Siegel der Universität Heidelberg
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Faszinierende Multitalente –

Noch vor wenigen Monaten hätte außer einigen Fachleuten kaum jemand etwas von ihnen gewusst, heute beherrschen sie die täglichen Schlagzeilen: Von den Stammzellen, scheint es, sind medizinische Wunder zu erwarten. Anthony Ho von der Medizinischen Klinik der Universität Heidelberg und Konrad Beyreuther vom Zentrum für Molekulare Biologie erklären, was Stammzellen sind, wie man sie gewinnen und für welche Zwecke man sie einsetzen kann. Und sie machen darauf aufmerksam, dass vor den oft versprochenen "Wundern" noch ein steiniger Weg liegt – die Erforschung der biologischen Grundlagen.

Im Jahr 1858 begründete der deutsche Mediziner Rudolf Virchow die "Cellularpathologie". Das Revolutionäre an seinem Konzept war die Erkenntnis, dass Krankheiten auf Störungen der Zellen beruhen. Aus Virchows Cellularpathologie entwickelte sich die moderne Zelltherapie, die sich zum Ziel gesetzt hat, fehlende oder fehlerhaft funktionierende Zellen durch gesunde Zellen zu ersetzen. Grundsätzlich können für eine solche Übertragung Zellen verwendet werden, die einem fremden Individuum entstammen. Es können aber auch körpereigene Zellen für die Transplantation benutzt werden. Diese Zellen werden außerhalb des Körpers – "ex vivo" – verändert und dem Patienten danach wieder zurückgegeben. In der internistischen Onkologie ist die Transplantation von Blutstammzellen bereits seit längerer Zeit etabliert und eine Heilungschance für Krebskranke. Eine Behandlung mit eigens herangezüchteten Haut-, Knorpel- oder Leberzellen wird hingegen derzeit noch entwickelt.

Seit dem Jahr 1998 hat die Stammzellforschung einen dramatischen Aufschwung genommen. Damals gelang es dem amerikanischen Wissenschaftler James Thomson von der University of Wisconsin, Madison, aus einem sieben Tage alten menschlichen Embryo, der außerhalb des weiblichen Körpers, das heißt im Reagenzglas, "in vitro", befruchtet wurde, so genannte embryonale Stammzellen zu isolieren und aus ihnen mehrere Zell-Linien zu züchten. Aus jeder embryonalen Stammzelle können je nach Kulturbedingungen unterschiedliche Zellverbände, Gewebe und möglicherweise sogar Organe abgeleitet werden. Diese Methode eröffnete völlig neue Perspektiven für die Gewebezucht und den Organersatz. Das renommierte Wissenschaftsmagazin "Science" hat angesichts des großen therapeutischen Potenzials und der enormen Fortschritte auf diesem Wissensgebiet die Stammzellforschung zum "Durchbruch des Jahres 1999" erklärt.

Die Perspektive, Gewebe oder Organe aus embryonalen Stammzellen zu gewinnen, um kranke Organe zu ersetzen beziehungsweise fehlerhafte Organfunktionen zu beheben, lässt darauf hoffen, einige schwere, bislang nicht oder nur unbefriedigend zu behandelnde Erkrankungen in Zukunft zu heilen. Die Gewinnung von Stammzellen aus Embryonen wirft jedoch zugleich viele ethische, moralische und rechtliche Fragen auf.

Ethisch weniger strittig sind Stammzellen, die aus nicht-embryonalen, "adulten" Geweben gewonnen werden, zum Beispiel Blutstammzellen aus dem Körper eines erwachsenen Menschen. Unter speziellen Bedingungen lassen sich aus diesen adulten Stammzellen beispielsweise Muskel-, Knorpel-, Leber- oder Nervenzellen ableiten. Diese große Umwandlungsfähigkeit kann möglicherweise ausgenutzt werden, um Zellen oder Gewebeverbände für Transplantationen zu erzeugen.

Stammzellen sind Mutter- oder Meisterzellen, aus denen sich alle Zellen des Organismus ableiten. Sie zeichnen sich durch zwei Fähigkeiten aus: Sie können sich unbegrenzt vermehren beziehungsweise sich dauerhaft selbst erneuern; und sie sind fähig, hoch differenzierte Nachkommenzellen zu produzieren.

Am Beginn der Entwicklung eines Säugerorganismus steht eine einzige Stammzelle: die befruchtete "totipotente" Eizelle. Aus dieser "zu allem fähigen" Zelle entwickeln sich die mehr als 200 unterschiedliche Zelltypen des menschlichen Organismus. Zwischen der totipotenten Stammzelle und den ausgereiften, spezialisierten ("differenzierten") Zellen, die sich zu einem Organ mit einer bestimmten Funktion zusammenschließen, gibt es viele Entwicklungsstadien. Aus totipotenten Stammzellen entwickeln sich zunächst so genannte pluripotente Stammzellen (nach dem Griechischen "zu vielem fähig": die Zellen können sich nicht mehr zu allen Zelltypen, aber noch zu sehr vielen entwickeln) und aus diesen Vorläuferzellen. Auch diese sind noch fähig, sich in verschiedene andere Zellsysteme zu entwickeln. Erst am Ende dieser Entwicklungsstufen finden sich die endgültig differenzierten Zellen, die verschiedenste Organsysteme bilden. Zusammengefasst bedeutet dies: Nur aus totipotenten Stammzellen kann sich ein vollständiges, lebensfähiges Individuum entwickeln. Pluripotente Stammzellen entwickeln sich "nur" zu Geweben oder Organen.

Die Stammzellforschung begann mit der Entdeckung der Blutstammzellen im Jahr 1963. Die kanadischen Wissenschaftler James Till, Ernest McCulloch und Lou Siminovitch konnten bei Mäusen erstmals beweisen, dass pluripotente Blutstammzellen im Knochenmark existieren. Mit ihren Versuchen zeigten sie, dass sich aus Knochenmark-Zellen sowohl Kolonien von weißen als auch von roten Blutkörperchen ableiten lassen.

Neuerdings wurden Stammzellen auch in Geweben gefunden, die normalerweise eine nur begrenzte Regeneration aufweisen, etwa Gehirn und Leber. Diese gewebespezifischen oder "somatischen" Stammzellen können manchmal an ihrem Aussehen und an ihrem "Standort" – zum Beispiel Stammzellen in Gehirn oder Leber – erkannt werden. In vielen anderen Geweben können die Stammzellen jedoch nur sehr unpräzise geortet werden. Um sie zu finden, bedarf es immunologischer und molekularer Marker.

Abb. 1 Die Bilderreihe zeigt, wie aus einer blutbildenden Stammzelle verschiedene Blutzell-Typen hervorgehen. Unter geeigneten Kultuerbedingungen vermehrt sich die Stammzelle, und es entstehen zunächst Tausende blutbildender Vorläuferzellen. Aus diesen "Blasten" reifen – jeweils nach Zugabe bestimmter Wachstumsfaktoren – Zellen mit definierten Aufgaben heran, etwa weiße Blutkörperchen (2), Vorstufen roter Blutkörperchen (3) oder gemischte Kolonien aus roten und weißen Vorstufen (4). Es können auch wieder Blasten (5) entstehen, die wiederum Kolonien aller Zellreihen abgeben können.
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5

Die blutbildenden – hämatopoetischen – Stammzellen sind beispielsweise durch mehrere Oberflächenmerkmale charakterisiert, besonders durch CD34, Thy-1, AC133 und HLA-DR. Andere Merkmale, so genannte Differenzierungsmarker, finden sich hingegen nicht. Ein besonders interessanter Differenzierungsmarker ist CD38. Unseren Studien nach ist bei den meisten hämatopoetischen Stammzellen das Oberflächenmerkmal CD34 zu finden (CD34-positive Zellen), der Differenzierungsmarker CD38 hingegen fehlt (CD38-negative Zellen). Mit Hilfe eines Zellsortierers, der bis zu fünf charakteristische Oberflächenmarker erkennen kann, sind wir heute in der Lage, pluripotente Stammzellen von reiferen Vorstufen zu trennen und anzureichern.

Unter den hämatopoetischen Stammzellen unterscheiden wir die so genannten "Langzeit"-hämatopoetischen Stammzellen von den "kurzfristigen" hämatopoetischen Stammzellen. Die "Langzeit"- Stammzellen sind dafür verantwortlich, dass der Stammzellpool während des ganzen Lebens erhalten bleibt. Die "Kurzzeit"-Stammzellen sind für die rasche Rekonstitution nach einer Stammzelltransplantation zuständig: Aus einem gemeinsamen Myeloidprogenitor entwickeln sich die Granulozyten, Monozyten, rote Vorstufen und Blutplättchen. Und aus dem gemeinsamen lymphatischen Progenitor leiten sich die T-Zellen, B-Zellen und die so genannten Natural-Killerzellen ab.

Die Differenzierungswege, die eine Blutstammzelle nimmt, lassen sich im Labor präzise verfolgen und charakterisieren. Das ist ein faszinierendes System. Jeden Tag sterben Milliarden weißer und roter Blutkörperchen ab, die ersetzt werden müssen. Bei der Leukämie kommt es zu einem so genannten Differenzierungsblock: Die Vorläuferzellen können nicht mehr ausreifen und teilen sich unaufhaltsam. Die normale Blutbildung wird zurückgedrängt.

Blutstammzellen finden sich hauptsächlich im Knochenmark. Schon seit 40 Jahren werden Stammzellen, die aus dem Knochenmark isoliert wurden, in der Klinik verwendet, um Krankheiten zu behandeln, beispielsweise Leukämien. Dazu wird Leukämiekranken, deren eigenes Knochenmark durch Chemotherapie und Bestrahlung zerstört ist, das Knochenmark eines gesunden Menschen übertragen (allogene Transplantation).

Wer als Spender in Frage kommt, hängt davon ab, ob bestimmte Merkmale seiner weißen Blutkörperchen mit denen des Empfängers übereinstimmen. Wir überprüfen dazu so genannte HLA-Merkmale, die zur Hälfte vom Vater und zur Hälfte von der Mutter vererbt werden. Die Chance, dass die Merkmale der weißen Blutkörperchen eines Geschwister passt, beträgt etwa 25 Prozent. Bei den heute in der Bundesrepublik häufigen Kleinfamilien mit durchschnittlich 1,2 Kindern, ist es sehr schwierig, unter Geschwistern einen geeigneten Spender zu finden.

Deshalb wurde weltweit ein Datenbank-System freiwilliger Knochenmarkspender aufgebaut. In der Bundesrepublik haben wir rund zwei Millionen freiwillige Knochenmarkspender, deren Leukozyten-Merkmale in einer Computerdatei gespeichert sind. Für einen krebskranken Bundesbürger liegt die Chance, einen nicht-verwandten Spender zu finden, derzeit bei 80 bis 90 Prozent. Wenn das Knochenmark nicht von Krebszellen befallen ist, können auch das patienteneigene Knochenmark ("autologes" Knochenmark) oder die patienteneigenen Blutstammzellen als Transplantat verwendet werden. Hier gilt das therapeutische Prinzip der Dosisintensität: Wir verabreichen eine hoch dosierte Chemotherapie, mit der wir alle Tumorzellen zerstören können – leider zerstören wir damit auch das Knochenmark. Wenn wir aber vorher patienteneigenes Knochenmark oder Blutstammzellen "sichergestellt" haben, können wir nach der heilenden Chemotherapie durch die Transplantation des patienteneigenen Knochenmarks das blutbildende System wiederherstellen.

Wie aus Stammzelen Neuronen werden

Wir haben in Heidelberg seit 1982 eine Knochenmark- beziehungsweise Blutstammzell-Transplantationseinheit errichtet. Erst die Stammzelltransplantation hat es möglich gemacht, Leukämie und andere Krebsarten in der erforderlichen Radikalität zu bekämpfen – denn nur durch die Transplantation kann das blutbildende System des Kranken wiederhergestellt werden. Wir erforschen derzeit intensiv die Ausreifung von Stammzellen aus anderen Geweben. Wahrscheinlich verläuft sie ähnlich wie bei den Blutstammzellen, weshalb deren Ausreifung als Modell dienen kann. Es gibt Hinweise dafür, dass sich aus Blutstammzellen unter speziellen Bedingungen auch Zellen und Gewebe anderer Organsysteme herleiten lassen: Sie haben außerdem die Eigenschaft des "Homings" – sie wandern dorthin, wo sie gebraucht werden.

Die Erkenntnisse der Stammzellforschung in den letzten beiden Jahren lassen auf den Beginn einer neuen Ära der regenerativen Medizin hoffen. Vermutlich können durch geeignete Manipulationen im Reagenzglas aus dem "Rohstoff" Stammzelle eines Tages Knorpel-, Leber- oder Nervenzellen gezüchtet werden. Diese eignen sich zur Transplantation bei Patienten mit Gelenkerkrankungen, Leberversagen, Alzheimer, Parkinson, Schlaganfall oder Querschnittslähmungen.

Der "Rohstoff" Stammzelle kann auf mindestens drei Wegen gewonnen werden (siehe Abbildungen auf Seite 32). Das größte Potenzial besitzen wahrscheinlich Zellen aus Blastozyten, das heißt die Zellen aus sieben Tage alten Embryonen. Auch aus den Keimzellen von Föten, die aus medizinischen Gründen abgetrieben werden mussten, können pluripotente Stammzellen gewonnen werden. Unsere eigenen Untersuchungen haben gezeigt, dass Blutstammzellen, beispielsweise aus fötalem Knochenmark oder aus der fötalen Leber, ein höheres Regenerationspotenzial aufweisen als Blutstammzellen aus Erwachsenen-Knochenmark.

In jüngster Zeit hat sich herausgestellt, dass Stammzellen aus dem Knochenmark Erwachsener (adulte Stammzellen) nicht nur neue Blutzellen, sondern auch Knochen-, Knorpel-, Sehnen-, Muskel- und Leberzellen hervorbringen können. Selbst die Bildung von Nervenzellen wurde berichtet. Bei Versuchen an Mäusen hat sich bereits erwiesen, dass sich mit Knochenmarkzellen ein ansonsten tödlich verlaufender Leberschaden beheben lässt. Auf der Jahrestagung der amerikanischen Gesellschaft für Hämatologie in San Francisco im vergangenen Jahr berichtete eine Arbeitsgruppe sogar, dass sie Herzmuskelgewebe, das nach einem Herzinfarkt zugrunde gegangen war, regenerieren konnte, indem sie Blutstammzellen in die vom Infarkt betroffene Region des Herzens injizierten. Noch sind den Forschern die meisten Versuche bisher jedoch nur im Tiermodell gelungen.

Wir arbeiten in Heidelberg an der "Umprogrammierung" der Blutstammzellen in Stammzellen des Nervensystems (neurale Stammzellen). Wie wir wissen, hängt die Entwicklungs- oder Umwandlungsfähigkeit einer pluripotenten Stammzelle von genetischen und von Umgebungsfaktoren ab. Nach unseren Vorarbeiten bestimmen humorale, zytoplasmatische und zelluläre Einflüsse das Schicksal einer Stammzelle. Zur Zeit untersuchen wir, welche optimalen Bedingungen im Reagenzglas geschaffen werden müssen, um hämatopoetische Stammzellen zu Stammzellen anderer Organe umzuprogrammieren. Weil sie leicht zugänglich sind, bieten sich Stammzellen aus dem Knochenmark theoretisch als potenzielle Quelle für viele Gewebe oder Organe an.

Die bisherigen Forschungsergebnisse zeigen, dass das Knochenmark ein breites Spektrum von Stammzellen verschiedener Entwicklungsstadien enthält. Blutbildende Stammzellen sind jedoch eine verschwindend kleine Minderheit; pluripotente Stammzellen gibt es noch weniger – ihr Anteil an den Zellen des Knochenmarks beträgt etwa 0,001 bis 0,01 Prozent. Hinzu kommt, dass die Selbsterneuerungskapazität adulter Stammzellen beim Menschen sehr beschränkt ist. Es ist daher fraglich, ob die theoretisch sehr interessante Alternative, verschiedene Zelltypen aus Stammzellen des Knochenmarks zu gewinnen, für den klinischen Einsatz bedeutend werden wird. Embryonale Stammzellen haben ein vielfach höhere Potenzial. Sie besitzen außerdem eine fast unerschöpfliche Fähigkeit, sich selbst zu erneuern. Beim derzeitigen Stand der Forschung sollten wir alle Wege offen halten, anstatt uns auf eine feste Strategie der Stammzellforschung einschließlich embryonaler Stammzellen zu beschränken.

Autoren:
Prof. Dr. Anthony Ho
Medizinische Klinik und Poliklinik V, Universität Heidelberg, Hospitalstraße 3, 69115 Heidelberg;
Prof. Dr. Konrad Beyreuther
Zentrum für Molekulare Biologie, Im Neuenheimer Feld 282, 69115 Heidelberg

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