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Molekulare Rasterfahndung

Präzise ansetzende Diagnoseinstrumente lassen erkennen, wie gefährlich Tumorzellen sind

von Heike Allgayer

Die Ergebnisse moderner molekularbiologischer Forschung fließen immer stärker in die Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen ein. Die detaillierte Analyse molekularer Charakteristika von Tumorzellen kann dazu beitragen, Patienten zu erkennen, die besonderes gefährdet sind, erneut an ihrem Krebsleiden zu erkranken und einer intensiveren Therapie oder Nachsorge bedürfen. Unter herkömmlichen Diagnosekriterien bleiben diese Patienten allzu oft unerkannt.

Die Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen hat sich in den letzten Jahren erheblich weiterentwickelt. Nach wie vor lassen sich jedoch wichtige klinische Fragen nur unzureichend beantworten, etwa: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Patient auf eine Therapie anspricht? Wie hoch ist sein Risiko, dass der Tumor zu einem späteren Zeitpunkt erneut auftritt? Die molekularbiologische Forschung kann Antworten auf diese Fragen geben; schon heute fließen einige ihrer Ergebnisse in die Tumordiagnose und in therapeutische Überlegungen ein.

Die Klassifikation, also das Bestimmen des Stadiums einer Tumorerkrankung, und die darauf basierende Entscheidung für eine bestimmte Therapieform erfolgt bislang vorwiegend nach morphologischen Kriterien: Wie tief ist der Tumor in umgebendes Gewebe vorgedrungen? Sind die Lymphknoten befallen? Haben sich Tumorzellen als Fernmetastasen in anderen Körperregionen angesiedelt? Präziser als mit herkömmlichen morphologischen Kriterien lassen sich Tumoren klassifizieren, wenn molekulare Charakteristika einbezogen werden.

Die Vorteile lassen sich am Beispiel seltener erb­licher Tumorerkrankungen aufzeigen, wo die molekulare Diagnose bereits seit einiger Zeit erfolgreich praktiziert wird. So ist es bei bestimmten erblichen Darmkrebsformen inzwischen möglich, Risikoträger innerhalb von Familien, bei denen Darmkrebs ­gehäuft auftritt, sicher zu bestimmen. Den von dem genetischen Fehler Betroffenen kann sodann eine engmaschige Vorsorge angeboten werden, die es erlaubt, Frühstadien der Krebserkrankung zu erkennen und rechtzeitig zu behandeln.

„Zielscheiben“ für Medikamente

Auch bei nicht erblichen Tumoren – das ist die Mehrheit aller Tumorerkrankungen –, wäre es wünschenswert, dass eine derart präzise molekulare Risikodiagnostik in die klinische Entscheidungsfindung einbezogen werden kann. In den letzten zehn Jahren wurde eine große Zahl molekularer Charakteristika beschrieben, die auch bei häufig vorkommenden Tumoren eine Aussage über die Prognose, also den weiteren Verlauf der Erkrankung, zulassen. In einigen Studien haben diese Marker bereits teilweise bewiesen, dass sie in der Lage sind, die Prognose vorherzusagen, Hochrisikopatienten herauszufinden oder auf ein spezielles therapeutisches Vorgehen hinzuweisen.

Seit wenigen Jahren werden darüber hinaus neue Therapiestrategien entwickelt, die auf den neuen molekularen Erkenntnissen beruhen: Bestimmte Moleküle, von denen man weiß, dass sie am Entstehen und Fortschreiten einer Tumorerkrankung beteiligt sind, werden als „Zielscheiben“ für neue Krebsmedikamente genutzt. Als Beispiel sei die so genannte EGF-Rezeptor-basierte Therapie genannt: Ein neuer Wirkstoff richtet sich gegen einen bestimmten Rezeptor (EGF-R=epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor), ein Molekül, das sich natürlicherweise auf der Oberfläche von Zellen befindet, von Krebszellen aber häufig übermäßig gebildet wird und sie dabei unterstützt, sich unkontrolliert zu teilen. Erste klinische Studien zur EGF-Rezeptor-basierten Therapie, insbesondere bei Dickdarm- und Lungenkrebs, endeten viel versprechend. Es gibt inzwischen noch zahlreiche weitere Moleküle, die mit Tumorerkrankungen assoziiert sind und als therapeutische Ziele in Frage kommen. Sie werden derzeit in klinischen Studien geprüft.
 
In unserer „Kooperationseinheit Molekulare ­Onkologie“ untersuchen wir derzeit gemeinsam mit Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und zahlreichen weiteren Kooperationspartnern Moleküle, die an der folgenschweren Metastasierung von Tumorzellen beteiligt sind. „Metastasierung“ meint die Fähigkeit von ­bösartigen Zellen, den Ort ihres Entstehens, den „Primärtumor“, zu verlassen, in gesundes Gewebe vorzudringen (Invasion), sich mit dem Blut im Körper auszubreiten (Dissemination) und an einer anderen Stelle des Körpers eine Tochtergeschwulst (Metas­tase) zu bilden. Die Metastasierung unterscheidet den bösartigen vom gutartigen Tumor.

Das Phänomen der Metastasierung kommt unter anderem dadurch zustande, dass Tumorzellen bestimmte Enzyme, so genannte Proteasen, ausscheiden, mit deren Hilfe sie Gewebe zerstören, insbesondere Strukturen des Bindegewebes und Bestandteile der Blutgefäßwände. Das erst versetzt Tumorzellen in die Lage, in „fremdes Terrain“ vorzudringen und sich im Körper auszubreiten. Eines der wichtigsten Proteasen-Systeme ist das „Urokinase-System“ (u-PA-System). Bei vielen Tumorzellen, beispielsweise bei Magen-, Dickdarm-, Brust- oder Lungen­tumorzellen, wird ein für das System wichtiger Re­zeptor, der Urokinase-Rezeptor (u-PAR), übermäßig gebildet. Der Rezeptor bindet das Enzym Urokinase (u-PA), worauf es zu einer kaskadenartigen Aktivierung weiterer Enzyme kommt, die in konzertierter Aktion Strukturen der umgebenden Gewebe auflösen. Darüber hinaus kann das Urokinase-System mit anderen Molekülen, beispielsweise mit Integrinen, zusammenwirken und im Zellinnern Signalketten auslösen, die ihrerseits die Tumorzellen dazu anregen, sich unkontrolliert zu teilen. Unter gewissen Be­dingungen kann es zu einer Unterbrechung dieser speziellen Urokinase-Rezeptor-Integrin-Interaktion kommen: Die Tumorzelle wird in einen Ruhezustand („Dormancy“) versetzt, in dem sie jahrelang ausharrt – um später möglicherweise zum Ausgangspunkt für ein Tumorrezidiv, ­einen wieder auftretenden Tumor, zu werden.

Enzyme verraten Tumorrezidive

Zahlreiche klinische Arbeiten haben in den vergangenen Jahren überzeugend gezeigt, dass der molekularbiologische Nachweis einer hohen Aktivität des Urokinase-Systems ein ungünstiger Prognosefaktor ist, vor allem für das Wiederauftreten von Tumoren der Brust, des Magens und des Dickdarms. Unsere ­eigenen Arbeiten ergaben, dass das Urokinase-System auch auf einzelnen Tumorzellen nachweisbar ist und dass man diese Zellen bei Tumorpatienten beispielsweise im Knochenmark finden kann.

Mit der molekularen Bestimmung des Urokinase-Systems in Tumoren sowie auf einzelnen Tumorzellen konnten wir bereits vor einigen Jahren das bisherige Modell für die Klassifikation des Magenkarzinoms ­erweitern und Risikopatienten präziser bestimmen. Dabei stellte sich interessanterweise heraus, dass die klinische Prognose unter Einbeziehung der neuen mole­kularen Parameter anders aussah als es aufgrund der herkömmlichen, rein morphologischen Tumorklassifikation zu erwarten gewesen wäre.

Es zeigte sich beispielsweise folgender Zusammenhang: Bei Patienten mit Magenkrebs in einem frühen Stadium, bei denen die Lymphknoten nicht von ­Tumorzellen befallen sind, geht man unter klinischen Gesichtspunkten generell eher davon aus, dass sie ­eine relativ gute Prognose haben. Waren bei ihnen jedoch eine hohe Aktivität des Urokinase-Systems und zudem abgewanderte Tumorzellen im Knochenmark zu finden, reduzierte sich die rezidivfreie Überlebenszeit erheblich: Diese neue Hochrisikogruppe verhielt sich hinsichtlich ihrer mittleren rezidivfreien Überlebenszeit ungünstiger als die Gruppe derjenigen Patienten, bei ­denen Tumorzellen bereits in die Lymphknoten eingewandert waren.

Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass mithilfe weniger zusätzlicher molekularer Parameter Risikogruppen bestimmt werden können, die einer besonderen Behandlung bedürfen und ohne den molekularbiologischen Nachweis unerkannt bleiben. Der Vorteil einer derartigen Tumorklassifikation besteht nicht allein darin, dass man eine Hochrisikogruppe diag­nostisch erkennen und engmaschig überwachen kann – auch besondere therapeutische Maßnahmen sollten folgen und neue molekulare Therapien aufgrund der neuen Erkenntnisse entwickelt werden, die auf spezielle Patientenrisikogruppen zugeschnitten sind.
 
Aus diesen Gründen interessieren wir uns besonders für die Frage, wie der Urokinase-Rezeptor in der Tumorzelle reguliert wird, wie es also dazu kommt, dass die Zelle den Rezeptor auf ihrer Ober­fläche übermäßig ausbildet und infolgedessen ein besonderes Metastasierungspotenzial erwirbt. Gemeinsam mit anderen Arbeitsgruppen ist es uns gelungen, zahlreiche molekulare Regulatoren zu identifizieren, die dies in der Tumorzelle bewerkstelligen. Es handelt sich dabei vor allem um so genannte Transkriptionsfaktoren – Proteine, die unmittelbar an den regulierenden Abschnitt (den „Promotor“) desjenigen Gens binden, das die Information für den Bau des Urokinase-Rezeptors trägt. Die Folge ist, dass der Rezeptor im Übermaß gebildet und in die Zellmembran eingebaut wird. Die Transkriptionsfaktoren (zum Beispiel Sp1, AP-2, AP-1) werden zusätzlich von zahlreichen übergeordneten Signalkaskaden beeinflusst (etwa c-Src, K-Ras).

In jüngster Zeit untersuchten wir Ansätze, wie die Faktoren, die den Urokinase-Rezeptor regulieren, gehemmt werden können. Das Ziel ist, die übermäßige Bildung des Rezeptors – und mit ihm die Metastasierungsfähigkeit der Zelle – zu unterbinden. Dies kann unseren Untersuchungen nach erreicht werden, wenn man beispielsweise den Transkriptionsfaktor AP-2, die Signalmoleküle c-Src und K-Ras hemmt oder einen erst kürzlich charakterisierten Tumorsuppressor (Pdcd4) aktiviert.

Auf diesen Erkenntnissen wollen wir nun weiter aufbauen. Unser Anliegen ist, eine weitere Präzisierung von Hochrisikopatienten vorzunehmen. Darüber hinaus wollen wir feststellen, ob es möglicherweise molekulare Regulationsmechanismen gibt, die sich in Tumorzellen – nicht aber in normalen Zellen – ereignen. Dies würde es erlauben, eine Gruppe von Patienten herauszuarbeiten, für die künftige neue, molekulare Therapienstrategien geeignet sein könnten, die dann an einer nahezu tumorspezifischen Eigenschaft ansetzen könnten.

Hinsichtlich dieser therapeutischen Fragestellung haben wir in den letzten zwei Jahren eine großen Anzahl von Tumorgewebeproben systematisch nach den entsprechenden Transkriptionsfaktoren durchmustert und mit Proben verglichen, die aus gesundem Gewebe der Patienten stammen. Die Untersuchungen erfolgten bei Patienten mit Dickdarm- oder Magenkrebs. Es zeigte sich, dass bestimmte Transkriptionsfaktoren tatsächlich überwiegend im Tumor-, nicht jedoch im Normalgewebe aktiv sind: Im Falle des Transkriptionsfaktors Sp1 haben wir beispielsweise gesehen, dass fast 60 Prozent der von uns un­tersuchten Patienten eine nahezu tumorspezifische Bindung dieses Transkriptionsfaktors an den Uro­kinase-Rezeptor-Promotor aufwiesen. Andere Tran­skriptionsfaktoren, die an den Urokinase-Rezeptor-Promotor binden (beispielsweise die AP-1-Gruppe), zeigten eine weniger ausgeprägte tumorspezifische Regulation des Rezeptors.

Diese ersten Untersuchungen deuten darauf hin, dass bestimmte molekulare Regulationsmechanismen in bestimmten Patienten offensichtlich speziell im Tumorgewebe wirken und zu einer übermäßigen Bildung des Urokinase-Rezeptors führen. Diese Erkenntnis könnte künftig eine Gruppe von Patienten abgrenzen lassen, bei der eine molekulare Therapie möglich werden könnte, die speziell an dieser Besonderheit des Tumorgewebes ansetzt.

Unsere Studien erbrachten noch ein weiteres interessantes Ergebnis: Es zeigte sich, dass Patienten, in deren Tumorgewebe eine hohe Bindung des Transkriptionfaktor Sp1 an den Urokinase-Rezeptor-Promotor nachgewiesen werden konnte, eine sehr ungünstige Prognose haben. In einem Klassifikationsmodell, das die hohe Bindung von Sp1 an den Promoter rechnerisch einbezieht, ließ sich daraufhin erneut eine Hochrisikogruppe herauskristallisieren, die nach rein klinischen Kriterien unerkannt geblieben wäre.

Die Zusammenhänge: Wenn bei einem Patienten eine so genannte kurative Tumorresektion möglich ist – der Tumor also chirurgisch restlos entfernt werden kann –, ist seine Überlebenswahrscheinlichkeit größer als bei einem Patienten, bei dem eine solche Operation aufgrund des fortgeschrittenen Stadiums seiner Erkrankung nicht mehr erfolgen kann. Unsere Untersuchungen bei Patienten mit Dickdarmkrebs zeigten, dass eine hohe Bindung des Transkriptionsfaktors Sp1 an den Urokinase-Rezeptor-Promotor im Tumorgewebe eine neue Hoch­risikogruppe anzeigt – und zwar innerhalb der Gruppe von Patienten, die kurativ operiert werden konnten und „eigentlich“ eine gute Prognose hat. Es stellte sich heraus, dass sich die mittlere Überlebenszeit dieser neuen Hochrisikogruppe nicht von der Über­lebenszeit der nicht komplett operablen Patienten unterscheidet.
 
Dies ist ein weiterer Beleg dafür, wie detaillierte molekulare Analysen herangezogen werden können, um die individuelle Prognose der Patienten besser einzuschätzen. Dieses Beispiel zeigt darüber hinaus, dass die molekularbiologische Analyse innerhalb einer Gruppe von Patienten mit vermeintlich günstiger Prognose einzelne „Wölfe im Schafspelz“ erkennen lässt, die einer anderen Behandlung bedürfen. Man darf in den kommenden Jahre darauf hoffen, dass das verstärkte Einbeziehen molekularer Analysen in die Tumordiagnostik auch für die Tumortherapie nutzbringend sein wird.

Prof. Dr. Dr. Heike Allgayer leitet seit Oktober 2004 die neue Abteilung Experimentelle Chirurgie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg sowie die Ko­operationseinheit Moleku­lare Onkologie solider Tumoren am Deutschen Krebsforschungszentrum, Heidelberg.  
Prof. Dr. Dr. Heike Allgayer leitet seit Oktober 2004 die neue Abteilung Experimentelle Chirurgie an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg sowie die Ko­operationseinheit Moleku­lare Onkologie solider Tumoren am Deutschen Krebsforschungszentrum, Heidelberg. Sie wurde sowohl als Chirurgin und als Molekularbiologin an der LMU München und am MD Anderson Cancer Center, Houston/USA, ausgebildet und wurde bisher mit 20 wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Wissenschaftspreis der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung 2005.

Kontakt:
heike.allgayer@chir.ma.uni-heidelberg.de,
Telefon: 06 21/3 83 22 26

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