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Der Schmerz und sein Gedächtnis

Chronische Schmerzen und Phantomschmerzen nach Amputationen zählen in der Medizin zu den am schwierigsten zu behandelnden Leiden. Die moderne Schmerzforschung hat erkannt, dass die anhaltende Pein der Patienten auf der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses im zentralen Nervensystem beruht. Diese Erkenntnis eröffnete neue Wege, um die quälenden Schmerzen wirksam zu bekämpfen. Herta Flor vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim erläutert den Stand der Kenntnis und eine von ihr und ihren Mitarbeitern entwickelte therapeutische Maßnahme, die erstmals verspricht, ein bestehendes Schmerzgedächtnis wieder zu löschen und Phantomschmerzen zu verhindern.

Vor fünf Jahren erlitt Andreas M. einen schweren Arbeitsunfall. Ein Bauträger fiel ihm aus großer Höhe auf den Kopf und verletzte ihn an der Stirn. Obwohl der Unfall nun schon lange Zeit zurückliegt, leidet Andreas M. noch immer unter starken Schmerzen in Gesicht und Stirn. Sie können sich über den ganzen Kopf ausbreiten und verstärken sich vor allem bei geistiger Tätigkeit. Trotz vielfältiger neurologischer Untersuchungen ließen sich für seine Schmerzen keine körperlichen Ursachen finden. Eine psychophysiologische Untersuchung, bei der die Muskelspannung unter Belastung sowie die Schmerzempfindlichkeit gemessen wird, ergab jedoch, dass Andreas M. extrem schmerzempfindlich geworden war: Selbst auf leichte Berührungsreize reagierte er mit starken Schmerzen und hoher Muskelanspannung.

Patienten leiden häufig unter extremen Schmerzen, ohne dass sich eine den Schmerz erklärende äußerliche körperliche Ursache findet. Früher nahm man an, dass diese Patienten unter "psychogenen" Schmerzen litten und empfahl eine psychotherapeutische Behandlung. Heute geht man davon aus, dass es keine einfache 1:1-Beziehung zwischen den Verletzungen bestimmter Körperareale (Peripherie) und der Schmerzempfindung im zentralen Nervensystem (Rückenmark und Gehirn) gibt. Schmerz ist vielmehr das Resultat des peripheren Einstroms zuzüglich vieler hemmender und verstärkender Faktoren im zentralen Nervensystem. Schmerz wird damit als psychophysiologisches Phänomen gesehen, an dem psychische und physiologische Veränderungen gleichermaßen beteiligt sind.
Eine besonders wichtige Rolle spielen neuroplastische Veränderungen in Rückenmark und Gehirn. Man fasst sie unter dem Begriff "Schmerzgedächtnis" zusammen. Veränderungen des Gehirns, die mit der Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses einhergehen, sind ein Schwerpunkt unserer Forschungsarbeiten.

Ausgangspunkt unserer Untersuchungen waren Berichte über eine bislang unbekannte Plastizität der Großhirnrinde (des Kortex). Was wir sehen, hören oder tasten wird von bestimmten Zentren des Gehirns verarbeitet, die wie Landkarten organisiert sind. Tastreize aus dem Arm werden beispielsweise neben Tastreizen aus dem Mund verarbeitet – jedoch fern von Tastreizen aus dem Bein. Je größer ein Körperteil im Gehirn repräsentiert ist, desto größer ist auch seine Empfindlichkeit. Der Mund ist beispielsweise besonders groß, der Oberarm hingegen besonders klein im Gehirn repräsentiert. Dementsprechend ist der Mund deutlich empfindlicher als der Oberarm.

Lange Zeit waren Neurowissenschaftler der Meinung, dass die primären sensorischen Areale des Großhirns – die Gebiete, in denen Sinnesreize beispielsweise von Auge, Ohr oder der Haut ankommen – nach einer empfindlichen Phase im Laufe der Entwicklung nicht mehr plastisch und damit nicht mehr veränderlich sind. Untersuchungen der letzten Jahre haben jedoch gezeigt, dass eine umfangreiche Neuorganisation dieser Gebiete nach Verletzungen oder infolge von Lernprozessen möglich ist. Dabei können sich sowohl die Größe als auch die Lage der Repräsentationen im Gehirn verändern. Diese Veränderungen bezeichnet man als kortikale Reorganisationen.

Es konnte beispielsweise gezeigt werden, dass es nach Fingeramputationen zu einer kortikalen Reorganisation kommt: Nervenimpulse aus benachbarten Gebieten wandern in das Areal ein, das zuvor vom amputierten Finger besetzt wurde. Nicht nur Nervenverletzungen, auch Stimulationen bewirken kortikale Umorganisationen. Werden beispielsweise Affen systematisch belohnt, wenn sie mit ihren mittleren drei Fingern eine sich drehende Platte berühren, erweitern sich durch dieses Training diejenigen kortikalen Areale, in denen Tastreize aus diesen drei Fingern verarbeitet werden. Ähnliche Trainingseffekte finden sich auch bei Violinisten. Bei ihnen ist die kortikale Repräsentation der Finger ihrer linken Hand deutlich größer als bei Personen, die niemals gelernt haben, Violine zu spielen. Je früher mit dem Geigenspielen begonnen wurde, desto größer waren die Finger, die dazu gebraucht werden, im Gehirn repräsentiert.

Leidet ein Mensch unter chronischen Schmerzen treffen Nervenimpulse aus der schmerzenden Körperregion ständig auf die entsprechende Region im Gehirn. Dies dürfte zu ähnlichen Veränderungen führen wie die oben beschriebene verhaltenswirksame Stimulation. Plastische Veränderungen auf kortikaler Ebene kann man beim Menschen mit bildgebenden Verfahren erfassen, in dem man elektroenzephalographische oder magnetenzephalographische Messungen mit der strukturellen Magnetresonanztomographie kombiniert. Ebenfalls geeignet sind auch die Positronenemissionstomographie und die funktionelle Magnetresonanztomographie. Diese beiden Methoden messen eine veränderte neuronale Aktivität indirekt über Veränderungen des Blutflusses.

Reizt man bei Patienten, die unter chronischen Schmerzen leiden, mehrfach elektrisch das Rückenareal, das vom Schmerz betroffen ist, und im Vergleich dazu ein Areal der Hand, in dem keine Schmerzen auftreten, findet man Folgendes: Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen ist eine erhöhte kortikale Reizantwort im Zeitbereich von 70 bis 120 Millisekunden nach der Stimulation des schmerzhaften Hautareals im Vergleich zum nichtschmerzhaften Bereich festzustellen. Lokalisiert man diese Aktivität im Gehirn, kann man zeigen, dass bei den Patienten mit chronischen Rückenschmerzen die kortikale Repräsentation des Rückens in Richtung Bein verschoben und ausgeweitet ist. Diese schmerzassoziierte kortikale Aktivität ist umso ausgeprägter, je chronischer der Schmerz ist. Diese kortikalen Veränderungen können als Ausdruck eines "somatosensorischen Schmerzgedächtnisses" gesehen werden.

Die Psychologie unterscheidet implizite von expliziten Gedächtnisinhalten. Das somatosensorische Schmerzgedächtnis gehört zur impliziten Gedächtnisform. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass eine Gedächtnisspur besteht, die zu Veränderungen im Verhalten und Erleben führt, ohne dass die Person diese bewusst wahrnimmt. Explizite Gedächtnisinhalte können hingegen jederzeit abgerufen werden. Sie umfassen beispielsweise autobiographisches oder semantisches Wissen.

Das somatosensorische Schmerzgedächtnis ist ein Sensibilisierungsprozess, der zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit und zu Fehlwahrnehmungen führt. Es werden zum Beispiel schmerzlose Reize als schmerzhaft wahrgenommen. Der konstante schmerzhafte Einstrom dürfte zu einer Vergrößerung der Repräsentation des vom Schmerz betroffenen Körperareals im Gehirn führen. Eine größere Repräsentationszone geht auch mit einer höheren Empfindlichkeit des korrespondierenden peripheren Areals einher. Die bei Schmerzpatienten häufig zu beobachtende Überempfindlichkeit für Schmerz und Berührungsreize könnte teilweise auf diesen zentralen Veränderungen beruhen.

Bei chronischen Schmerzen ist ein verstärkter Einstrom in das kortikale Repräsentationsareal zu verzeichnen. Anders bei Amputationen. Bei Patienten, denen ein Körperteil amputiert werden musste, ist der neuronale Zufluss zum kortikalen Areal unterbrochen. Hier kommt es zu einem "Hineinwandern" benachbarter Hirnareale in das "leere" Areal, das von Phantomschmerz begleitet ist.

Je größer die Reorganisation im primären somatosensorischen Kortex, desto stärker ist der Phantomschmerz. Schaltet man durch eine gezielte örtliche Betäubung jeglichen sensorischen Einstrom vom Amputationsstumpf (Arm) aus, wird die kortikale Reorganisation bei 50 Prozent der armamputierten Patienten zurückgebildet. Bei diesen Patienten wurde auch der Phantomschmerz eliminiert. Bei der anderen Hälfte veränderte sich weder die kortikale Reorganisation noch verringerte sich der Phantomschmerz.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass periphere Faktoren den Schmerz und die Reorganisation bei einem Teil der Patienten, die an Phantomschmerzen leiden, aufrecht erhalten. Bei den anderen Patienten haben sich der Schmerz und die kortikale Reorganisation auf zentraler Ebene in Form eines kortikalen Schmerzgedächtnisses verselbstständigt. Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass nicht mehr rückgängig zu machende und nicht mehr zu beeinflussende neuroplastische Hirnveränderungen vermutlich für die häufig beobachtbare Therapieresistenz von Phantomschmerzen verantwortlich sind.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Befunden? Der Phantomschmerz ist häufig dem Schmerz ähnlich, der vor der Amputation im amputierten Körperteil bestand. Ergebnisse aus einer kürzlich abgeschlossenen Studie zum Verlauf des Phantomschmerzes nach Amputation zeigen, dass insbesondere der chronische – weniger der akute Schmerz vor der Amputation – den Phantomschmerz ein Jahr nach der Amputation vorhersagt. Wie könnten sich Schmerzen, die vor der Amputation bestehen, auf die kortikale Reorganisation und den Phantomschmerz auswirken?

Hinweise darauf ergeben sich aus den beschriebenen Untersuchungen zum chronischen Schmerz. Der Aufbau eines kortikalen Schmerzgedächtnisses durch Sensibilisierungsprozesse im Rahmen einer Chronifizierung dürfte dazu führen, dass sich die Areale im primären somatosensorischen Kortex, die Schmerzreize verarbeiten, besonders ausweiten. In diesem Fall kommt es nach der Amputation zu einer besonders dramatischen Umorganisation, da das "amputierte Areal" hemmendes Potenzial verliert. Zusätzlich werden bei diesen Patienten mehr schmerzkodierende Areale durch benachbarte Zuflüsse erregt als bei Patienten, die vor der Amputation schmerzfrei waren. Die Erregung aus den benachbarten Arealen wird dann vom Gehirn in das Gebiet projiziert, aus dem früher der neuronale Zufluss kam. Diese Erregung wird als Phantomschmerz interpretiert.

Der chronische Schmerz und der Phantomschmerz gehören bislang zu den Störungen, die sich einer Behandlung weitgehend entziehen. Aus den dargestellten Befunden lässt sich jedoch ableiten, dass Therapieverfahren, welche die kortikale Schmerzverarbeitung und das Schmerzgedächtnis ansprechen, auch chronischen Schmerz und Phantomschmerz beseitigen sollten. Arbeiten zur verhaltensinduzierten Stimulation legen nahe, dass eine verhaltensrelevante Stimulation effektiv die kortikale Reorganisation und den Schmerz beeinflussen könnte.

Darauf weisen funktionell-magnetresonanztomographische Untersuchungen bei Amputierten hin. Sie zeigten, dass eine intensive funktionelle Stimulation des Stumpfes – die mit einer so genannten myoelektrischen Prothese zu erreichen ist – die kortikale Reorganisation und den Phantomschmerz vermindern kann. Patienten, die keine myoelektrische Prothese nutzten, litten mit unvermindert hoher Intensität an Phantomschmerz. In einer Therapiestudie versuchten wir daraufhin mit Hilfe eines zielgerichteten Wahrnehmungstrainings, die kortikale Reorganisation und damit auch die Phantomschmerzen der Patienten zu beeinflussen. Die Patienten nahmen an einem Wahrnehmungstraining teil, bei dem der Stumpf mit hoher, jedoch nicht schmerzhafter Intensität elektrisch gereizt wurde. Die Patienten sollten zunehmend besser erkennen, in welcher zeitlichen Folge und an welchem Ort die Reize verabreicht wurden. Das Training von täglich 90 Minuten erstreckte sich über zwei Wochen. Die Teilnehmer erhielten eine Rückmeldung über ihre Fähigkeit, die Reize voneinander zu unterschieden. Bei den derart behandelten Patienten zeigte sich im Vergleich mit einer herkömmlich behandelten Kontrollgruppe eine deutlich verbesserte Unterscheidungsfähigkeit der am Armstumpf gesetzten Reize. Der Phantomschmerz reduzierte sich um mehr als 60 Prozent, die kortikale Reorganisation verringerte sich um rund 1,5 Zentimeter.

Die Ergebnisse der experimentellen Therapiestudien dokumentieren: Wenn die kortikale Reorganisation durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen beeinflusst wird, vermindert sich der Phantomschmerz auch bei denjenigen Patienten deutlich, denen bis dahin keine Behandlungsmaßnahme helfen konnte. Ähnliches sollte auch bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen zu erreichen sein. Dies untersuchen wir derzeit in einer neu bewilligten Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Neben verhaltenstherapeutischen Interventionen wurden auch pharmakologische Substanzen, beispielsweise so genannte Gaba-Agonisten, NMDA-Antagonisten oder anticholinerge Substanzen, in ersten Untersuchungen als wirksame Medikamente bestätigt, um eine kortikale Reorganisation zu verhindern beziehungsweise zu vermindern. Besser wäre es, durch vorbeugende Maßnahmen zu verhindern, dass der Phantomschmerz überhaupt auftritt. Geht man davon aus, dass Schmerzen vor und um den Zeitpunkt der Amputation entscheidend dafür sind, ob Veränderungen im Gehirn und damit Phantomschmerzen auftreten, sollte mit einer peripherer Anästhesie verhindert werden können, dass sich ein Schmerzgedächtnis aufbaut und damit Stumpf- und Phantomschmerzen entstehen.

Die Ergebnisse von Operationsstudien deuten jedoch darauf hin, dass diese Methoden der vorbeugenden Schmerzkontrolle Phantomschmerzen nicht einheitlich beeinflussen. Günstig wäre es hier eventuell, die oben genannten pharmakologischen Substanzen zu verabreichen. Sie scheinen geeignet, ein Schmerzgedächtnis auszuschalten, das sich bereits vor der Amputation durch Sensibilisierung und andere Lernprozesse aufgebaut hat. Die Ergebnisse einer ersten Studie bestätigten dies unlängst: Mit Hilfe der Medikamente konnte das Auftreten von Phantomschmerzen von rund 70 auf 20 Prozent vermindert werden.

Autorin:
Prof. Dr. Herta Flor,
Lehrstuhl für Neuropsychologie der Universität Heidelberg,
Anschrift: Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, J5,
68159 Mannheim,
Telefon (06 21) 17 03 91 8, Fax: (06 21) 17 03 93 2,
e-mail: flor@zi-mannheim.de

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