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Indien: Bauerndemokratie und politische Elite

Indien – die größte Demokratie der Welt – erlebt zurzeit eine Phase der Instabilität. Die Parteienlandschaft ist zerklüftet. Manche Bundesländer werden von Regionalparteien beherrscht. Die Bundesregierung wird von einer zusammengewürfelten Koalition getragen. Doch die indische Demokratie hat sich immer wieder als vital erwiesen. Dietmar Rothermund vom Südasien-Institut schildert, wie die indische Demokratie diese Spannkraft gewonnen hat und wie sie weiterhin bewahrt werden kann.

In seiner Untersuchung der sozialen Ursprünge von Demokratie und Diktatur hat Barrington Moore (Social Origins of Dictatorship and Democracy. Lord and Peasant in the Making of the Modern World, Boston 1966) die Frage aufgeworfen, wie in Indien ohne bürgerliche Revolution eine Demokratie entstehen konnte. Eine Bauernrevolution wie in China hätte letztlich zur Diktatur einer kommunistischen Partei führen müssen. Moore konnte das indische Rätsel nicht lösen. Die Literatur, die ihm zur Verfügung stand, bestärkte ihn in der Annahme, die britischen Kolonialherren hätten allein die Grundherren als soziale Basis ihrer Herrschaft herangezogen.

Doch bereits im späten 19. Jahrhundert stärkten die Briten mit Pächterschutzgesetzen und anderen Maßnahmen die reichere Bauernschaft. Als diese in den 1930er Jahren auch das Wahlrecht bekam, konnten die Briten hoffen, von den Bauern unterstützt zu werden und so ein Gegengewicht gegen die Nationalisten zu finden. Doch die Weltwirtschaftskrise trieb dann die Bauern in die Arme des Nationalkongresses, der durch Mahatma Gandhis Einsatz darauf vorbereitet war, sich ihrer Nöte anzunehmen. Der Nationalkongress blieb auch im unabhängigen Indien eine Bauernpartei. Nach einer im wahren Sinne des Wortes "oberflächlichen" Bodenreform, die nur die Rechte der großen Grundherren eliminierte, aber die der reichen Bauern nicht antastete, folgten keine weiteren wirksamen Reformmaßnahmen. Die Gesetze zur Begrenzung des Bodeneigentums der reichen Bauern blieben auf dem Papier, weil es an Grundbüchern fehlte. Die Grundsteuerkataster bezogen sich lediglich auf Steuernummern. Wem der Boden gehörte, war der Steuerbehörde gleichgültig. Irgendjemand würde die Steuer schon bezahlen, damit das Land nicht durch Zwangsversteigerung verloren ging.

Die Weltwirtschaftskrise ruinierte das britisch-indische Grundsteuersystem. Es war so angelegt, dass die Steuer langfristig dem Preisanstieg angepasst wurde. Unter dem Einfluss der Krise verzichtete man auf eine solche Anpassung – und dabei ist es bis heute geblieben. Die Inflation hat inzwischen die Grundsteuerbeträge so sehr reduziert, dass die Kosten der Einziehung höher sind als der Steuerertrag. Die Steuer wird aber nicht abgeschafft, weil für die Bauern die Steuerquittungen meist der einzige Nachweis des rechtmäßigen Besitzes ihres Bodens sind.

Nun könnte man meinen, dass sich dann ja auch nachweisen ließe, ob der Bauer mehr Land hat, als er nach dem Gesetz haben dürfte. Doch bei den Namenseintragungen kann man mogeln, solange man nur gewissenhaft die Steuer entrichtet. In der indischen Bauerndemokratie werden die Bauern vom Staat nicht zur Kasse gebeten. Das betrifft nicht nur die Steuern. Wer sein Feld mit einer elektrisch betriebenen Pumpe bewässert, lässt oft die Elektrizitätsrechnungen unbezahlt. Wer einen staatlichen Kredit bekommen hat, nimmt es meist weder mit dem Schuldendienst noch mit der Rückzahlung sehr genau, denn irgendwann wird im Wahlkampf wieder ein Schuldenmoratorium verkündet.

Europäer haben keinen Grund, diese "Bauerndemokratie" zu kritisieren, denn auch bei uns trägt die Landwirtschaft wenig zum Steueraufkommen bei, verschlingt aber hohe Subsidien. Doch während unsere Landwirtschaft marginal ist, stellt die indische noch zwei Drittel aller Arbeitsplätze, trägt aber kaum ein Drittel zum Sozialprodukt bei. Dieses Produktivitätsgefälle macht das ländliche Indien zum Hort der Armut.

Indiens erster Premierminister Jawaharlal Nehru war sehr darauf bedacht, die Unterstützung der Bauern nicht zu verlieren. Als er zu weit nach links abwich, um den Kommunisten den Wind aus den Segeln zu nehmen und dabei 1955 sogar eine kollektive Landbewirtschaftung empfahl, wurde bald darauf die Swatantra-Partei gegründet, die dagegen protestierte und die Stimmen der reichen Bauern gewann. Nehru korrigierte prompt den Kurs seiner Partei und jagte der Swatantra-Partei die bäuerlichen Wähler wieder ab.

Gestützt auf die Bauerndemokratie, konnte Nehru eine forcierte Industrialisierung betreiben, mit der er hoffte, schließlich auch die traditionelle Landwirtschaft mitzureißen. Die Lehren vom ungleichgewichtigen Wachstum, die damals in Mode waren, bestätigten ihn darin. Wenn man nur genügend Kapital in die staatliche Schwerindustrie investierte, dann müsste bald der "take-off" erreicht sein.

Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Nach Nehrus Tod erlebte Indien eine Krise der Agrarproduktion und eine lange industrielle Rezession. Als sich die Landwirtschaft im Zeichen der "Grünen Revolution" erholte, kam dies zumeist einer Oberschicht reicher Bauern zugute. Mit der Überwindung der industriellen Rezession stieg eine städtische Mittelschicht auf. Die sozialen Grenzen zwischen diesen beiden Schichten verwischten sich, weil mehr und mehr reiche Bauern zumindest einen ihrer Söhne studieren ließen, um die Einkünfte der Familie zu diversifizieren. Außerdem ist ein studierter Sohn ein guter Verhandlungspartner, wenn es darum geht, Kredite und Subsidien zu bekommen.

Im Zeichen dieses Wandels veränderte sich die soziale Basis der indischen Demokratie. Während sich Nehru auf die Bauerndemokratie verlassen konnte und das Mehrheitswahlrecht sich so auswirkte, dass es allein seine Partei begünstigte, fanden seine Nachfolger es schwer, diese Position zu halten. Anderswo hat das Mehrheitswahlrecht zum Zweiparteiensystem geführt, nicht aber in Indien, wo eine gespaltene Opposition stets der Kongresspartei zum Sieg verhalf. Die Tatsache, dass bis zu den Wahlen von 1967 Bundes- und Landtagswahlen zu gleicher Zeit im ganzen Lande stattfanden und die Landesregierungen ebenfalls von der Kongresspartei gestellt wurden, trug wesentlich dazu bei, dass das "Kongress-System" so lange erhalten blieb.

Als Indira Gandhi 1966 Premierministerin wurde und schon ein Jahr darauf eine Wahl zu bestehen hatte, merkte sie bald, dass sie sich auf das alte System nicht mehr verlassen konnte. Sie spaltete dann die Kongresspartei, entledigte sich ihrer konservativen "alten Garde" und koppelte 1971 durch eine vorgezogene Bundestagswahl diese ein für allemal von den Landtagswahlen ab. Mit der Losung "Schlagt die Armut" führte sie einen populistisch-plebiszitären Wahlkampf und versuchte, vor allem auch die in ihrer Mehrzahl armen Muslims (elf Prozent der Bevölkerung) und die ebenfalls armen Unberührbaren (circa 30 Prozent) für sich zu begeistern. Sie hatte damit im Frühjahr 1971 einen großen Erfolg und stand auf der Höhe ihrer Macht.

Doch sie hatte so der bisher von Trägheitsmomenten stabilisierten indischen Demokratie eine neue Dynamik verliehen, die sich nicht unbedingt zu ihren Gunsten auswirken musste. Ohne es zu wollen, hatte sie die föderale Vielfalt Indiens gefördert, denn in den von den nationalen Wahlen abgekoppelten Landtagswahlen konnten sich regionale Parteien profilieren.

Die plebiszitäre Gestaltung der nationalen Wahlen bewirkte zugleich, dass das Pendel ungebremst durch das Trägheitsmoment der Landtagswahlen in die Gegenrichtung ausschlagen konnte, was denn auch 1977 geschah, als die Kongresspartei die erste Niederlage auf nationaler Ebene erlitt. Das Mehrheitswahlrecht verstärkt den Ausschlag des Pendels enorm. Schon Stimmverluste von drei bis vier Prozent können bewirken, dass sich eine komfortable Mehrheit in eine regierungsunfähige Minderheit verwandelt, es sei denn, man bildet eine Koalitionsregierung. Doch davor scheute die Kongresspartei zurück, da sie stets von Dreieckswahlkämpfen profitiert hatte und beim Koalieren mit einem Partner aus der einen oder der anderen Ecke diese Konstellation ein für allemal zerstören würde.

Die aus diversen Oppositionsparteien lose zusammengefügte Janata-Partei, die 1977 mit Premierminister Morarji Desai, einem Mann der "alten Garde", die Regierungsverantwortung übernahm, schien zunächst auf dem besten Wege zu sein, ein Zweiparteiensystem in Indien zu etablieren. Doch Indira Gandhi trat als Oppositionsführerin gar nicht in Erscheinung, spaltete die Kongresspartei nochmals und schien völlig ins Abseits zu geraten. Das gab der Janata-Partei die Chance, sich in internen Querelen zu verzehren. Morarji Desai trat 1979 zurück, Anfang 1980 erfolgten Neuwahlen, die Indira Gandhi nach einen intensiven Wahlkampf haushoch gewann.

Im Jahrzehnt von 1971 bis 1981 war das indische Wahlvolk kräftig "aufgemischt" worden. Seine Entscheidungen wurden unberechenbarer. In Bundes- und Landtagswahlen konnten die Wähler ganz verschieden reagieren. Das erregte den Unmut Indira Gandhis, die behauptete, die Wähler hätten dadurch, dass sie ihr den Wahlsieg verliehen hatten, gezeigt, dass die Landesregierungen anderer Parteien ihr Mandat verloren hatten. Die Wähler bewiesen ihr in mehreren Bundesländern, dass sie sich darin irrte.

Sie brachten Ministerpräsidenten an die Macht, die Indira Gandhi die Stirn boten, eine gerechtere Verteilung der Steuereinkünfte auf Bund und Länder einklagten und auch sonst sehr aufmüpfig waren. Kaschmir, der Panjab, Andhra Pradesh und Karnataka bereiteten je auf ihre Weise der Premierministerin große Sorgen. Die Konfrontation mit den Sikhs im Panjab kostete Indira Gandhi schließlich das Leben.

Im Panjab war eine Generation zorniger junger Männer herangewachsen, die ihre Zukunftschancen schwinden sahen, gerade weil sie in der Dekade der "Grünen Revolution" aufgewachsen waren, in der ihr Bundesland führend gewesen war. In Indien sind es nicht die Ärmsten der Armen, sondern die, denen es vergleichsweise gut geht, die am ehesten zur Rebellion neigen. Ein radikaler Sikhismus fand unter der jungen Generation gewaltbereite Anhänger. In ihrem Bemühen, die Reihen der Sikhs zu spalten, setzte Indira Gandhi ausgerechnet auf den militantesten Führer, der dann den Goldenen Tempel der Sikhs mit seinen Anhängern besetzte und die Bundesregierung dazu herausforderte, den Tempel unter Einsatz der Armee zu räumen. Als Rache dafür wurde Indira Gandhi im Oktober 1984 von ihren Sikh-Leibwächtern erschossen. Der Staatspräsident, der auch ein Sikh war und um sein Leben bangen musste, ernannte noch an ihrem Todestag ihren Sohn zum Premierminister und setzte sich damit über alle parlamentarischen Konventionen hinweg.

Ohne den Tod der Mutter wäre Rajiv Gandhi nie zu dieser Ehre gekommen. Er hatte sich nie für Politik interessiert und sich nur auf Drängen der Mutter politisch engagiert. Nun wollte er sich jedoch rasch durch eine Wahl legitimieren, die er Ende 1984 haushoch gewann. Er war kein charismatischer Führer; nur der Mitleidsbonus kam ihm zugute. Seine Regierungszeit war von einem gewissen Wirtschaftswachstum gekennzeichnet, doch dieses stabilisierte die Gesellschaft nicht, sondern setzte einen Gärungsprozess in Gang. Der junge Premierminister verkündete kühn, er wolle Indien ins 21. Jahrhundert führen und auf den globalen Wettbewerb vorbereiten, aber er war dieser Aufgabe nicht gewachsen. Er verlor die Wahl von 1989, und seine Regierung wurde durch eine labile Minderheitsregierung abgelöst.

Der neue Premierminister V.P. Singh unternahm einen verzweifelten Versuch, seiner Regierung eine neue soziale Basis zu schaffen, indem er die bisher nur für die Unberührbaren gedachten Reservierungen von Stellen im öffentlichen Dienst auf "weitere rückständige Kasten" (Other Backward Castes= OBC) ausdehnte. Damit erregte er den Zorn der jungen Männer aus den höheren Kasten, die ihre Zukunftschancen schwinden sahen. Einige von ihnen verbrannten sich bei lebendigem Leibe, um gegen diese Maßnahme zu demonstrieren. Diese Reaktion kam der rechten Bharatiya Janata-Partei (BJP) zugute, die in erster Linie die Interessen der höheren Kasten vertritt. Sie hütete sich jedoch, die Reservierungen direkt anzugreifen, um die OBCs nicht zu verprellen, sondern betonte stattdessen den Hindu-Nationalismus.

Singh hatte 1989 der BJP durch Wahlabsprachen eine beträchtliche Zahl von Parlamentssitzen zugeschanzt, um die Kongresspartei aus dem Feld zu schlagen. Die BJP unterstützte seine Regierung jedoch nur "von außen". Singh verlor diese Unterstützung, als er im Oktober den Präsidenten der BJP verhaften lassen musste, der eine Kampagne der Hindu-Nationalisten anführte. Singhs Regierung wurde von einer weiteren Minderheitsregierung abgelöst, die diesmal von der Kongresspartei "von außen" unterstützt wurde. Im Sommer 1991 gelang es der Kongresspartei, bei Neuwahlen genügend Stimmen zu erlangen, um wieder an die Macht zu kommen.

Die neue Regierung leitete eine energische Wirtschaftsreformpolitik ein, verlor aber gegen Ende ihrer Amtsperiode die Courage und versuchte, ihre soziale Basis durch populistische Mittel zu halten. Die große Masse der Wähler – insbesondere auf dem Lande – profitierte nicht unmittelbar von der Reform und gab der Kongresspartei 1996 den Laufpass. Die BJP konnte ihre Position verbessern und versuchte eine Koalitionsregierung zu bilden, was ihr jedoch nicht gelang.

Nun schlug die Stunde der Regionalparteien, die eine "Nationale Front" bildeten, in der mehr als ein Dutzend Parteien vertreten war. Zu diesen Regionalparteien zählten solche, die sich auf je ein Bundesland beschränkten (zum Beispiel die Telugu Desam-Partei von Andhra Pradesh), aber auch Parteien mit ursprünglich nationalem Anspruch, die nur in einem Bundesland eine Hochburg hatten (zum Beispiel die "Communist Party Marxist" in West-Bengalen). Doch diese "Dritte Kraft" war allein nicht stark genug, sondern musste sich wiederum von der Kongresspartei "von außen" unterstützen lassen.

Im Frühjahr 1998 beendete die Kongresspartei diese Unterstützung, weil sie hoffte, nun eine Wahl gewinnen zu können. Doch das gelang ihr wieder nicht, und diesmal konnte die BJP eine Koalitionsregierung bilden, die zwar schon ein Jahr später stürzte, aber nach einer Neuwahl wieder eine Koalition zusammenbekommen konnte.

In beiden Fällen hätte auch die Kongresspartei den Versuch machen können, eine Koalition zu bilden, aber sie tat es aus den bereits erwähnten Gründen nicht. Die BJP, die als "rechtsaußen" gilt, braucht nicht zu befürchten, sich durch Koalitionen zu kompromittieren. Außerdem hatte sie eine sehr geschickte Politik der Wahlabsprachen verfolgt, durch die in den einzelnen Wahlkreisen ein Zweiparteiensystem "simuliert" wurde.

Kongresspartei und BJP erhielten 1999 je circa 25 Prozent der Stimmen, doch während die Kongresspartei auch nur ein Viertel der Sitze erhielt, eroberte die BJP etwa ein Drittel. Die Regionalparteien zeigten weiterhin ein beachtliches Wachstum, doch mehrere von ihnen koalierten mit der BJP oder unterstützten sie "von außen".

Die Parteienlandschaft reflektiert eine Fragmentierung der sozialen Basis, doch die indische Demokratie ist dadurch nicht unmittelbar gefährdet, solange der demokratische Prozess selbst nicht in Frage gestellt wird und Machtwechsel – und nun auch Koalitionsbildungen – unbehindert vollzogen werden. Die politische Elite ist dabei nach wie vor auf die Bauerndemokratie angewiesen.

Autor:
Prof. Dr. Dietmar Rothermund
Südasien-Institut, Im Neuenheimer Feld 330, 69120 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 89 09, Fax (0 62 21) 54 63 81, e-mail: rotherm@sai.uni-heidelberg.de

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