Siegel der Universität Heidelberg
Bild / picture

Was Papyri vom Alltag vor 2000 Jahren erzählen

Am 14. September 98 nach Christus wandte sich ein Mann namens Petesuchos an den Strategen Claudius Areius, um einen flüchtigen Pachtzins-Schuldner aufspüren zu lassen. Dies geht aus einem Papyrus hervor, der unter der Internetadresse aquila.papy.uni-heidelberg.de abgerufen werden kann. Papyrusforschern in aller Welt dient die Adresse als direkter Zugang zum "Heidelberger Gesamtverzeichnis der griechischen Papyrusurkunden Ägyptens" – einer Datenbank, die alle einschlägigen Texte umfasst. Dieter Hagedorn vom Institut für Papyrologie erläutert, was die erstaunliche Datenbank kann und was sie vom Leben der Menschen vor 2000 Jahren erzählt.

 
Gesamtverzeichnis
Das "Heidelberger Gesamtverzeichnis der griechischen Papyrusurkunden Ägyptens" im Internet

"Was hat sich am 14. September 98 nach Christus im Dorf Karanis in der mittelägyptischen Oase Fajjum ereignet?" "Wie viele Darlehensverträge von in Geldschwierigkeiten geratenen Personen kennen wir in den Jahren zwischen 150 und 200 nach Christus aus der benachbarten Metropole?" Wen solche Fragen bewegen, kann im Internet die Adresse aquila. papy.uni-heidelberg.de aufrufen. Über diese Adresse gelangt er zur Datenbank "Heidelberger Gesamtverzeichnis der griechischen Papyrusurkunden Ägyptens". Sie ist in den vergangenen Jahren von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am Institut für Papyrologie der Universität erarbeitet worden.

Mitte des Jahres 2000 wurde das Projekt vorläufig abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren alle in Standardpublikationen veröffentlichten einschlägigen Texte erfasst, und die Datenbank enthielt knapp 50 000 Einträge. Welchem Zweck dient die Datenbank, und für welche Benutzer ist sie konzipiert worden?

Altgriechisches Kochbuch
Ausschnitt aus dem einzigen, im Original erhaltenen altgriechischen Kochbuch (P. Heid. inv. G 1701)

Papyrus war das gebräuchlichste Schreibmaterial in allen Kulturen der antiken Mittelmeerwelt. Hergestellt in Ägypten aus den Fasern der dort einheimischen Sumpfpflanze Cyperus papyrus, wurde das Produkt weithin exportiert. Andere beschreibbare Stoffe – etwa Pergament, das vom ersten Jahrhundert nach Christus an weitere Verbreitung erlangte, oder Holz- und Wachstafeln – waren weniger bedeutend. Allenfalls die Scherben zerbrochener Tongefäße, so genannte Ostraka, die überall reichlich vorhanden waren, wurden in größerem Umfang als billiger Ersatz für Papyrus benutzt, um kurze Texte des täglichen Lebens, beispielsweise Steuerquittungen, niederzuschreiben. Etwa vom achten Jahrhundert an übernahm das Hadernpapier die Rolle, die bis dahin Papyrus inne hatte.

Einzelne Papyrusblätter, Papyrusrollen, sogar Papyrusbücher haben sich aus der Spätantike über das Mittelalter bis in die Neuzeit in den Bibliotheken Europas erhalten. Dazu kamen im 18. und frühen 19. Jahrhundert Exemplare, die Orientreisende als Kuriosität aus Ägypten mitbrachten. Aber erst seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als Europäer und Amerikaner in systematischen Ausgrabungen – aber auch Fellachen in Raubgrabungen – Jagd auf Papyri machten, setzte die Flut der Papyrusfunde ein, die unser Bild von der Antike umwälzend verändert hat.

In Mittel- und Oberägypten, wo es praktisch nie regnet, fand man viele Tausende Papyri und Ostraka. Zwischen Sand und Schutt haben sie dort die Zeiten im trockenen Milieu überdauert. Sie befinden sich heute in den Museen und Bibliotheken Ägyptens, der Alten und Neuen Welt und warten darauf, von Altertumswissenschaftlern bearbeitet zu werden.

Der größte Anteil dieser aus Ägypten stammenden Funde – und das mag manchen überraschen – ist nicht ägyptisch, sondern in griechischer Sprache beschrieben: Nach der Eroberung durch Alexander den Großen gehörte Ägypten rund 1000 Jahre dem griechischen Sprachkreis an. Unter Papyrologie wird daher, sofern keine weitere Spezifikation erfolgt, immer griechische Papyrologie verstanden. Sie ist eine Spezialdisziplin der klassischen Altertumswissenschaften.

P. Heid. inv. G 1701
Alle Bewohner eines Hauses werden am 11. März 147 n. Chr. bei den Behörden deklariert
(P. Heid. inv. G 1701)

Die Entdeckung bislang unbekannter griechischer Literaturwerke auf Papyrus erregte immer wieder großes Aufsehen. Aber nur ein verschwindend kleiner Bruchteil aller Papyri ist literarischer Natur. Die meisten Texte vermitteln uns einen Einblick in die Dinge des täglichen Lebens: Verwaltungsurkunden, Zeugnisse des Rechtslebens oder Verträge zählen zu diesen "dokumentarischen" Papyri, ebenso Privatbriefe, Rechnungen, Notizzettel, Listen von Gegenständen und dergleichen mehr. Diesen Texten, die oft auf den Tag genau datierbar sind, ist die Heidelberger Datenbank gewidmet. Sie erlaubt es dem Benutzer, rasch Informationen über eine Vielzahl von Einzelheiten einzuholen, etwa über die Art des verwendeten Beschreibstoffes, die Zeit der Niederschrift, die Herkunft innerhalb Ägyptens oder die Verfügbarkeit von Abbildungen. Wie in einer Datenbank selbstverständlich, können die verschiedenen Abfragekriterien miteinander verknüpft werden. Es lassen sich beispielsweise alle Briefe finden, die im ägyptischen Gau "Arsinoites" auf Tonscherben geschrieben wurden.

Zugegeben: Selbst Spezialisten suchen selten nach einer derart "taggenauen" Auskunft, wie sie in der Eingangsfrage formuliert ist. Die zweite, zu Beginn des Artikels gestellte Frage ist für Papyrologen, die an der Edition eines neuen Darlehensvertrages arbeiten und diesen in die wirtschaftliche Gesamtsituation der Zeit einordnen wollen, durchaus interessant. Aber auch Nachbardisziplinen wie die Alte Geschichte wissen es zu schätzen, dass alle Dokumente eines beliebigen Zeitraums bequem erfasst und dazu noch chronologisch und nach Herkunftsorten sortiert werden können – zum Beispiel bei der Stichprobe für das Jahr 117 nach Christus: An den Datierungsformeln, die den Namen des regierenden Kaisers nennen, kann man ablesen, wann sich die Nachricht von der Thronbesteigung des Kaisers Hadrian in Ägypten ausbreitete.

Was Papyrologen schon immer wussten, aber nicht beweisen konnten, lässt sich heute präzise mit Zahlen untermauern: Die Dichte der erhaltenen Zeugnisse verteilt sich nicht gleichmäßig über die Jahrhunderte, sondern es gibt markante Spitzen und Täler. Mit Hilfe der Datenbank lassen sich die Schwankungen nicht nur für Ägypten als Ganzes berechnen, sondern auch für einzelne Regionen; Berechnungen können nicht nur global für die Gesamtspanne von rund 1000 Jahren erfolgen, die durch die griechischen Papyri dokumentiert ist, sondern auch für kleinere zeitliche Abschnitte, beispielsweise innerhalb eines Jahrhunderts. Das eindeutig nachgewiesene Phänomen muss nun allerdings noch historisch erklärt werden: Wieweit spielt der Zufall der Überlieferung eine Rolle? Oder spiegelt sich in der unterschiedlichen Zahl der schriftlichen Zeugnisse ein Auf und Ab der Zivilisation? Lassen sich Krisen und Blütezeiten an den Zahlen ablesen?

Doch zurück zur Eingangsfrage. Mag sie auch nicht typisch sein – die Datenbank verweigert die Antwort nicht. Gibt man in der Suchmaske die genannten Kriterien ein, wird man finden, dass sich nach den Angaben eines Papyrus, den die University of Michigan aufbewahrt, am 14. September 98 nach Christus ein Mann namens Petesuchos und seine Brüder an den Strategen Claudius Areius gewandt haben, um einen weiteren Bruder suchen zu lassen, der sich durch Flucht der Zahlung des Pachtzinses entzogen hat. Will man den originalen Wortlaut, eine Übersetzung oder gar eine Abbildung des Papyrus sehen – kein Problem: Die Heidelberger Datenbank enthält auch Hinweise zu anderen, über das Internet verfügbaren Ressourcen. Die Datenbank funktioniert damit als umfassendes Informationssystem für nahezu alle Internet-Aktivitäten auf dem Feld der Papyrologie. Auch wer ohne papyrologische Spezialbibliothek arbeiten muss, kann viele fachspezifische Informationen schon heute über das Internet beziehen.

Friedrich Preisigke
Ein Heidelberger Wissenschaftler hat schon vor Jahrzehnten entscheidend dazu beigetragen, dass die Papyrologie als die am besten organisierte Spezialdisziplin der Klassischen Altertumswissenschaften gilt: Friedrich Preisigke (oben). Friedrich Schott (Bild unten rechts) erwarb über 1000 Papyri für die Heidelberger Sammlung.

Unter den Spezialdisziplinen der Klassischen Altertumswissenschaft gilt die Papyrologie seit je als die am besten organisierte, als diejenige, die durch leicht zu handhabende Arbeitsinstrumente auch dem Fernerstehenden den Zutritt in ihre Schatzkammern erleichtert. Dazu haben schon vor Jahrzehnten Heidelberger Wissenschaftler an prominenter Stelle beigetragen. Vor allem ein Name ist hier zu nennen: Friedrich Preisigke. Von Hause aus Telegraphendirektor im damals noch zum Deutschen Reich gehörenden Straßburg, siedelte er nach seiner frühen Pensionierung im Jahr 1915 nach Heidelberg über und entwickelte hier als Honorarprofessor eine rege wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Feld der Papyrologie. Er legte die Grundlagen für die entscheidenden Hilfsmittel, die bis auf den heutigen Tag die Arbeit der Papyrologen in aller Welt auf Schritt und Tritt begleiten.

Friedrich Schott

Das wichtigste Hilfsmittel dürfte das mehrbändige griechisch-deutsche "Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden" sein. Es schlüsselt den vom klassischen Griechisch vielfach abweichenden Sprachgebrauch der dokumentarischen Papyri auf. Für keine andere Sprache existiert ein derartiges Wörterbuch. Da es noch in Fraktur gedruckt ist, muss weltweit jedermann, der sich mit Papyrologie beschäftigen will, die deutsche Sprache beherrschen und mit dem Lesen der alten Druckschrift vertraut sein.

Ein weiteres unentbehrliches Hilfsmittel ist die "Berichtigungsliste der griechischen Papyrusurkunden aus Ägypten". Sie verzeichnet alle Verbesserungsvorschläge zu bereits veröffentlichten Texten, die von den Wissenschaftlern kontinuierlich der Fachwelt mitgeteilt werden. Die Tatsache, dass dieses Werk mittlerweile auf zehn stattliche Bände angewachsen ist, legt beredt Zeugnis davon ab, wie schwierig es ist, die oft nur fragmentarisch erhaltenen und in extrem kursiver Handschrift beschriebenen Texte zu entziffern beziehungsweise zu rekonstruieren. Es ist unvorstellbar, wie man die Masse der daher notwendig werdenden Korrekturen ohne die "Berichtigungsliste" überblicken sollte.

Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden
Das von Friedrich Preisigke verfasste "Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden" begleitet bis auf den heutigen Tag die Arbeit der Papyrologen in aller Welt.

Schließlich ist das "Sammelbuch griechischer Urkunden aus Ägypten" zu nennen. Preisigke hatte den genialen Gedanken, die zahlreichen in wissenschaftlichen Zeitschriften verstreut veröffentlichten und daher leicht in Vergessenheit geratenden griechischen Texte zu sammeln und ohne Kommentar einfach noch einmal abzudrucken, ihren Inhalt aber durch ausführliche Register zu erschließen. Ohne das monumentale, inzwischen 22 dicke Bände umfassende "Sammelbuch" wäre papyrologische Arbeit heute völlig unmöglich.

Während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit konnte die Arbeit an diesen für die papyrologische Forschung so fundamentalen Hilfsmitteln in Heidelberg, wo sie initiiert worden waren, nicht weitergeführt werden. Sie wurde von anderen Forschungsstellen – teilweise im Ausland – aufgegriffen. Mit der Schaffung des elektronischen "Heidelberger Gesamtverzeichnisses" wird nun mit neuen Mitteln und neuen Medien an die alte Tradition angeknüpft.

Schreiber mit Papyrusrolle
Schreiber mit Papyrusrolle

Dass in Heidelberg überhaupt ein Zentrum papyrologischer Forschung entstanden ist, verdanken wir dem Umstand, dass hier im ausklingenden 19. Jahrhundert der Grundstock zu einer bedeutenden Sammlung von Originalen – Papyri, Ostraka, Pergamenten und Hadernpapieren – gelegt werden konnte. Im Jahre 1897 stellte nämlich die großherzogliche Regierung Badens Mittel bereit, aus denen für die Heidelberger Universitätsbibliothek eine Papyruskollektion erworben wurde, die im Jahr zuvor der Orientalist Karl Reinhardt, Diplomat und Dragoman des Kaiserlichen Deutschen Generalkonsulats in Kairo, von einem ägyptischen Antiquitätenhändler erworben hatte. Dieser Ankauf bildete die Basis für den Aufbau der Sammlung in den folgenden Jahren und Jahrzehnten. Weitere Käufe vor dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren wurden zum Teil durch private Spenden ermöglicht.

An erster Stelle ist hier der Heidelberger Industrielle Friedrich Schott – damaliger Direktor der Portland-Zement-Werke – zu nennen. Er erwarb im Jahr 1904 aus dem Nachlass Reinhardts über 1 000 Papyri und Hadernpapiere zum Preise von 10 000 Reichsmark, um sie der Papyrussammlung der Universitätsbibliothek zu schenken. Zeitweilig erfolgten die Erwerbungen im Rahmen des so genannten "Deutschen Papyruskartells". Dazu hatten sich die an solchen Käufen interessierten deutschen Universitäten zusammengeschlossen, um nicht durch gleichzeitiges Bieten die Preise für Papyri auf dem Antiquitätenmarkt nach oben zu treiben. In den Jahren 1913/14 führten Heidelberger Forscher in den mittelägyptischen Ortschaften Qarâra und el-Hibeh eigene Grabungen durch, während deren Papyri gefunden und später in die Sammlung überführt wurden.

Ostrakon
Als billiger Ersatz für Papyrus wurden häufig die Scherben zerbrochener Tongefäße, so genannte Ostraka, benutzt. Auf ihnen wurden kurze Texte des täglichen Lebens, beispielsweise Steuerquittungen, niedergeschrieben.

Selbst in der heutigen Zeit tauchen immer wieder Papyri aus Privatsammlungen auf dem Antiquitätenmarkt auf. Durch glückliche Umstände – teilweise auf Grund privater Spenden, zum Teil auch durch öffentliche Mittel, zuletzt im Jahre 1999 durch eine großzügige Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft – konnte die Heidelberger Sammlung verschiedentlich diese Gelegenheiten wahrnehmen, um ihren Bestand zu erweitern. Mit rund 11 000 Objekten ist die Heidelberger Papyrussammlung die derzeit drittgrößte Sammlung dieser Art in Deutschland und gehört auch international zu den führenden.

Wenngleich Besichtigungen und Führungen jederzeit für ein außeruniversitäres Publikum arrangiert werden können, dient die Sammlung doch in erster Linie nicht-musealen Zielen. Ihre Erhebung zu einem eigenständigen Universitätsinstitut mit Aufgaben in Lehre und Forschung im Jahre 1952 ermöglichen es, den wissenschaftlichen Nachwuchs an die Bearbeitung der in der Sammlung aufbewahrten Objekte heranzuführen. Auf diese Weise wird die alte Heidelberger Papyrologentradition unter modernen Perspektiven bewahrt.

 

Autor:
Prof. Dr. Dieter Hagedorn
Institut für Papyrologie, Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 54 23 97, Fax (0 62 21) 54 36 79, e-mail: dieter.hagedorn@urz.uni-heidelberg.de

Seitenbearbeiter: Email
zum Seitenanfang