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Wo Sprache unser Denken formt

Kurzberichte aus der Wissenschaft

von Barbara Schmiedtová

Eine Wegauskunft geben, Erlebtes erzählen, den Hergang eines Unfalls schildern, das Aussehen einer Person oder eines Gegenstandes beschreiben – all das sind alltägliche sprachliche Aufgaben, die jeder Sprecher mehr oder weniger virtuos beherrscht. Bei näherer Betrachtung aber sind sie von erstaunlicher Komplexität. Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, muss der Sprecher Informationen unterschiedlicher Art aus dem Gedächtnis abrufen, sie zu einer kohärenten konzeptuellen Repräsentation ordnen, geeignete Wörter und grammatische Konstruktionen auswählen, diese auf den Adressaten und sein mutmaßliches Wissen abstimmen und schließlich eine geordnete Folge von wohlstrukturierten Sätzen – einen gesprochenen oder geschriebenen Text – produzieren.

Dieses komplexe Geflecht kognitiver und linguistischer Prozesse ist bislang wenig oder gar nicht erforscht. Im Mittelpunkt der traditionellen Sprachwissenschaft und der neueren Linguistik stehen die strukturellen Eigenschaften von Wörtern und Sätzen – die Prinzipien, nach denen Texte aufgebaut sind, werden eher am Rande behandelt.

In der experimentellen Psycholinguistik werden bestimmte Aspekte der Sprachproduktion untersucht – dabei steht die Produktion einzelner Wörter im Vordergrund. Die Produktion ganzer Sätze, geschweige denn ganzer Texte, ist auch hier bisher kaum Gegenstand psycholinguistischer Forschung. Fast gar nicht untersucht ist, inwieweit und in welcher Form Planungsprozesse in der Sprachproduktion einzelsprachlich gebunden sind, wie sich also beispielsweise Sprecher des Deutschen, des Englischen, des Arabischen und des Chinesischen in der inhaltlichen Gestaltung ihrer Rede unterscheiden.

Dass es solche Unterschiede gibt, ist für jeden, der sich aktiv und passiv in unterschiedlichen Sprachen bewegt, selbstverständlich. Bei der Suche nach den Gründen macht man es sich jedoch oft einfach und verweist auf kulturelle Kontraste und unterschiedliche stilistische und rhetorische Traditionen. Unser Forschungsprojekt schlägt einen anderen Erklärungsweg ein.

Den Ausgangspunkt bildeten empirische Untersuchungen zu unterschiedlichen Texttypen, zu denen ein Corpus von 13 Sprachen aus vier Sprachfamilien erhoben und analysiert wurde. Die Ergebnisse der sprachvergleichenden Studien zeigten, dass Textaufbau und Kohärenzmuster in denjenigen Sprachen ähnlich gestaltet waren, die gleiche grammatikalische Eigenschaften aufwiesen. Dies führte zu der Hypothese, dass grammatische Kategorien in gewissen sehr grundlegenden Aspekten die Konzeptualisierung von Redeinhalten mitsteuern.

Es ist eine sehr alte Erkenntnis, die in der neueren kognitiven Linguistik wieder einen zentralen Stellenwert erhalten hat, dass grammatische Kategorien wie Tempus, Modus, Numerus, Kasus Ausdrucksformen sehr abstrakter begrifflicher Kategorien sind. Grammatische Kategorien sind – im Gegensatz zu lexikalischen – obligatorisch, das heißt, man kann beispielsweise im Deutschen keinen Satz bilden, ohne sich über die zeitliche Einordnung und den modalen Geltungsstatus „Gedanken gemacht zu haben“. Es ist daher zunächst einmal naheliegend, dass diejenigen begrifflichen Kategorien, die in einer einzelnen Sprache grammatikalisiert sind, für die Sprecher bei der gedanklichen Planung von Redeinhalten einen herausgehobenen Stellenwert besitzen.

Diese Hypothese systematisch zu überprüfen, ist das Forschungsziel unseres Projektes. Das Vorgehen ist empirisch, unter Einsatz unterschiedlich stark kontrollierter Erhebungsmethoden. Im Zentrum des Sprachvergleichs stehen dabei Konzeptualisierung und sprachlicher Ausdruck temporaler Kategorien.

Die Datenerhebung folgt einem einheitlichen Verfahren: Sprecher verschiedener Sprachen, darunter auch fortgeschrittene Lerner von Fremdsprachen, werden unter vergleichbaren Bedingungen vor die gleiche sprachliche Aufgabe gestellt: beispielsweise einem Dritten eine komplexe Instruktion zu geben, einen kurzen Film nachzuerzählen oder ein Bild zu beschreiben. Die Bedingungen werden variiert, etwa durch Änderung der Aufgabenstellung, des Sachverhaltes oder der Kommunikationssituation, und es wird untersucht, wie die einzelnen Sprecher dabei vorgehen und inwiefern sich sprachgruppenspezifische Unterschiede zeigen.

Die klassische Methode der qualitativen Sprachanalyse, die bestimmte strukturelle Eigenschaften der Texte erfasst und vergleicht, wird durch experimentelle Verfahren ergänzt. Diese erlauben es, eng gefasste Hypothesen über Zusammenhänge zwischen Sprachstruktur und Informationsaufbau gewissermaßen mikroskopisch zu untersuchen. Zu den hierbei eingesetzten Methoden zählen das Messen von redebegleitenden Blickbewegungen, das chronometrische Erfassen der Sprachproduktion (beispielsweise Sprechanfangszeiten) sowie verschiedene nichtsprachliche Aufgaben, etwa Gedächtnisaufgaben.

Ein Beispiel: Unserem derzeit laufenden Sprachproduktionsexperiment dienen als Stimulusmaterial 70 kurze Videoclips, die alltägliche Situationen des realen Lebens zeigen. Die Versuchspersonen sollen das Gesehene online beschreiben und werden dazu – in der jeweiligen Muttersprache – mit der Frage „Was passiert gerade?“ aufgefordert. Nachdem die Antwort aufgezeichnet worden ist, werden biographische Daten und der sprachliche Hintergrund mit einem Fragebogen erfasst. Danach wird den Versuchspersonen eine Gedächtnisaufgabe zu den beschriebenen Szenen gestellt. Die empirische Erhebung und Dokumentation umfasst neben Audiodaten, Sprechanfangszeiten und Augenbewegungen. Die Audiodaten werden transkribiert und kodiert, die Blickbewegungsdaten mit einer eigens für das Projekt entwickelten Software zur Analyse dynamischer Stimuli ausgewertet, chronometrische Daten und Blickbewegungsdaten statistisch ausgewertet und die Ergebnisse mit den unabhängigen Variablen „Sprache“ und „Sachverhalt“ korreliert.

 Die Ergebnisse des Experimentes zeigen, dass sich Sprecher unterschiedlicher Sprachen bei der Beschreibung desselben Ereignisses unterscheiden. Sie wählen jeweils andere Komponenten der im Stimulus gegebenen Situation aus und setzen dabei unterschiedliche Perspektiven in Zeit und Raum ein. Zeigt man beispielsweise deutschen und englischen Muttersprachlern eine kurze Filmszene, in der zwei Personen auf einem Weg laufen, in dessen Hintergrund ein Haus zu sehen ist, so beschreibt die Mehrheit der deutschen Muttersprachler diese Situation so: „Zwei Personen laufen zu einem Haus“. Der englische Muttersprachler hingegen neigt dazu, dieselbe Szene in ihrem Verlauf zu beschreiben: „Two women are walking along a road“. Der Endpunkt wird nicht erwähnt, obwohl dies strukturell durchaus möglich ist.

Die beobachteten Kontraste korrelieren nicht – wie vielleicht zu erwarten wäre – mit bestimmten kulturellen Gemeinsamkeiten. Vielmehr verbinden sich hier Sprecher von Sprachen mit gemeinsamen grammatischen Merkmalen zu Gruppen, die den gleichen Konzeptualisierungsstrategien bei der sprachlichen Darstellung folgen. So bilden beispielsweise Sprecher des Englischen, Arabischen und Spanischen eine Gruppe gegenüber Sprechern des Deutschen, Französischen und Tschechischen hinsichtlich der gewählten Zeitstruktur.

Diese Unterschiede, welche auf unerwartete Weise auch Sprachen verschiedener Sprachfamilien vereinen, ergeben sich daraus, wie spezifisch ein Ereignis in einer Einzelsprache dargestellt werden muss und wie dies grammatikalisch mithilfe verschiedener temporaler Kategorien direkt am Verb realisiert wird.

Die ersten sprachdifferentiellen Studien zum Blickbewegungsverhalten, die bei uns im Projekt durchgeführt wurden, haben erkennen lassen, dass in Verbindung mit Präferenzen der Informationsorganisation auch visuelle Aufmerksamkeitsstrukturen variieren. In anderen Worten, die Muster des Blickbewegungsverhaltens bestätigen die in der sprachlichen Darstellung beobachteten Kontraste.

In Bezug auf die bereits erwähnte Filmszene lässt sich über die Blickbewegungsmuster Folgendes sagen: Sprecher des Deutschen oder des Tschechischen betrachten das Zielobjekt (das Haus im oben genannten Beispiel) länger und häufiger als Englischsprachige oder Sprecher des Arabischen. Auch die Analysen der Gedächtnisdaten bestätigen dieses Muster. Wenn Sprecher einer Sprache bestimmte Komponenten einer Szene in der Versprachlichung systematisch zum Ausdruck bringen (beziehungsweise bringen müssen), erinnern sie sich auch besser an diese Bestandteile. Auch in diesem Experiment ergeben sich die uns bereits vertrauten Sprachgruppen: Die Sprecher des Deutschen und die Sprecher des Tschechischen erinnern sich viel häufiger an die im Gedächtnistext überprüften Endpunkte eines Bewegungsereignisses als Sprecher des Englischen, Arabischen oder Spanischen.

Neben unterschiedlichen Muttersprachen werden auch so genannte Zweitsprachen erforscht. Im Zentrum steht dabei die Frage, in welcher Weise die Verwendung einer Nicht-Muttersprache, die auf einem sehr hohen Niveau beherrscht wird, die oben beschriebenen Prozesse – also die Prozesse der Informationsauswahl und -organisation – beeinflusst.

Hier zeigt sich, dass bei der Verwendung einer Fremdsprache die sehr abstrakten Prinzipien der Informationsorganisation aus der Muttersprache in den meisten Fällen beibehalten werden – auch wenn das formale System der Fremdsprache im Grunde vollständig beherrscht wird. Dies lässt erkennen, dass es auch für sehr fortgeschrittene Lerner außerordentlich schwierig ist, die Präferenzen der Informationsverarbeitung und -auswahl mit den zielsprachlichen Formen zu erwerben.

Aufgrund dieser auf breiter empirischer Basis gewonnenen Ergebnisse lässt sich folgende These aufstellen: Sprachliche Strukturen steuern konzeptuelle Prozesse mit. Die Konzeptualisierungsschemata, die in der Enkodierung von temporalen Ereignissen verschiedene Präferenzen für die Informationsverarbeitung setzen, weisen einen sprachspezifischen Charakter auf. Die These unserer Projektgruppe stellt damit die bisher in der Kognitionsforschung vorherrschende Position von der Universalität kognitiver Prozesse in Frage.

Barbara Schmiedtová  
Barbara Schmiedtová arbeitet seit 2005 als wissenschaftliche Assistentin im Seminar für Deutsch als Fremdsprachenphilologie (SDF). Nach dem Studium der deutschen Philologie (mit Schwerpunkt Neurolinguistik), Philosophie und deutschen Literatur an den Universitäten Prag, Freiburg in Breisgau, Basel und Strasbourg forschte die gebürtige Tschechin im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen und wurde von der Radboud Universität Nijmegen mit einer Arbeit über den Ausdruck der Simultanität im Zweitspracherwerb promoviert. Seit April 2007 habilitiert sie sich am Lehrstuhl von Prof. Dr. Christiane von Stutterheim (SDF). Barbara Schmiedtová wurde für ihre Arbeiten Ende 2007 mit dem Klaus-Georg und Sigrid Hengstberger-Preis ausgezeichnet.
Kontakt: schmiedtova@idf.uni-heidelberg.de


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