Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Wozu Rituale gut sind

Ob Taufen oder Hochzeitsfeiern, Jugendweihen, Pilgerfahrten oder Preisverleihungen – auch in modernen Gesellschaften schwinden Rituale nicht. Stattdessen entstehen überall neue Ritualisierungen mit atemberaubender Dynamik. Ein neuer, in seiner Struktur bislang einzigartiger Sonderforschungsbereich der Universität Heidelberg will klären, wozu Rituale in verschiedenen Kulturen, Zeiten und Regionen notwendig sind. In das auf zwölf Jahre angelegte Projekt sind 15 Fächer von der Ägyptologie über die Medizinische Psychologie bis zur Liturgiewissenschaft eingebunden. Axel Michaels, der Sprecher des Sonderforschungsbereiches, fasst die Ziele des anspruchsvollen Vorhabens zusammen.

Warum sollen über fünfzig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler viele Jahre lang über Rituale forschen? Noch dazu über Rituale in verschiedenen Kulturen, Zeiten und Regionen?

Die einfachste Antwort wäre: Weil dies noch nie gemacht wurde. So erstaunlich es klingen mag, an Ritualstudien mangelt es wahrlich nicht. Auch nicht an der Universität Heidelberg, die bereits auf eine lange Tradition der Ritualforschung zurückblicken kann.

Noch nie aber wurde ein Programm aufgelegt, das Ronald Grimes bereits vor zwanzig Jahren in dem Vorwort seiner "Beginnings in Ritual Studies" skizzierte: "Ritualwissenschaft oder Ritologie ist ein neues Feld, nicht weil Rituale oder das Nachdenken über sie neu wären, sondern weil die Anstrengung, Methoden der Geistes- und Sozialwissenschaften für das Studium von Ritualen in einem transkulturellen und vergleichenden Kontext zu vereinigen, neu ist (...). Die Zeit für einen ausführlichen Vergleich, umfassendere Theorien und eine deutlichere Ritualkritik ist gekommen."

Knapp zehn Jahre später beschreibt der Soziologe Rainer E. Wiedenmann die Situation kaum anders: "Das Ritual zählt sicherlich zu den wissenschaftlichen Gegenständen, deren Erforschung lange Zeit multidisziplinär, aber insgesamt ohne ausgeprägte interdisziplinäre Koordination vorangetrieben wurde." Der neue Heidelberger Sonderforschungsbereich hat genau dies vor. Er will die Dynamik von Ritualen erforschen und hat dazu von der Deutschen Forschungsgemeinschaft über 3,5 Millionen Euro bewilligt bekommen. In das auf zwölf Jahre angelegte Projekt sind fünfzehn Fächer in siebzehn Teilgebieten eingebunden. Mit der Bewilligungssumme werden zunächst für drei Jahre über zwanzig Stellen für den akademischen Nachwuchs geschaffen. Es handelt sich um den ersten kulturwissenschaftlichen Sonderforschungsbereich an der Universität Heidelberg.

Warum sollen Rituale in einem koordinierten, fächerübergreifenden Programm untersucht werden? Auch hier ist die Antwort erstaunlich einfach: Weil nach wie vor unklar ist, wozu Rituale eigentlich notwendig sind. Bislang wurden Rituale überwiegend als angst- oder aggressionsreduzierende Verhaltensformen angesehen, um Krisen oder Konflikte zu lösen. Oder man hob die gemeinschaftsstiftenden, kontrollierenden, stabilisierenden, rebellierenden, heilenden, spielerischen oder theatralischen Aspekte hervor. Oder man sah Rituale als symbolische Botschaften, Hierophanie, beziehungsweise Zeichen des Unveränderbaren. Nicht zu sprechen von denen, die Rituale für ererbt oder schlichtweg bedeutungslos halten.

So wichtig diese Aspekte sind, so ungeklärt ist die Dynamik von Ritualen. Denn es gilt nicht nur zu fragen, wozu Rituale da sind, sondern auch wie sie entstehen und verschwinden, sich wandeln und wandern. Darin liegt der methodisch neue Ansatz der Heidelberger Forschergruppe. Victor Turner, der ethnologische Altmeister der Ritualforschung, hatte schon richtig erkannt, dass erst eine interdisziplinär ausgerichtete Forschung die für das Ritual zentrale Prozessdimension erfassen kann, weil eine disziplinär abgegrenzte Ritualanalyse die statischen Aspekte begünstige. Es gilt also, interdisziplinär nach den Bewegungen, Prozessen, Aufführungspraktiken und Strukturveränderungen von Ritualen zu fragen: Wodurch verändern sich Rituale? Wieweit müssen sie gleich bleiben, wieweit können sie in der Aufführung abgeändert werden, ohne ihre Eigenart zu verlieren? Wie wandern Rituale, wenn sie von einer Region oder Religion in eine andere transferiert werden, etwa wenn lebenszyklische Rituale nahezu unverändert von einem hinduistischen in einen buddhistischen Kontext wandern, wenn wie in Assyrien aus Privatritualen öffentliche Herrscherrituale werden, wenn einst höfische Rituale wie in Rajasthan in koloniale und republikanische Kontexte übernommen werden? Wenn Männerinitiationen wie bei den Freimaurern kaum verändert zu Fraueninitiationen werden, oder wenn amerikanische Demokratierituale in das durch den Nationalsozialismus ritualmüde Nachkriegsdeutschland importiert werden?

Diesen Fragen soll in historischer, strukturell-formaler und sozialer Hinsicht nachgegangen werden, indem in wechselnden Arbeitsgruppen die Geschichtsdynamik, Strukturdynamik und Sozialdynamik von Ritualen thematisiert wird. Mit Bezug auf die Geschichtsdynamik stehen beispielsweise die Akteure, Erfinder oder Autoren im Vordergrund des Interesses. Es geht dabei um die "inventio" oder "re-inventio" von Ritualen, aber auch um Ritualkritik. So wird in bestimmten Teilprojekten gefragt, warum Ureinwohner im Taiwan der 90er Jahre ihre Traditionen über das Internet wiederbeleben und re-konstituieren, warum bei Herrschertreffen – im alten Rom, Mittelalter oder im neuzeitlichen Rajasthan – hofzeremonielle Ostentationen oder Prozessionsumzüge zur Machtlegitimation geradezu erfunden wurden, warum seit 1979 auf Kirchentagen so genannte Feierabendmahle aufkommen (die im Jahr 2001 als häretisch verdächtigt werden) oder warum vor allem Jugendliche sich ihre Ritualcocktails schaffen – sei es im Internet oder mit Psychoactiva in der Subkultur. Da zeigt sich die Beharrlichkeit der Rituale, die sich gegen allzu starke Veränderungen sträubt.

Schaut man in die Geschichte von Ritualen, drängen sich weitere Fragen auf: Warum sind oder waren bestimmte Gesellschaften, Kulturen, Religionen oder Zeiten stärker ritualisiert als andere? Wann ist eine Ab- oder Zunahme, wann eine Ausdifferenzierung beziehungsweise Reduktion der Komplexität von Ritualen zu verzeichnen? Ist eine deritualisierte Gesellschaft völlig entzaubert oder nur anders ritualisiert, wenn sich wie im Fall des Buddhismus eine neue Religion über Ritualkritik bildet? Oder wenn sich Modernität über bewusste Ritualveränderungen bildet, etwa bei parteipolitisch umfunktionierten Pilgerfahrten in Indien, den Migrationsbewegungen marginalisierter Gruppen im Islam oder wenn die Förmlichkeit des Rituals in Frage gestellt wird wie etwa in der Walser-Bubis-Debatte beim Holocaustgedenken oder in notorischen Regelverstößen der Schriftsteller bei Literaturpreisverleihungen? Angesichts der Schwemme neuer Rituale und Ritualformen scheint die These, dass Rituale in modernen Gesellschaften schwinden, wirklich nicht aufgegangen zu sein. Im Gegenteil, es zeigen sich trotz aller Flexibilität in den Lebensformen überall neue Ritualisierungen mit einer atemberaubenden Dynamik.

Von besonderem Interesse sind Formen und Änderungen in der Abfolge von Ritualen oder ihren Phasenstrukturen. Das gilt vornehmlich für die leibzentrierten, performativen und lebenszyklischen Aspekte. So soll untersucht werden, wie in Tranceritualen in Marokko Menschen zu wölfisch Besessenen werden, wie in ägyptischen oder nepalischen Totenritualen Menschen Passagen vom Lebenden zum Dahingegangenen, Ahnen und halbgöttlichen Wesen durchlaufen, wie man in südindischen Tempel- oder in Freimaurerritualen durch Initiationen Ritualkompetenz erlangt, oder wie Tempelrituale und Prozessionen in Indien beziehungsweise der Antike oder höfische Zeremonien in Europa und Rajasthan mit großem theatralisch-performativen Pomp aufgeführt werden.

Ungeachtet aller regionaler und zeitlicher Differenzen und trotz aller terminologischen Probleme lassen sich Rituale vergleichen. Denn sie haben tatsächlich viel gemeinsam. Man muss gewiss vorsichtig mit der These umgehen, dass Rituale eine universelle Formkonstanz haben, weil sie auf einer bioanthropologischen oder gar genetischen Grundlage menschlichen Verhaltens beruhen. Auch darf man nicht leichtfertig über den vagen Begriff "Ritual" zeitlich und kulturell disparate Verhaltensformen wesenhaft vereinheitlichen. Dennoch gibt es gute Gründe, zu einer Ritualwissenschaft ("ritology") zu kommen, bei der Rituale im Sinne des Ethnologen Edmund Leachs wie eine eigene Sprache verstanden werden.

Zwar wird es schwer sein, nur historisch und teilweise lückenhaft belegte Rituale mit noch gegenwärtig praktizierten zu vergleichen. Da das Forschungsprogramm aber weite Zeiträume erfasst, ist es möglich, Lücken aufzufüllen und Ritualwanderungen sowie die Kontinuität und Diskontinuität der Rituale zu verfolgen. Hinzu kommt der synchrone Vergleich von Text und Kontext: Was die Texte sagen, wird mit der Praxis verglichen. "Ritualpaxis beschreibt das Ritual dichter als Ritualexegese", sagen zu Recht Caroline Humphrey und James Laidlaw.

Wegen der Normativität und Präskriptivität von Ritualen sind gerade die Texte wertvolle Quellen. In Kulturen, in denen eine bis auf den heutigen Tag ununterbrochene Ritual- und Texttradition besteht, kann man überprüfen, in welchem Umfang sie für die Ritualpraxis verwendet wurden und werden. Wenn dann etwa die performativen Aspekte des gesprochenen Wortes und der rituellen Sprechakte in ägyptischen Texten oder antikem Bildmaterial durch Vergleiche mit anderen kulturhistorischen Kontexten rückerschlossen, gewissermaßen wiedergewonnen werden können, dann öffnen sich diese Quellen in einem bislang unbekannten Maße.

An Quellen mangelt es wahrlich nicht: Ägyptologie, Assyriologie, Alte Geschichte, Klassische Philologie, Indologie, Religions- oder Liturgiewissenschaft besitzen mit die reichhaltigsten Sammlungen von Ritualskripten. Oft sind sie "materialiter" geradezu Ritualwissenschaften: zahlreiche ägyptische Pyramiden- und Sargtexte, ganze Bibliotheken an assyrischen Ritualtexten, "Ozeane" an Ritualtexten in Sanskrit, dreißig Bände rajasthanisches Hofprotokoll, weitläufige griechische Kultregelungen und deren Spuren an Heiligtümern oder Kultgeräten, christliche Liturgien und deren Exegese. Hinzu kommen umfangreiches Bildmaterial und empirische Datenerhebungen in der Feldforschung.

Sofern die Quellen noch nicht erschlossen sind, sollen sie in traditioneller, das heißt zunächst fachspezifischer (beispielsweise philologischer oder empirisch-sozialwissenschaftlicher) Form zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus sollen sie aber auch in vergleichsweise neuer Form aufgearbeitet werden, indem mit Hilfe elektronischer Medien semiotische Protokolle von Ritualen angefertigt werden, die dann besser vergleichbar sind. Wenn zum Beispiel das weitgehend noch unbearbeitete historische Text- und Bildmaterial mit den Augen auch jener angesehen wird, die im Feld – sei es im Orient oder in Europa – zu arbeiten gewohnt sind, wenn umgekehrt auch Textwissenschaftler Holocaust-Gedenkrituale oder Preisverleihungen nicht nur aus Texten, sondern empirisch bearbeiten, dann kann erwartet werden, dass aus Multidisziplinarität Interdisziplinarität wird.

Was soll am Ende eines so umfangreichen Forschungsprogramms stehen? Für Lévi-Strauss haben Rituale Operationen zerstückelt, ins Unendliche detailliert und unermüdlich wiederholt, um sich in einer minutiösen Flickerei der Flüssigkeit der Erfahrung entgegen zu stellen. Vielleicht ist es tatsächlich so, dass mit Ritualen versucht wird, das immer Gleiche und von den Anfängen an Bewährte zu schaffen oder zu erhalten, um dem steten Wechsel, der Dynamik des Lebens – und letztlich dem Tod – auszuweichen. Aber die Heidelberger Forschergruppe will gar nicht zu einem Gesamtverständnis von "Ritual" kommen. Sie geht – mehrheitlich – nur davon aus, dass es sich bei Ritualen um einen Handlungstyp "sui generis" handelt, vergleichbar dem Spiel oder dem Theater.

Wenn dem so ist, dann muss viel mehr als bislang die "Grammatik" dieses Handlungstyps herausgearbeitet werden. Dann müssen tatsächlich die Bausteine, die Sequenzen, die Syntax und die Morphologie formal erschlossen werden. Dies ist bislang – von unfertigen Ausnahmen wie Frits Staal abgesehen – immer nur angemahnt, nicht aber umgesetzt worden. Es muss also eine Ritualwissenschaft begründet werden, die einen tiefgreifenden Perspektiven-, um nicht zu sagen Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Ritualen bewirkt.

Mit anderen Worten: Der teils verschämte, teils merkwürdig schwammige Umgang mit Ritualen muss einer klaren Bewusstwerdung ihrer Elemente, Strukturen und Dynamik weichen. Erst dann wird man etwas über die Notwendigkeit und den Nutzen, aber auch über die Gefahren des Missbrauchs von Ritualen sagen können. Erst dann wird man in einer längerfristigen Perspektive den Austausch mit neuropsychologischen und ethologischen Disziplinen suchen, um eventuell weitere Grundlagen ritualisierten Verhaltens aufzuarbeiten. Eine Brücke hierzu bildet bereits ein Projekt der medizinischen Psychologie.

Angenommen, all dies gelänge. Was wäre dann erreicht? Viel, aber nicht alles. Denn die drei vielleicht wichtigsten Dinge des Lebens entziehen sich ohnehin dem Ritual (und auch der Wissenschaft): Glaube, Liebe und Kunst. Dennoch neigen selbst diese drei zu Ritualisierungen – wie auch die Wissenschaft, die nichts so sehr fürchten muss wie ihre Erstarrung im Ritual. Doch tröstet, dass Rituale keineswegs starr, leer, stereotyp und formalistisch sind, wie nahezu alle Ritualdefinitionen behaupten. Sie sind, im Gegenteil, ein taugliches und wohl auch notwendiges, vor allem aber höchst dynamisches Mittel, die Spannung zwischen Bewahren und Erneuern zu gestalten und zu bewältigen.

Autor:
Prof. Dr. Axel Michaels,
Südasien-Institut,
Abteilung Klassische Indologie,
Im Neuenheimer Feld 330,
69120 Heidelberg,
Telefon (06221) 548917, Fax (06221) 546338,
e-mail: axel.michaels@urz.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang