, organisatorische Inkompetenz bei der Reservenverteilung und die gnadenlose kompensatorische Plünderung der reichen ukrainischen Kornkammern hatten zur Eskalation der Hungersituation in der gesamten europäischen Sowjetunion beigetragen. Aber auch die außenpolitische Lage der revolutionären Sowjetrepublik war durch die innere Not gefährdet. Hofften doch insbesondere die europäischen Mächte und die Vereinigten Staaten auf einen baldigen Sturz des kommunistischen Sowjetrußlands.
Die russischen Hilferufe blieben nicht ungehört. Vor allem in sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen Westeuropas fanden die Appelle Gorkis und Lenins großen Widerhall. Auf der internationalen Bühne bemühte sich der Polarforscher Friedjof Nansen um eine koordinierte Hilfsaktion. Nansen hatte sich als Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen durch sein selbstloses Engagement für die Repatriierung russischer Kriegsgefangener international, vor allem aber in Rußland, Achtung verschafft. Sein Engagement erstreckte sich zunächst auf die Organisation der Hilfsaktionen des Internationalen Roten Kreuzes (IRK), dem zu jener Zeit der Schweizer Gustav Ador (1845-1928) vorstand. Doch auch diese Hilfe konnte nur begrenzt sein, wenn man nicht auch die Regierungen der westlichen Welt zu Hilfsaktionen ermuntern würde.
Nansen bemühte sich beim Völkerbund in Genf um eine solche Hilfe und scheiterte. Unter den Vorzeichen der sich anbahnenden Weltwirtschaftskrise war an eine koordinierte internationale Hilfsaktion nicht zu denken. Verbittert erklärte Nansen in einem Interview am 7. Oktober 1921, vier Wochen nach dem ablehnenden Beschluß des Völkerbundes: "Argentinien verbrennt seinen Getreideüberfluß, Amerika läßt in den Speichern sein Korn verfaulen, Kanada hat mehr als zwei Millionen Tonnen Getreide übrig – und in Rußland sterben Millionen vor Hunger." Immerhin kam in den folgenden Wochen und Monaten die internationale Hilfe auch ohne einen Völkerbundbeschluß langsam in Gang. Beispielhafte Hilfe leisteten vor allem die amerikanischen Mennoniten und Quäker aber auch die staatliche "American Relief Administration" (ARA), die sich insbesondere für die Organisation von "Kinderküchen", aber auch für den Versand von Nahrungsmitteln und Medikamenten einsetzte. Freilich war gerade diese Hilfe nicht uneigennützig, sondern verfolgte wie andere Organisationen Aufklärungs- und Spionagezwecke in der ansonsten für westliche Augen verschlossenen Sowjetunion.
Hungerhilfe Eines der ersten westlichen Länder, dessen Regierung sich um eine zentrale Hunger- und Medikamentenhilfe für Rußland bemühte, war die junge Weimarer Republik. Motor der Initiative ist der spätere Außenminister Walther Rathenau (1867-1922). Er bittet zunächst seinen Duzfreund Gerhart Hauptmann (1862-1946), den Hilfsappell Maxim Gorkis zu beantworten. Hauptmann, in diesen Jahren die kulturelle Integrationsfigur der Weimarer Republik, "Volkskönig" (Thomas Mann) der Deutschen und für viele Wunschkandidat der gemäßigten Linken für das Amt des Reichstagspräsidenten, verschließt sich der Bitte nicht. Sein Antwortschreiben, das am 25. Juli 1921 in verschiedenen großen Tageszeitungen der Republik veröffentlicht wird, zeugt von der Ergriffenheit des Dichters. In der Schlußpassage der Antwort an Gorki heißt es:
"Was aber das deutsche, schwergeprüfte, doch allzeit hilfsbereite Volk betrifft, so ist es schon heute durch den Ruf aus dem Osten tief erregt und bewegt, und ich darf getrost sagen, daß Volk und Reichsregierung in dem innigen Wunsch einig sind, nach bestem Vermögen tatkräftige Hilfe zu leisten".
Mehr kann auch der Dichter angesichts der schwierigen innenpolitischen Lage Nachkriegsdeutschlands nicht versprechen.
Auf Rathenaus Initiative findet am 3. August 1921 eine Sitzung des Deutschen Roten Kreuzes statt, auf der es um "rasche ärztliche Hilfe und Heilmittelentsendungen" nach Rußland geht. Eingeladen sind bedeutende Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Wissenschaft: Borsig, Bosch, Duisberg, Hugenberg, Thyssen, Stinnes, Siemens, Einstein, Max Reinhardt und Gerhart Hauptmann. Die Versammlung beschließt, keine Nahrungsmittelhilfe, sondern ausschließlich medizinische Hilfe zu leisten. Nahrungsmittelhilfen wären im Nachkriegsdeutschland schwer durchsetzbar gewesen, befand sich doch die junge Republik selbst in großer Not. Eine medizinische Hilfe hingegen schien auch aus Gründen der Seuchenvorbeugung für das eigene Land durchaus gerechtfertigt, wie Außenminister Friedrich von Rosen dem Ausschuß des Reichsrates für Auswärtige Angelegenheiten am 15. August 1921 berichtete. Rosen war mit der Koordinierung der Hilfsaktion betraut. Wichtig war ihm – ebenso wie dem Deutschen Roten Kreuz – der Hinweis, daß mit den beabsichtigten medizinischen Hilfsmaßnahmen an eine politische "Unterstützung der Sowjetregierung" in keiner Weise gedacht sei und – neben karitativen Aspekten – ausschließlich seuchenhygienische Vorsorge das außenpolitische Handeln bestimmten. Diese Vorsicht war durchaus angebracht: Der Finanzbedarf der Hilfsaktion sollte durch einen Reichsfonds zur "Abwehr der Seuchengefahr aus dem Osten" in Höhe von immerhin zehn Millionen Mark gedeckt werden; dessen Zweckbestimmung geheim zu halten oder zu verschleiern, ließ der Außenminister durch seinen Legationsrat Wipert von Blücher das Reichsministerium des Inneren aus innen- wie außenpolitischen Gründen dringend bitten.
Der Vorgang war offensichtlich auch außenpolitisch nicht ohne Brisanz. Dem Auswärtigen Amt ging es vermutlich bereits in der Frühphase der Hilfsaktion keineswegs nur um altruistische oder seuchenpräventive Ziele, sondern um handfeste außenpolitische Interessen. Offensichtlich sollte die Hilfe für die Sowjetunion die Bereitschaft einer kulturellen und handelspolitischen Öffnung nach Osten signalisieren. An großer Presse war man auch deswegen nicht interessiert.
Dies belegt eine interministerielle Demarche des Außenministers durch seinen Legationsrat Herbert Hauschild vom 6. Dezember 1921. Das Auswärtige Amt habe "großes Interesse an der Weiterführung der Expedition", dabei müßten aber "aus begreiflichen Gründen nach außen hin die politischen Ziele hinter den seuchenhygienischen Zwecken der Expedition verschwinden"; in Frankreich verfolge man "anscheinend das deutsche Hilfswerk mit gesteigerter Aufmerksamkeit".
Anfang September 1921 stand fest, daß das Deutsche Rote Kreuz eine medizinische Hilfsexpedition für Rußland organisieren würde. Ihr vornehmliches Ziel sollte die Unterstützung sowjetischer Behörden bei der Seuchenbekämpfung in Petrograd, Minsk, vor allem aber im stark betroffenen Gebiet der Wolgadeutschen sein. Leiter der Expedition war der Hamburger Tropenmediziner und Malariaexperte Prof. Peter Mühlens (1874-1943). Erster Zielpunkt der Expedition war Petrograd. Am 17. September 1921 verließ das DRK-Sanitätsschiff "Triton" vollbeladen den Hafen Stettins und erreichte Petrograd sechs Tage später. Die "Hungerhilfe" Deutschlands für Rußland war angelaufen.
Von Petrograd aus, wo das von Deutschen gegründete Alexander-Hospital dem DRK zur Verfügung stand, wurden die weiteren Hilfsaktionen organisiert. Sanitätszüge verließen Petrograd in Richtung Moskau, Minsk und Kasan. In Moskau entstand unter Leitung des Expeditionsteilnehmers und Hygienikers Heinz Zeiss (1888-1949) ein bakteriologisches Zentrallaboratorium des DRK. Es arbeitete bald mit anderen bakteriologischen Untersuchungsämtern Moskaus erfolgreich zusammen. Hier wurden seuchenhygienische Expeditionen geplant, Gesundheitsstatistiken geführt, Proben analysiert, Impfstoffe hergestellt und Impfaktionen organisiert.
Besondere Aufgaben erwarteten den DRK-Sanitätszug in Kasan. Dieser Zentralort der Tatarenrepublik bot ein Bild des Grauens. Seuchen, Verelendung und Hunger hatten die Bevölkerung in einen erbärmlichen Zustand versetzt. Vor allem medizinische Hilfeleistungen und eine verbesserte Wasserversorgung waren dringend nötig. Dieser Aufgabe nahm sich das DRK mit großem Erfolg an. Nahrungsmittellieferungen skandinavischer Hilfsorganisationen ergänzten die Arbeit und bewirkten, daß sich die Gesamtsituation Anfang 1923 besserte. In Minsk und Petrograd waren es vor allem die Flüchtlingsströme Hungernder, die zur Verbreitung von Fleck- und Rückfallfieber beitrugen. Vor allem in Minsk gelang es der DRK-Expedition partiell, das Seuchengeschehen zu beherrschen und – gegen die eigentlichen Ziele der Expedition – auch eine Nahrungsmittelhilfe zu organisieren.
Die Hilfsaktion des Deutschen Roten Kreuzes endete im Frühjahr 1924. Zu diesem Zeitpunkt waren die wichtigsten Folgen der Hungerkatastrophe vom Sommer 1921 erfolgreich bekämpft. Vielerorts blieben jedoch deutsche Ärzte weiterhin tätig. Etwa der Hygieniker Heinz Zeiss in Moskau. Auch in Petrograd, Minsk, den deutschen Wolgakolonien, der Südukraine und im georgischen Tiflis arbeiteten bis in die zweite Hälfte der zwanziger Jahre deutsche Ärzte. Insgesamt muß die medizinische Hungerhilfe Deutschlands für Sowjetrußland in den frühen zwanziger Jahren als ein wichtiger Beitrag zur Zusammenarbeit beider Völker gewertet werden.
Germanin, Zeiss Der deutsche Hygieniker Heinz Zeiss besaß das Wohlwollen Lenins und das Interesse Trotzkis; mit Prof. Nikolai Alexandrowitsch Semaschko (1874-1949), dem Volkskommissar für das sowjetrussische Gesundheitswesen, verband ihn eine enge Freundschaft. Bereits in den Jahren vor der Schließung der bakteriologischen Zentralstelle des Deutschen Roten Kreuzes hatte Zeiss regelmäßigen Kontakt mit der deutschen Botschaft, der er Lageberichte über die gesundheitliche, aber auch die politische und kulturelle Entwicklung in Sowjetrußland lieferte. Hierzu war Zeiss wie kaum ein anderer Deutscher jener Zeit in der Lage, führten ihn doch seine seuchenhygienischen Aufgaben in viele Teile des Landes. Seine Reiseprotokolle, die er regelmäßig an die Botschaft nach Moskau schickte, waren indes nie ausschließlich medizinischen Inhalts. Sie enthielten stets auch lokalpolitische und kulturelle Skizzen. Besonders ausführlich berichtete Zeiss aus den deutschen Wolgakolonien, die er zuerst im Spätsommer 1922 besuchte, um eine Malariaepidemie zu bekämpfen.
Für das Auswärtige Amt in Moskau waren die Arbeiten von Zeiss sehr bedeutsam. Dies belegt ein Brief des deutschen Gesandtschaftsarztes in Moskau, Dr. Bernstein, an den Präsidenten der Notgemeinschaft, Staatsminister a. D. Friedrich Schmidt-Ott (1860-1956), vom 2. Juli 1923. Bernstein unterstreicht in diesem Brief, daß die "Präponderanz der deutschen Medizin in Rußland vorzugsweise das Verdienst des Leiters der bakteriologischen Zentralstation vom Deutschen Roten Kreuz" sei. Zeiss habe "durch die Arbeit von zwei Jahren der deutschen Wissenschaft eine Stelle in Rußland geschaffen, die zu den stärksten kulturellen Aktivposten" gehöre und keinesfalls "gefährdet" werden dürfe. Eine solche Gefährdung war durch das Auslaufen der deutschen Hungerhilfe de facto gegeben. Bernstein betonte auch den wirtschaftlichen Aspekt gerade dieser Institution. So seien die "chemisch-pharmazeutische Industrie und die landwirtschaftliche Maschinenindustrie… für die Seuchenbekämpfung unentbehrlich". Die Zentralstelle habe durch ihre Tätigkeit nicht nur die "führende Stellung der deutschen Epidemiologie gesichert", sondern arbeite auch "mit industriellen und kaufmännischen Kreisen Hand in Hand". Die ganze Sache sei damit zweifelsfrei "wirtschaftlich und kulturell eine deutsche". Würde durch ihren Wegfall erst einmal die deutsche Position in Moskau "untergraben", werde es weiterhin "schwer sein, der Entente-Propaganda ein Paroli zu bieten". Tatsächlich ist diese Institution 1924 mit dem Auslaufen aller Verpflichtungen aus der internationalen Hungerhilfe aufgelöst worden. Zeiss aber blieb in Moskau, nun in sowjetischen Diensten als Abteilungsleiter am Chemopharmazeutischen Forschungsinstitut des Obersten Wirtschaftsrates (1.10.1924-30.9.1925) sowie am Tarassewitsch-Institut für experimentelle Therapie und Serumkontrolle (1.10.1924-1932).
Das Chemotherapeutische Institut war im Herbst 1924 an Heinz Zeiss mit der Bitte um Mitarbeit herangetreten. Dieser Bitte entsprach Zeiss um so lieber, als der wissenschaftliche Direktor des Instituts, Oskar Steppuhn (geboren 1884) – ein Bruder des Philosophen Fjodor Steppuhn (1884-1965) – in Heidelberg studiert und nach seiner naturwissenschaftlich-mathematischen Promotion am dortigen pharmakologischen Institut unter Rudolf Gottlieb (1864-1924) als Assistent gearbeitet hatte.
Neben seinen vermutlich geringen Gehältern aus diesen neuen Funktionen erhielt Zeiss nach der Schließung der Bakteriologischen Zentralstelle – spätestens seit Dezember 1924 – auch direkte Zuwendungen aus dem Etat des Auswärtigen Amtes, die ihm über die Deutsche Botschaft in Moskau zuflossen. Hierfür hatte sich der erste deutsche Botschafter in der Sowjetunion, Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau (1869-1928), "im Interesse der Ausgestaltung" der "kulturellen wie politischen Beziehungen" zur Sowjetunion persönlich eingesetzt. Eine finanzielle Unterstützung der nützlichen Rolle des Hygienikers für die deutsch-sowjetischen Beziehungen erscheine "gerade im gegenwärtigen Augenblick um so notwendiger […] als von französischer Seite bereits von langer Hand vorbereitete Versuche unternommen" würden, "die russische medizinische Welt unter französischen Einfluß zu bringen".
Im Auftrag der neuen Dienststellen und im Interesse der deutschen Kulturpropaganda bereiste Zeiss im März 1926 erneut das deutsche Wolgagebiet, wo in Saratow die Errichtung einer deutschen Hochschule geplant war. Sie versprach, "ein grosses Betätigungsfeld […] taktvoll betriebener deutscher Kulturpropaganda". "Reichsdeutsche Dozenten" seien dorthin unbedingt als "Austauschprofessoren" zu entsenden. Einen "besseren Riegel gegen französische Kulturpropaganda" als eine "deutsche Hochschule in Russland" gebe es wohl nicht. Auch zwei große, von der Notgemeinschaft und der Billroth-Stiftung finanzierte Expeditionen zur Bekämpfung der Kameltrypanosomiasis in den Jahren 1926 und 1927 dienten nicht nur dem medizinischen Zweck, sondern auch der Kultur- und Wirtschaftspropaganda für Deutschland. Es galt, neue Absatzmärkte für deutsche Medikamente – in diesem Fall für "Bayer 205", das seit 1923 unter dem Handelsnamen "Germanin" international vertrieben wurde – zu sichern. Bereits im Frühjahr 1923 berichtete der Vortragende Legationsrat in der Außenhandelsabteilung des Auswärtigen Amtes, Geh. Reg. Rat Dr. phil. et jur. Rudolf Asmis, aus Moskau von verblüffenden Erfolgen, die Zeiss mit dem neuen Präparat bei Kamelen in Turkestan und Transkaspien erzielt habe. Gelinge es, durch den Einsatz von "Germanin" die "für Deutschland freundlich gesinnten Mohamedaner" Turkestans und Transkaspiens vor dem Ausfall ihrer Kamelherden infolge jener Krankheit zu schützen", dann bekomme das neue "Mittel auch in jener Ecke der Welt […] seine besondere politische Bedeutung". So werde das Medikament "auch in Asien […] eine äusserst wertvolle Propaganda für deutsches Können" und damit "zu einem ständigen stillen Bundesgenossen aller deutsche Kulturpropaganda im Auslande treibenden Diplomaten".
Über erste Erfolge auf dem kulturpolitischen Nebenschauplatz seines nunmehr auch veterinärärztlichen Wirkens konnte Zeiss im September 1926 dem Auswärtigen Amt berichten. "Mit unglaublicher Geschwindigkeit" habe sich im Expeditionsgebiet die Nachricht fortgepflanzt, "dass Bayer zur Behandlung der Kamele eingetroffen sei". Sowohl die Kamelzucht als auch die Wirtschaft des Gebietes seien "vollständig gerettet worden". Die "volkswirtschaftliche Bedeutung dieser Tatsache" sei immens und werde "von der Regierung gerne öffentlich überall anerkannt".
Die zweite Expedition zur Bekämpfung der Kamel-Trypanosomiasis führte Zeiss von Juli bis Oktober 1927 ins Gouvernement Uralsk. Sie verlief weder so problemlos noch so erfolgreich wie die des Vorjahres. Die unumschränkte Herrschaft Stalins war auch in der Kirgisischen Steppe zu spüren. Die Anwesenheit des deutschen Hygienikers weckte Argwohn, seine Wirkungsmöglichkeiten blieben erheblich eingeschränkt. Der "Kulturbericht" über diese zweite "Kamelexpedition" schildert diese Schwierigkeiten bemerkenswert detailreich. Bemerkenswert ist der Bericht jedoch auch wegen der überaus euphorischen Einschätzung der sowjetischen Entwicklungsmöglichkeiten zu Beginn der Diktatur Stalins und wegen seiner mahnend-programmatischen Aussagen zu den Chancen, diese Entwicklungen im deutschen Interesse fruchtbar zu machen:
"Es wäre ein Mißverständnis, wollte man aus meinen Ausführungen nur das Verneinende herauslesen. (…) Denn alles befindet sich in Gärung und Umwandlung, aber in einer solchen, die morgen in einen geordneten Zustand übergehen kann und auch wird. (…) Trotz aller Fehlschläge ist der harte Wille der Sowjets vorhanden, das Beste zu leisten. (…) Jede Unterschätzung kann sich schwer rächen. Diese geistige Auseinandersetzung mit Russland muß rechtzeitig von deutscher Wissenschaft in ihrer Eigenart begriffen werden, um sie so zu leiten, dass sie Deutschlands Kräfte vermehrt".
Ob die Mahnung des deutschen Hygienikers im Auswärtigen Amt zu unmittelbaren Reaktionen oder gar zu einer stärkeren Gewichtung des wissenschaftlichen Austauschs mit der Sowjetunion geführt hat, kann nicht mehr rekonstruiert werden. Sicher ist nur, daß Zeiss selbst diesem Credo entsprechend seine Tätigkeit in Mos-kau gestaltet hat. Beispielsweise durch bilaterale Forschungsexpeditionen wie die Unterstützung der von der Notgemeinschaft finanzierten Deutsch-Russischen Syphilisexpedition des Jahres 1928 oder durch die Förderung wissenschaftlicher Vortragsreisen deutscher Ärzte, etwa des Hämatologen Victor Schilling 1926, sowie sein besonderes wissenschaftshistorisches Engagement, das 1926 zur Einrichtung des Moskauer Metschnikow-Museums führte. Wie fruchtbar all diese Aktivitäten für das wissenschaftliche Ansehen des Hygienikers in der Sowjetunion waren, belegt die Berufung von Zeiss zum ordentlichen Mitglied der Kommission für Wissenschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaft für die Sowjetunion in Leningrad und zum korrespondierenden Mitglied der Gesellschaft zur Erforschung Kasakistans (Sitz in Alma-Ata) an der gleichen Akademie. Im Jahre 1932 verließ Heinz Zeiss die Sowjetunion.
Spätestens mit der Rückkehr ihres Hauptexponenten nach Deutschland waren die Bemühungen einer die Medizin umfassenden auswärtigen deutschen Kulturpolitik in der Sowjetunion gescheitert. Zurück in Deutschland entwickelte Zeiss zusammen mit Ernst Rodenwaldt die "Geomedizin". Diese Lehre betonte die räumliche und zeitliche Abhängigkeit von Krankheiten vom geographischen Milieu (Klima, Landschaft, Ökosystem, Kultur, Geschichte). In ihrer Entstehungszeit war sie auch rassenanthropologischen Vorstellungen verpflichtet. Seit 1931 Mitglied der NSDAP, wurde Zeiss zunächst außerordentlicher Professor für Hygiene in Hamburg, 1933 stellvertretender Direktor des Hygieneinstituts der Berliner Universität, 1937 schließlich dessen ordentlicher Professor und Direktor. Zwischen 1941 und 1945 war Zeiss als Hygienischer Berater der Wehrmacht an allen Fronten "geomedizinisch" tätig. Zeiss, der mehrfach vom sowjetischen Inlandsgeheimdienst wegen seiner langjährigen Tätigkeit in der Sowjetunion als Spion denunziert worden war, geriet 1945 in sowjetische Gefangenschaft. Am 31. März 1949 starb er in Vladimir/UdSSR.

Autor:
Prof. Dr. Wolfgang Eckart
Institut für Geschichte der Medizin, Im Neuenheimer Feld 327, 69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 54 82 12

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