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Religionen im Internet

Das Internet ist die größte kommunikationstechnische Innovation und Herausforderung unserer Zeit. Strukturen von Regierungsformen und Management haben sich durch das Netz verändert, e-learning, e-commerce, e-banking... gehören zum Vokabular unserer Zeit. Doch auch Religionen – und besonders Formen neuer Religiosität – haben an dieser Entwicklung erheblichen Anteil. "Deshalb braucht es Wissenschaften, die sich analytisch mit dem Phänomen Internet und seinen kulturellen, religiösen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Implikationen auseinandersetzen", sagt Gregor Ahn, der an der Universität Heidelberg das Fach Religionswissenschaft vertritt und im Dezember mit dem Landeslehrpreis 2000 ausgezeichnet wurde. "Die Religionswissenschaft ist eine von diesen Disziplinen", hebt der 42-Jährige im Interview mit Pressesprecher Michael Schwarz hervor.

Wie werten Sie das Internet und die Auswirkungen auf Ihr Fach?
Ahn: Die Geschichte des Internet beginnt wie ein Thriller von Alfred Hitchcock: 1969 wurde im Auftrag des Pentagon das so genannte Arpanet, eine technische Vorstufe des späteren Internet, als eine Art kommunikativer Geheimwaffe im Kalten Krieg entwickelt. Ziel des Projekts war es, ein Kommunikationssystem aufzubauen, das selbst nach einem Atomwaffenschlag gegen die USA noch funktionstüchtig war. Niemand hätte damals ahnen können, dass etwa 30 Jahre später Millionen von Zivilisten, die noch dazu über allenfalls marginale Programmierkenntnisse verfügen, mit dieser Technik Home-Banking betreiben, Autos nach digitaler Ansicht ordern, für ihren Betrieb Werbung machen oder ihre privaten Ansichten – und darunter auch die religiösen – einer neuen, "virtuellen" Form von Öffentlichkeit präsentieren. Das Internet ist damit zu einer wichtigen und bislang noch kaum wahrgenommenen Quelle für die aktuelle Religionsforschung geworden.

Vatikan-Website

Sie haben bei der Verleihung des Landeslehrpreises in einem Vortrag eindrucksvoll dargelegt, wie sich religiöse Inhalte im weitesten Sinn explosionsartig im Internet verbreiten. Die "Suchmaschinen" ermittelten 48 nachweisbare Vorkommen für Homepages mit dem Begriff "religion" im Jahr 1991 und mehr als 6,5 Millionen im Dezember 2000. Den tradierten Kirchen bleiben die Gläubigen weg – und im Internet explodiert neue Frömmigkeit?
Ahn: Die Statistik der sich inzwischen über gut zehn Jahre erstreckenden Geschichte des Internet belegt tatsächlich für den Sektor "Religion" eine regelrechte Sensationsstory. Auch wenn es sich dabei sicherlich nicht in allen Fällen um Seiten mit religiösem Inhalt handelt, belegen die exponentiell angestiegenen Zuwachsraten doch, dass das Internet sich inzwischen als eine ernst zu nehmende Plattform für zeitgenössische religiöse Selbstdarstellungen etabliert hat.

Jeder Anbieter kann im Netz seine individuellen religiösen Ansichten präsentieren und dafür Werbung betreiben. Wie werten Sie die verwirrende Vielfalt voneinander abweichender religiöser Inhalte im Netz?
Ahn: De facto ist dadurch ein Markt eröffnet worden, auf dem viele neue heterodoxe Positionen gleichberechtigt neben die "Orthodoxien" der wenigen großen religiösen Traditionen und Institutionen getreten sind. Hier finden sich ebenso muslimische Frauenorganisationen wie Christen, die an Reinkarnation glauben und mit Hilfe von Astrologie ihre Zukunft zu bestimmen suchen. Dennoch führt das Internet keineswegs zu einer endgültigen Fragmentarisierung und Atomisierung von Religionsgeschichte im Individuellen. Es ist vielmehr bemerkenswert, dass sich neben neuen religiösen Bewegungen, die sich nach klassischen Mustern mit hierarchischer Struktur und Traditionsbildung formieren – zum Beispiel die Rael-Gemeinschaft -, auch losere, diffuse Zusammenschlüsse neuer Verbände beobachten lassen. Sie generieren auf ihre Weise auch eine neue Form von Orthodoxie! Der Zusammenschluss von mehreren Hundert einzelnen Homepages in "The Witches Web" ist ein gutes Beispiel für diese Entwicklung, oder der "Rabenclan. Arbeitskreis der Heiden in Deutschland e.V.".

Moon Glade

Im Laufe der Geschichte der Religionswissenschaft wurden die Konzepte, nach denen man Religionsgeschichte zu betreiben versuchte, mehrfach grundlegend transformiert. Gibt es nun durch das Internet eine neue Form von Religionsgeschichte?
Ahn: Ja. Wenn man die Ausgangspunkte der disziplingeschichtlichen Entwicklung mit aktuellen Konzepten von Religionsgeschichte vergleicht, so kann man nahezu kontradiktorische Modelle diagnostizieren: Während die Gründungsväter der Religionswissenschaft noch an Entwürfen interessiert waren, die Aussagen über die gesamte Menschheitsgeschichte zuließen, sind moderne, differenziertere Untersuchungshorizonte auf die Analyse einzelner lokal und zeitlich begrenzter Konstellationen ausgerichtet. Mit dem Internet hat sich diese Entwicklung nochmals zugespitzt. Gegenüber den klassischen, Orthodoxie generierenden Institutionen, deren Zeugnisse über weite Strecken der Religionsgeschichte die einzigen überlieferten oder doch zumindest die wichtigsten wahrgenommenen Quellen bildeten, gegenüber diesen Institutionen hat sich im Internet die Vielzahl technisch gleichberechtigter individueller Meinungsäußerungen durchgesetzt. Der religionshistorische Befund an simultanen, aber divergierenden Quellen zu ein und derselben Religion hat sich schlagartig potenziert.

Witches' Web

Eine konstante Orthodoxie ist damit noch viel stärker als bisher Fiktion geworden?
Ahn: Das Internet führt tatsächlich ein methodisches Dilemma der traditionellen Religionsgeschichtsschreibung eindrucksvoll vor Augen: Die Orientierung an einer Fiktion von relativ konstanter und flächendeckender Orthodoxie oder Orthopraxie, deren Verwirklichung im Alltagsleben sich jedoch häufig als unerreichbares Ideal traditionsorientierter Theologien entpuppte. Das Internet erscheint demgegenüber geradezu als ein Pool potenzieller Heterodoxie.

Was waren die ersten religiösen Inhalte, auf die Sie stießen? Und: Handelte es sich um einzelne Esoteriker in den USA oder konnten Sie auch in Deutschland okkulte Inhalte im Internet finden?
Ahn: Zu den frühesten Belegen für religiöse Seiten im Netz – vom 8. Januar 1991 – zählt ein von Hans W. Nitzel verfasster und bereits in der Zeitschrift "Fate" zuvor veröffentlichter Artikel mit dem Titel "Alchemy is alive and well". Gerade die damalige Esoterik-Okkultismus-Paganismus-Szene scheint die Möglichkeiten des Internet schon sehr früh erkannt zu haben. Am 2. Mai 1991 wurde die unkommentierte Ausgabe eines Textes von Aleister Crowley ins Netz gestellt – in nicht-proportionaler Schrift, auf grauem Hintergrund und noch ohne besondere graphische Stilelemente, wenn man von einigen durch wiederholte Gleichheitszeichen angedeuteten Trennlinien absieht. Am 16. September folgte auf demselben Server ein diesmal kommentierter Text des Crowley-Biographen Frater U.'D.', ein Pseudonym, das der Begleittext als "Ubique Daemon – Ubique Deus" auflöst. Zugleich wird der Autor in einer ausführlichen Einleitung zum Text als "Germany's most prolific contemporary writer on magical topics" vorgestellt.

Sicher hat es bald erste christliche Gegenreaktionen auf die frühen Okkultismus-Seiten gegeben...
Ahn: Ja, sie folgten bemerkenswerterweise sehr schnell. Am 1. Januar 1992 stellte David J. Geauvreau, der sich als Autor einer Organisation namens Christian Research Institute ausgab, auf einem allerdings privaten Server eine Bücherliste zu außerchristlichen religiösen Bewegungen ins Netz. Abschließend kommentierte er den Zweck dieser Liste mit dem Hinweis darauf, dass einer anderen Studie zufolge 78 Prozent der so genannten "Sektenmitglieder" früher Kirchgänger gewesen seien, und gipfelt in dem dringlichen Aufruf, die christliche Wahrheit den Menschen zu vermitteln, bevor es zu spät sei. Religionshistorisch ist diese Reaktion vor allem deshalb bemerkenswert, weil die christlichen Kirchen erst viel später kamen...

Ihre Studien zeigen, dass sich der Vatikan ebenso wie die Evangelische Kirche in Deutschland erst sehr spät mit dem neuen Medium anfreundete...
Ahn: ... die christlichen Kirchen sind als Organisationen erst seit Ende 1997 im Netz vertreten.

Raelisten

Analog zur "New Economy" gibt es eine "Neue Orthodoxie", aber auch neue Religionsgemeinschaften im Welt umspannenden Computernetz. Sie sprachen die Raelisten an. Was will die Rael-Gemeinschaft?
Ahn: Sie ist ein gutes Beispiel für die heute bereits verloren gegangene Geschichte des Internet. In engem Kontakt mit der UFO-Bewegung der frühen 70er Jahre entstanden, umfasst diese Religionsgemeinschaft nach eigenen Angaben heute etwa 35000 bis 40000 Mitglieder. Die Raelisten gehen davon aus, dass es außerirdische Wissenschaftler waren, die in einem Genexperiment überhaupt erst die menschliche DNS kreiert und so das Leben auf der Erde geschaffen hätten. Aufgabe der Menschen sei es unter anderem, ein Botschaftsgebäude zum Empfang der demnächst zu erwartenden Außerirdischen zu erbauen. Die Entwicklung der Rael-Gemeinschaft führte in den Jahren 1997 bis 1999 von einer UFO-inspirierten Flower-Power-Bewegung zu einem politisch ambitionierten, apokalyptisch ausgerichteten Unternehmen. Seit die Millenniumsgrenze überschritten ist, wurden alle politisch-apokalyptischen Textpassagen aus den Internetseiten der Raelisten gelöscht. Die Gemeinschaft gibt sich nun das Image einer umwelt- und familienfreundlichen, wertkonservativen, demokratischen Non-Profit-Organisation.

Zarathushtra

In Ihrem Vortrag haben Sie erstaunliche Beispiele aus dem Internet gezeigt, aber auch verunsichernde – eine unbekannte Geisteswelt. Da gibt es den "Wiccan Ring", eine neureligiöse Bewegung, in der Hexen als Symbole für weibliche Selbstbestimmung und naturmagische Kultgemeinschaft angesehen werden. Oder den zoroastrischen Cyber-Temple... Schafft das Medium neue, virtuelle Rituale?
Ahn: Der virtuelle Raum des zoroastrischen Cyber-Tempels, in dem zum Beispiel Motive der Palastarchitektur von Persepolis oder aber ein Bild des legendären altiranischen Religionsstifters Zarathustra auf fiktionale Weise mit Elementen eines zoroastrischen Feuertempels kombiniert werden, darf – so die Aussage der Eingangsseite – nur in angemessener Geisteshaltung betreten werden. Auch in anderen Kontexten entstehen zurzeit eine Reihe von virtuellen Ritualen, das heißt, nur im Internet durchgeführter Orakel und Divinationspraktiken, die diesem Medium auch in religionsökonomischer Hinsicht wachsende Bedeutung zukommen lassen.

Im Internet leben die Seelen weiter, auch nach dem Tod der diesseitigen Hülle. Was hat es mit der "Renaissance der Untoten" auf sich?
Ahn: In außer- oder parachristlichen Kontexten konnte die Idee der Unsterblichkeit eines menschlichen Wesenskerns sogar gänzlich innerweltlich konstruiert werden. Einen wesentlichen Beitrag dazu hat die 1941 in New Orleans geborene Bestsellerautorin Anne Rice mit ihrem 1976 publizierten Roman "Interview with the Vampire" (London 1976, repr. 1998) geleistet, der eine grundsätzliche Neuorientierung dieses Genres bewirkt hat. Während Vampire in der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie seit dem 20. Jahrhundert auch im Medium Film als eine übermenschliche Bedrohung menschlicher Existenz inszeniert wurden, die es zu bekämpfen galt, ist Anne Rices Roman erstmals aus der Perspektive eines Vampirs verfasst, dessen Nöte und Gewissensbisse geschildert werden und der dadurch – trotz seiner Vampirnatur – zu einer Identifikationsfigur für den Leser stilisiert wird.

Religionen im Internet

Anne Rice hat mit der "Renaissance der Untoten" viele Anhänger erreicht?
Ahn: Und ob! Viele sind von der Attraktivität einer virtuell unbegrenzten Fortsetzung des irdischen Lebens nach einer unbeschadeten Überquerung der menschlichen Todesgrenze angezogen und träumen davon, selbst Vampire zu sein. Im Internet finden sich inzwischen dazu auch einzelne Selbstpräsentationen von Personen, die sich als Vampire bezeichnen, so genannte "Real Vampires" oder "Immortals". Sie behaupten zum Teil von sich, regelmäßiger Rationen von Blutzuführungen zu bedürfen.

Der "Temple of the Vampire" in den USA ist als religiöse Vereinigung eingetragen. Man kann gegen eine Spende lebenslang Mitglied werden. Worin besteht die Attraktivität dieses neuen Vampirismus?
Ahn: Sie besteht nicht nur in der virtuell unbegrenzten Fortsetzung des irdischen Lebens, sondern auch in der erhofften merklichen Steigerung der "Lebensqualität": Denn die Vampire verfügen trotz ihres zum Teil erheblichen Alters über eine Art "ewige Jugend", sie sehen zudem gut aus, leiden weder an Gebrechen noch an Krankheiten, besitzen übermenschliche Kraft und einen – von ihren Opfern stammenden – nicht unerheblichen Reichtum, mit dem sie sich die Annehmlichkeiten eines luxuriösen Lebens leisten können. Postmortale innerweltliche Unsterblichkeit ist so zumindest fiktional für eine millionenfache Leserschaft und – halb ernst, halb spielerisch – für eine kleine Anzahl von "Real Vampires" zu einem wünschenswerten Ideal avanciert.

Ist die Erschließung all dieser Quellen, die Sie nannten, für einen Wissenschaftler einfach?
Ahn: Nein. Trotz des hohen Aktualitätsgrades ist die Erschließung keineswegs unproblematisch. Als symptomatisch betrachte ich die Schwierigkeit, dass das Internet, gerade weil es netzartig und nicht hierarchisch strukturiert ist, über keine autorisierende und archivierende Instanz verfügt. Jeder Teilnehmer am Netz kann seine Seite beliebig oft verändern, ohne dass ältere Versionen dabei gespeichert bleiben müssten. Anders also als in der so genannten "Gutenberg-Galaxis" bleiben frühere "Auflagen" nicht wenigstens im Archiv einer Bibliothek erhalten, sondern werden dem meist viel zu geringen Speicherplatz geopfert und einfach gelöscht.

Will man sich langfristig mit diesem Dilemma der verlorenen Geschichte des Internet nicht zufrieden geben, hilft also – so Ihr Vorschlag – nur die große Vision einer "Bibliothek für das Internet"?
Ahn: Technisch sind solche Großprojekte inzwischen durchaus machbar, wie vereinzelte Archivierungsversuche belegen, zum Beispiel der von Brewster Kahle, der seit 1997 mit nur zehn Mitarbeitern mehrfach eine nahezu flächendeckende Speicherung des Internet durchgeführt hat. Aus meiner Sicht wäre eine solche Bibliotheksabteilung für "Religionen im Internet" ein gutes Pilotprojekt für ein so innovationsfreudiges Land wie Baden-Württemberg. Und die Universität Heidelberg ist sicherlich ein hervorragend geeigneter Standort dafür.

Hier die Web-Adressen zum Ansehen:
Vatikan
http://www.vatican.va/phome_ge.htm
EKD
http://www.ekd.de/christus-pavillon/web/index.html
Raelisten
http://www.rael.org/int/french/philosophy/messages/body_messages2.html
http://www.rael.org/~raelnet/somde.html
Witches' Web
http://www2.witchesweb.com/
Rabenclan
http://www.rabenclan.de
The Wiccan Ring
http://www.geocities.com/Athens/Delphi/3379/wicca_ring.html
Zoroastrischer Cyber-Temple
http://www.zarathushtra.com/
Vampire
http://www.paranormal.de
Temple of the Vampire
http://home.netcom.com/~temple/member.html
http://home.netcom.com/~temple/bible.html
Vampire
http://www.maths.tcd.ie/pub/vampire/tree.html
http://www.bastei.de/vampira/rachaela.htm
http://www.annerice.com/
"Frater U.D."
http://ftp.funet.fi/pub/doc/occult/chaos/misc/letter1.txt
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