"Bioquant" – ein neues Forschungsnetz
Zu Beginn des Jahres 2002 beschloss der Ministerrat Baden-Württembergs eine Reihe von Bauvorhaben für die lebenswissenschaftliche Forschung. Unter den bewilligten Neubauten ist ein Gebäude für das Forschungsnetz "Bioquant" der Universität Heidelberg mit einer Nutzfläche von 5000 Quadratmetern. "Diese Investitionen haben Schlüsselbedeutung für die Zukunft des Forschungs- und Bildungsstandorts Baden-Württemberg", kommentierten Ministerpräsident Erwin Teufel und Wissenschaftsminister Prof. Peter Frankenberg im Anschluss an die Kabinettsitzung. Die "Ruperto Carola" sprach mit einem der Hauptakteure in Heidelberg, dem Virologen Hans-Georg Kräusslich. Was das Kompetenznetzwerk "Quantitative Analyse molekularer und zellulärer Biosysteme" – dafür steht Bioquant – erreichen will, skizziert Kräusslich im Gespräch mit Pressesprecher Michael Schwarz.
Ruperto Carola: Nach der proklamierten Entschlüsselung des menschlichen Genoms stehen wir heute am Anfang der "postgenomischen Ära" – einer Zeit, in der die Fragezeichen und das Unwissen über die tatsächliche Bedeutung der gewaltigen genetischen "Buchstaben"-Berge, die für das Leben verantwortlich sind, dominieren. Was nun vor uns liegt – darin sind sich die Forscher rund um den Globus sicher – könnte die größte Herausforderung der Menschheitsgeschichte sein. Welchen Anteil hat Bioquant daran?
Prof. Dr. Hans-Georg Kräusslich: Die biowissenschaftliche Forschung steht vor der großen Herausforderung, auf der Basis enormer Datenmengen grundlegende Mechanismen zu verstehen und Erkenntnisse über deren Ablauf zu gewinnen. In der Vergangenheit stand vor allem die Beschreibung einzelner Genfunktionen im Zentrum des Interesses. Biologische Prozesse lassen sich jedoch nur als Ergebnis der Interaktionen komplizierter molekularer und zellulärer Ensembles verstehen. Deren Funktion und Dynamik muss Thema aktueller und zukünftiger Forschung sein.
Um die durch Experiment und Beobachtung gewonnenen Daten zu analysieren, muss die Modellierung und Simulation der komplexen Prozesse hinzukommen. Für die Ebene einzelner Biomoleküle und einfacher Verbindungen sind durch molekulares Modellieren bereits wichtige Erkenntnisfortschritte erzielt worden, die nicht nur zu einem besseren quantitativen Verständnis der Wirkweise, sondern auch zu rationalem Design von Medikamenten führten. Für die höheren Systemebenen – also größere Molekülkomplexe, Zellen, Gewebe, Organe – steht die Entwicklung noch am Anfang.
Ruperto Carola: Was ist die Kernidee von Bioquant?
Kräusslich: In den experimentellen biomedizinischen Fächern kommen verstärkt moderne, auf die quantitative Beschreibung ausgerichtete Methoden der Biophysik, Biochemie und Strukturbiologie zum Einsatz. In Verbindung mit Arbeitsgruppen aus der Mathematik und Informatik soll die Modellierung komplexer Vorgänge mit großen Zahlen von wechselwirkenden Komponenten erfolgen und iterativ im Wechselspiel zwischen Experiment und Modellierung/Simulation verbessert werden. Dazu arbeiten Wissenschaftlergruppen aus zahlreichen Einzeldisziplinen integriert zusammen.
Ruperto Carola: Der Standort Heidelberg/Mannheim ist ein international führender Fokus biologischer und biomedizinischer Forschung sowie des Wissenschaftlichen Rechnens. Wie passt Bioquant in dieses Umfeld?
Räumliche Konzentration – intensive Kooperation: Im Bioquant-Gebäude sollen biowissenschaftliche Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten "über den Gang hinweg" zusammenarbeiten. |
Kräusslich: Die Universität Heidelberg verfolgt seit langem die Konzentration der Forschung in Bereichen, die für dieses Thema grundlegend sind. Mit dem Zentrum für Molekulare Biologie, dem Biochemie-Zentrum Heidelberg, dem Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften und dem Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen sind zentrale Einrichtungen mit hohem wissenschaftlichen Ruf und internationaler Bedeutung entstanden. Zusammen mit dem Schwerpunkt Infektiologie, in dem Wissenschaftler der Fakultäten Biologie und Medizin zusammenarbeiten, und den anderen biowissenschaftlichen Instituten verfügt die Universität somit über ein ausgezeichnetes Potenzial, das im Netzwerk Bioquant zusammengefasst wird.
Hinzu kommen bedeutende außeruniversitäre Forschungseinrichtungen: das Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung, das Deutsche Krebsforschungszentrum und das Europäische Laboratorium für Molekularbiologie, deren Forscher teilweise auch Mitglieder der Universität sind, nicht zuletzt ist das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim zu nennen.
Die Erfahrung zeigt, dass für die anstehenden Aufgaben ein übergreifendes Netzwerk notwendig ist, das Forschergruppen mehrerer Institutionen zusammenbringt.
Ruperto Carola: In der Ausgabe 1/2002 haben wir über eine andere Netzwerk-Initiative, die "Biomolekularen Maschinen", berichtet. Kleine Wunderwerke der Natur, nur hundert millionstel Millimeter groß. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit einer großen Zahl von Forschergruppen in und um Heidelberg. Welche Beziehung besteht zwischen diesem Netzwerk und dem von Bioquant?
Kräusslich: Fast alle Zellkomponenten agieren nicht alleine, sondern im Rahmen komplizierter Molekülorchester, die zum Beispiel den Molekültransport in der Zelle vermitteln. Für derartige funktionelle Komplexe wurde der Name "Biomolekulare Maschinen" geprägt. Die Beschreibung der Funktion und Dynamik dieser Maschinen ist ein zentrales Thema von Bioquant.
Ruperto Carola: Kristallisationskern und Kommunikationszentrum von Bioquant soll der nun bewilligte Neubau werden. Welche Bedeutung hat er für die Realisierung des inhaltlichen Konzeptes?
Kräusslich: Räumliche Konzentration ist eine wichtige Voraussetzung für intensive Kooperation. Im Bioquant-Gebäude sollen methodisch und experimentell orientierte Gruppen untergebracht werden, die sich intensiv auf gemeinsame Themenstellungen konzentrieren. Dabei sollen biowissenschaftliche Arbeitsgruppen mit Arbeitsschwerpunkten insbesondere im Bereich der molekularen Zell-, Neuro- und Infektionsbiologie mit Arbeitsgruppen aus den Bereichen Biocomputing, Mathematik und Informatik und mit methodisch orientierten Infrastrukturgruppen gewissermaßen "über den Gang hinweg" zusammenarbeiten. Diese Vernetzung über bereits existierende Strukturen hinaus wird Synergieeffekte erzielen, das vorhandene Potenzial besser nutzen und vermehren. Dies beginnt schon bei der Notwendigkeit, die jeweiligen Fragestellungen in disziplinenübergreifender Sprache zu formulieren, um so gemeinsame Ansätze zu finden. Es setzt sich fort in der Notwendigkeit, das experimentelle Rüstzeug gemeinsam zu entwickeln und zu verbessern.
Ziel von Bioquant ist also nicht die Erweiterung der Laborfläche für einzelne Arbeitsgruppen, sondern die Etablierung eines Disziplinen übergreifenden Schwerpunktes mit intensiver Kommunikationsstruktur.
Ruperto Carola: Die Auswirkungen kleinster Fehler in Bauplan und Funktion molekularer Maschinen und Zellverbände sind für den Organismus erheblich. Hat Bioquant also auch den leidenden Menschen im Blick?
Kräusslich: Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie minimale Fehler oder Veränderungen in einzelnen Komponenten die Funktion komplexer Maschinerien stören. Dies gilt für genetisch bedingte Erkrankungen, für Infektionskrankheiten und für Krebs. Grundlagenforschung im hier dargestellten Bereich kann niemals direkt auf die therapeutische Anwendung zielen. Dennoch schafft nur die innovative und konzeptorientierte Grundlagenforschung die Voraussetzung für neue therapeutische Strategien. Das gilt in besonderem Maße für die im Rahmen von Bioquant geplante quantitative Beschreibung komplexer Funktionen. Hieraus werden entscheidende Einsichten über Störungen der Prozesse und Möglichkeiten zu ihrer Regulation erwartet. Sie werden eine bessere Diagnostik, Therapie und Prophylaxe von Krankheiten ermöglichen.
Ruperto Carola: An welchen Fragestellungen arbeiten Sie derzeit in Ihrem eigenen Forschungsgebiet?
Kräusslich: Intrazellulär replizierende Infektionserreger haben sich in besonderer Weise an ihre Wirtszelle adaptiert, und das Studium der Erreger-Wirt-Wechselwirkung hat zur Aufklärung vieler grundlegender Mechanismen der Zelle geführt. Dabei war es entscheidend, dass zum Beispiel nach einer Virusinfektion definierte Veränderungen auftraten, die als erregerbedingt unterscheidbar waren und im weiteren Verlauf zur Identifizierung der analogen Zellfunktion führten.
Ähnlich ist die Situation bei der quantitativen Analyse dynamischer Vorgänge, zumal im Fall von Infektionserregern die beteiligten Komponenten – zumindest auf Erregerseite – in der Regel bekannt sind. Aktuelle Fragestellungen, die hier intensiv bearbeitet werden, betreffen die Wechselwirkung mit Komponenten des Zytoskeletts bei Eintritt und Ausschleusen des Erregers, die Interaktion und Remodellierung von Membranarealen, den Transport durch die Kernpore und die Signaltransduktion bei Infektion und Abwehr.
Intrazellulär replizierende Bakterien sowie bestimmte Viren nutzen Aktinpolymerisierung und Mikrotubuli-assoziierte Motoren für den Transport durch die Zelle, sowohl beim Viruseintritt als auch bei der Ausschleusung. HIV und einige andere umhüllte Viren – zum Beispiel das Ebolavirus – rekrutieren darüber hinaus eine komplette Zellmaschinerie, die normalerweise für intrazelluläre Vesikelknospung benötigt wird, und funktionieren sie für die Virusfreisetzung um.
Diese und viele andere Wechselwirkungen und Veränderungen sind bisher zwar als statischer Zustand – sozusagen als Fotografie – beschrieben, aber in ihrer dynamischen Entwicklung – also als "Film" – weitgehend unverstanden. Erst in jüngster Zeit wurde die quantitative Analyse der Moleküldynamik innerhalb der Zelle, der Transportgeschwindigkeiten und Verweilzeiten sowie der beteiligten Interaktionspartner experimentell zugänglich. Aus diesem Bereich sind in Zukunft entscheidende Fortschritte zu erwarten.
Analog trifft dies zu auf den Kernimport und -export viraler Komponenten, der sich vom Stadium der Beschreibung von Signalen und Faktoren zur quantitativen Analyse der Moleküldynamik in Echtzeit entwickelt. Signaltransduktion bei Infektion und Abwehr, Funktion und Regulation von Membrankanälen, subzellulärer Transport und Lokalisation von Molekülen und Molekülkomplexen und zahlreiche andere Beispiele könnten in gleicher Weise angeführt werden und werden sich ebenfalls von der statischen Zustandsbeschreibung zur komplexen Analyse der Dynamik entwickeln.
Ruperto Carola: Wird Bioquant auch Impulse für die Förderung des qualifizierten Nachwuchses geben?
Kräusslich: Ja, das ist ein besonders wichtiges und dringliches Anliegen. Ganz generell fehlt es an Nachwuchs in den Naturwissenschaften. Vor allem gilt dies für Wissenschaftler mit fächerübergreifender Ausbildung. Ohne Frage muss ein neues Forschungszentrum mit interdisziplinärer Ausrichtung hier einen Schwerpunkt setzen. Die Kommunikationsstruktur, die enge Verflechtung verschiedener Disziplinen und die hochaktuelle Fragestellung sollte dazu beitragen, junge Wissenschaftler für dieses spannende Thema zu gewinnen und im Zentrum interdisziplinär auszubilden.
Ruperto Carola: Welche Bedeutung hat Bioquant für die Zukunft des Standorts Heidelberg?
Kräusslich: Mit der Gründung des ZMBH hat sich die Universität Heidelberg als internationales Zentrum im Bereich der Molekularbiologie etabliert. Wissenschaftliche und methodische Fortschritte der letzten Jahre haben die Grundlagen für die quantitative Analyse komplexer Vorgänge in Echtzeit gelegt. Hier liegt die Zukunft der molekularen Zellbiologie. Die Realisierung dieses Potenzials wird jedoch nur in interdisziplinären Ansätzen gelingen. Bioquant bietet die Chance, Heidelberg an vorderster Front in diesem neuen Bereich zu etablieren.
Ruperto Carola: Professor Kräusslich, wir danken Ihnen für dieses Gespräch und fügen ein kleines "PS" hinzu: Das Rektorat hat mittlerweile eine Kommission eingesetzt, die gegenwärtig das konkrete wissenschaftliche Programm von Bioquant erarbeitet.