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Gadamer – der Zeit-Weise

Hans-Georg Gadamer, der weltweit berühmteste Gelehrte der Universität Heidelberg, wurde am 11. Februar hundert Jahre alt. Dieter Borchmeyer vom Germanistischen Seminar schreibt über das Leben und Wirken des großen Philosophen.

Prof. Gadamer

Als Hans-Georg Gadamer am 11. Februar 2000 mit seinem Jahrhundert hundert Jahre alt wurde, teilte er diesen Jubiläumstag mit dem eines anderen großen Denkers der europäischen Moderne: mit René Descartes, der an diesem 11. Februar vor 350 Jahren in Stockholm gestorben ist. Zwei Jubiläumsdaten, deren Zusammenfall von der List der Vernunft oder der Ironie der Geschichte ersonnen sein könnte. Im Mittelpunkt des Oeuvres beider Philosophen steht ein Werk, das den Begriff der Methode im Titel trägt: der "Discours de la Méthode" von 1637 und "Wahrheit und Methode" aus dem Jahre 1960. Beide gehören zu den erfolg- und wirkungsreichsten philosophischen Schriften ihres Jahrhunderts. Der Titel von Gadamers Opus summum könnte mit demselben, ja – wie mancher denken mag – mit größerem Recht über den "Discours" von Descartes gesetzt werden, ist dem Untertitel zufolge die Wahrheit doch auch für diesen der Fluchtpunkt der Wissenschaften: "Pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences". Der umgekehrte Titeltausch wäre freilich kaum möglich, denn bei Gadamer fällt auf die Methode stets der verdunkelnde Schatten der Wahrheit – die freilich eine ganz andere ist als die rein mathematisch-logische bei Descartes. Die Forderungen, die aus dem modernen, an der Naturwissenschaft orientierten Methodenbegriff abgeleitet werden, sind dergestalt begrenzt, dass zwar das Stichwort "Methode" im Register von Gadamers Werk erscheinen kann – dass "Wahrheit" dort aber fehlt. Diese waltet ja doch auf jeder Seite seines Buchs, ist also im Unterschied zum beschränkten Geltungsbereich der "Methode" nicht ‚registrierbar'.

Ganz anders steht es mit Wahrheit und Methode bei Descartes. Beide gehören für ihn zusammen wie zwei Seiten einer Medaille. Im zweiten Teil seines "Discours" entwickelt er vier Hauptregeln der Methode, deren erste und wichtigste lautet, "niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: das heißt, Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich (si clairement et si distinctement) darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln." Das aber ist eine Idee der Methode, von der sich Gadamers "Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik" – so der Untertitel seines Hauptwerks – deutlich absetzen. Gegenüber der aufklärerischen "Diskreditierung des Begriffes Vorurteil" und dem cartesianischen Zweifel sucht er das Vor-Urteil und die in ihm wirksamen Überlieferungselemente als Bedingungen des Verstehens zu legitimieren. Wer diese Bedingungen leugnet und glaubt, gänzlich ‚vorurteilsfrei' zu sein, verkennt die geschichtliche Bedingtheit des eigenen Urteils und verfällt eben dadurch dem Vorurteil als einer vis a tergo, einer undurchschauten Macht. Deren gefährlichen Infiltrationen sucht Gadamer gerade durch das Mitbedenken, das Bewusstmachen des Vorurteils im eigenen Urteil, soweit das möglich ist, vorzubeugen. Damit wendet er sich nicht etwa gegen die Aufklärung, sondern betreibt selber ihr Geschäft: "Aufklärung gegen den Dogmatismus ihrer selbst", wie er in seiner "Selbstdarstellung" von 1977 schreibt.

Gadamer geht es um Erfahrungsmöglichkeiten von Wahrheit – nicht nur in der Philosophie, sondern ebenso sehr in den geschichtlichen Wissenschaften, ja vor allem in der Kunst -, die jenseits des modernen Methodenbewusstseins liegen, wie es von Descartes epochenprägend artikuliert worden ist. Hier kann Gadamer sich auf einen anticartesianischen Denker zurückbeziehen, zu dessen großen Wiederentdeckern er gehört: Gian Battista Vico und seine Abhandlung "De nostri temporis studiorum ratione" (1709). Vico ist einer der letzten bedeutenden Theoretiker der Rhetorik, welche – als Anwältin eines Wahrheitsanspruches, der sich nicht aus der "clara et distincta perceptio" des Descartes, sondern aus Gemeinsinn und Wahrscheinlichkeit ableitet – gegenüber dem Beweis- und Gewissheitsanspruch des modernen wissenschaftlichen Denkens im 18. Jahrhundert mehr und mehr ins Hintertreffen geraten sollte. Vico wehrt sich gegen den Absolutheitsanspruch der kritischen Methode Descartes', die eine erste Wahrheit zum Ausgangspunkt macht, von der alles Weitere nach Maßgabe der Geometrie abgeleitet wird. Gegen sie argumentiert Vico im Namen des sensus communis und der prudentia, der praktischen Klugheit, deren Leistung darin besteht, sich auf den Augenblick, die Vielfalt der konkreten Situationen des Handelns einzustellen, welche niemals mit einer unveränderlichen Verstandesregel, auf dem Wege der Deduktion zu erfassen sind.

In Vicos Differenzierung von kritischem und rhetorisch-topischem Denken erkannte Gadamer eine Polarität wieder, die gewissermaßen seine philosophische Urerfahrung gewesen ist: Im sechsten Buch der "Nikomachischen Ethik" – von dem Gadamer noch 1998 eine kommentierte Edition vorgelegt hat – unterscheidet Aristoteles zwischen dem theoretischen Wissen der Episteme, der Beweiswissenschaft, die nach dem Vorbild der Mathematik vom Allgemeinen, immer und notwendig so Seienden ausgeht, und dem praktischen Wissen der Phronesis, der es darum geht, in der veränderlichen partikulären Lage das Rechte zu treffen. Phronesis, das ist gewissermaßen der Kardinalbegriff im Denken Gadamers seit Heideggers Seminar über diesen Begriff im Sommersemester 1923, das ihm dessen philosophische Tragweite als ‚allo eidos gnoseos', als einer ‚anderen Art von Einsicht' verdeutlichte.

Gadamer hat aus der Idee der Phronesis freilich Konsequenzen gezogen, die Heidegger mehr und mehr fern lagen. Seine Theorie des praktischen Wissens rekurriert nämlich auf die Begriffe des Gemeinsinns, des Taktes, des Geschmacks, der cognitio sensitiva – als eines Erkenntnisvermögens jenseits des seit der Aufklärung verabsolutierten rationalistischen Wissensmodells -, die für den alteuropäischen Bildungshaushalt von grundlegender Bedeutung waren, von Heidegger aber wohl zu den überständigen Elementen der humanistischen Tradition gerechnet wurden, von der er sich schließlich verabschiedete.

Das aristotelische Programm der praktischen Wissenschaft ist für Gadamer das wissenschaftstheoretische Modell der Geisteswissenschaften, der "verstehenden" Disziplinen. Das Begriffsarsenal des praktischen Wissens hält er ihnen als Spiegel vor, damit sie in ihm, und nicht im naturwissenschaftlichen Methodendenken ihre Eigenart erkennen, von dessen Alleingültigkeit einst sein Vater, der Chemiker Johannes Gadamer, so überzeugt gewesen war. Wegen seiner Entscheidung für die Geisteswissenschaften und ihre "Schwätzprofessoren" blieb Gadamer für seinen Vater bis zu seinem Tode ein "verlorener Sohn", wie er selbst berichtet hat. Sogar der an sein Sterbebett gebetene Martin Heidegger konnte die Skepsis Johannes Gadamers nicht beruhigen, ob denn "Philosophie zu einer Lebensaufgabe" ausreiche. Ausgerechnet sein Sohn sollte das naturwissenschaftliche Methodenmonopol in Zweifel ziehen und den Geisteswissenschaften ihren Rückhalt in einer ganz anderen Tradition des Denkens sichern: derjenigen des praktischen Wissens, der moralischen Wissenschaften. Das hat zumal für die moderne Literaturwissenschaft kaum zu überschätzende Konsequenzen gezeitigt. "Hermeneutik" ist durch Gadamer zu einem Schlagwort geworden, das mit zustimmender oder abwehrender Tendenz heute zum selbstverständlichen Vokabular jedes Philologen gehört – während Gadamer sich seinerzeit noch veranlasst sah, den fremden, ungebräuchlichen Begriff auf die Bitte seines Verlegers hin aus dem Haupt- in den Untertitel seines philosophischen Hauptwerks zu verdrängen. Die Geschichte der Literaturwissenschaft seit den sechziger Jahren ist geradezu die Geschichte eines Für und Wider die Gadamer'sche Hermeneutik. Auf die Seite des Für gehört weithin die von Hans Robert Jauß ins Leben gerufene Rezeptionsästhetik. Sie gründet in der Einsicht Gadamers, dass die Interpretation einer geschichtlichen Erscheinung – auch und zumal eines literarischen Werks – deren Wirkungsgeschichte ständig mitreflektieren muss. Auf der Wider-Seite steht die Ideologiekritik in der Periode der Studentenbewegung. Sie hielt der Hermeneutik vor, dass sie die "vorgreifliche" Bedeutung der Tradition für das Verstehen reflektiere, ohne sie kritisch zu hinterfragen und sich so von ihr zu befreien. Mit den wichtigsten Mentoren dieser beiden Richtungen hat Gadamer sich von Anfang an intensiv auseinander gesetzt: mit Jürgen Habermas, dem er 1961 noch vor der Habilitation ein philosophisches Extraordinariat in Heidelberg vermittelt hat, und Jacques Derrida, zu dem er seit Beginn der achtziger Jahre persönlichen Kontakt suchte.

Obwohl er in der Einleitung von "Wahrheit und Methode" und anderenorts betont hat, dass er mit seiner Hermeneutik (anders als etwa sein Gegenspieler Emilio Betti) keine "Methodenlehre der Geisteswissenschaften" bieten wolle, auch keine Theorie der Interpretation in literaturwissenschaftlichem Sinne, sondern dass jene nichts sei als der "Versuch einer Verständigung über das, was die Geis-teswissenschaften ... in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet", hat er doch wie kein anderer Philosoph zu einer Neuorientierung der Methodenreflexion vor allem in den Philologien beigetragen. Eines der aufschlussreichsten Beispiele dafür ist das 1989 erschienene Buch des Heidelberger Literaturwissenschaftlers Horst-Jürgen Gerigk: "Unterwegs zur Interpretation", das sich dem Untertitel zufolge als Beitrag "zu einer Theorie der Literatur in Auseinandersetzung mit Gadamers ‚Wahrheit und Methode'" versteht.

Gadamer hat in den Philologen zumal das Bewusstsein der "hermeneutischen Situation" erweckt, sie die denkende Vermittlung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen gelehrt: "Historie im Dienste der applicatio", deren Argumentationsstruktur auf die Rhetorik zurückweist. Die Komplementarität derselben zu einer am Beweiswissen orientierten Philosophie, ihre ‚andere' Philosophie ist Gadamer schon während seines Studiums der Klassischen Philologie unter der Anleitung Paul Friedländers zum ersten Mal aufgegangen und bis heute ein Herzensanliegen geblieben. In einem Gespräch mit Jean Grondin nach dem Abschluss der "Gesammelten Werke" hat er zu den Fragen, denen er in Zukunft noch nachgehen wolle, nicht zuletzt die folgende gezählt: "Können wir den alten weiten Sinn von Rhetorik neu beleben?"

Im Verstehen eines Textes, so Gadamer, vollzieht sich immer, ob man das wahrhaben will oder nicht, eine Anwendung auf die gegenwärtige Situation des Verstehenden, wie sie das Argumentationsverfahren der Rhetorik impliziert. Die Anwendung des Verstandenen auf uns selbst ist "integrierender Bestandteil des hermeneutischen Vorgangs". Gadamers Hermeneutik gründet in der Einsicht in die conditio humana, in die Endlichkeit des menschlichen Daseins, sie leugnet die Möglichkeit eines ‚Bewusstseins überhaupt' und sucht die geschichtlichen Wissenschaften an die Geschichtlichkeit ihres eigenen Standorts zu erinnern. Vor dem Hintergrund von Heideggers Ontologie der Zeitlichkeit tritt Gadamer selber als der "Zeit-Weise" hervor, als den er seinen bedeutendsten Lehrer in einem Brief an Karl Löwith vom 12. Dezember 1937 bezeichnet hat. Was dieser Zeit-Weise etwa der Philologie zu Bewusstsein gebracht hat, ist die Tatsache, "dass das literarische Kunstwerk seine Wirklichkeit immer erst im jeweiligen Zugriff der geschichtlich bestimmten Sorge des Interpreten erhält" (Horst-Jürgen Gerigk).

Gadamer hat wiederholt bekannt, wie schwer ihm lange das Schreiben gefallen sei, nicht nur, weil er stets "das verdammte Gefühl" gehabt habe, Heidegger blicke ihm dabei "über die Schulter", sondern weil sein eigentliches Element der mündliche Austausch im Gespräch gewesen sei. Deshalb war er zeitlebens weit weniger ein Schreiber als ein Sprecher und Hörer, dessen Stimme heute noch einen Saal ohne Mikrofon durchdringt und dessen Gehör sich trotz seines hohen Alters mitnichten aufs Altenteil zurückgezogen hat. Er liebt es nach wie vor, Aufsätze nach Tonbandprotokollen seiner Vorträge zu verfassen, um auch dem Geschriebenen den Charakter mündlicher Rede zu verleihen. Leidenschaftlicher Lehrer und Dialogpartner von jeher, hält er weiterhin philosophische Sprechstunden in seinem alten Heidelberger Seminar.

Bis zu seinem sechzigsten Lebensjahr – eben bis zu "Wahrheit und Methode" – hat er kein umfangreiches Buch geschrieben, und der Löwenanteil seiner "Gesammelten Werke" ist erst nach seiner Emeritierung entstanden. In seiner Scheu vor dem Schreiben, seiner dialogischen und maieutischen Art des Philosophierens und nicht zuletzt der Vorgabe des Nichtwissens geht er in sokratischen Spuren. Das Prinzip, immer für das Gespräch bereit zu sein, impliziert die Tugenden der Bescheidenheit und des Hörenkönnens, es heißt, "das mögliche Recht, ja die Überlegenheit des Gesprächs-partners im voraus anzuerkennen", wie in Gadamers "Selbstdarstellung" zu lesen ist. Jene Tugenden, die jedes autoritative Gebaren verschmähen, hat Gadamer nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis beherzigt und dem Hörer und Gesprächspartner immer wieder das menschliche und intellektuelle Glück beschert, sich von ihm als seinesgleichen geachtet zu sehen. Wer ihm aber je begegnet ist, wird von diesem Gelehrten mit Hamlet sagen dürfen: "Ich werde nimmer seinesgleichen sehn."

Autor:
Prof. Dr. Dieter Borchmeyer, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207-209, 69117 Heidelberg,
Telefon (06 22 1) 54 32 11, Fax (06 22 1) 54 32 55

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