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Canossa – Sieg der Moral?

Mit dem legendären Gang Heinrichs IV. begann die Entzauberung der Welt

von Stefan Weinfurter


Canossa hat Konjunktur. Nicht nur wegen großer Ausstellungen, die sich immer wieder neu dem Thema widmen, sondern auch, weil es einen festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis hat. Ohne „Canossa“ ist unsere Gesellschaftsordnung nicht denkbar, wir alle sind mit Canossa verbunden. Dies deutlich zu machen und die entscheidenden Wirkkräfte zu beschreiben, war das Ziel verschiedener wissenschaftlicher Projekte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg.

„Seien Sie außer Sorge, nach Canossa gehen wir nicht – weder körperlich noch geistig.“ Seit der eiserne Kanzler Bismarck am 14. Mai 1872 vor dem Reichstag diese berühmten Worte sprach, hat Canossa in unserem kollektiven Gedächtnis seinen festen Platz. Nach Canossa wollen wir auch heute nicht gehen, aber dennoch sind wir alle damit verbunden. Unsere Gesellschaftsordnung ist ohne „Canossa“ nicht denkbar.

Schon die Zeitgenossen haben die tief greifenden Wirkungen von Canossa empfunden. Berühmt ist der 1085 niedergeschriebene Satz des Bischofs Bonizo von Sutri: „Als die Kunde von der Bannung des Königs an die Ohren des Volkes drang, erbebte unser ganzer römischer Erdkreis!“ Gemeint ist der Bann, den Papst Gregor VII. am 22. Februar 1076 gegen den römisch-deutschen König Heinrich IV. verkündet hatte. Der Bannspruch war in ein Gebet an den Apostelfürsten Petrus gekleidet: „Heiliger Petrus“, so lauteten die Worte, „Fürst der Apostel, neige, so bitten wir, gnädig dein Ohr und erhöre mich, deinen Knecht (...). Ich glaube fest daran, dass es dir in deiner Gnade (…) gefällt, dass das christliche Volk, das dir ganz besonders anvertraut ist, mir gehorcht (…). Ich glaube auch fest daran, dass mir um deinetwillen von Gott die Gewalt gegeben ist, zu binden und zu lösen, im Himmel wie auf Erden. In dieser festen Zuversicht (...) spreche ich König Heinrich (...), der sich gegen deine Kirche mit unerhörtem Hochmut erhoben hat, die Herrschaft über Deutschland und Italien ab und löse alle Christen vom Eid, den sie ihm geleistet haben oder noch leisten werden, und untersage, dass man ihm künftig als König diene. (...) Weil er es verschmäht hat, wie ein Christ zu gehorchen, (...) binde ich ihn mit der Fessel des Fluchs (...).“ Diesen Bannspruch, der den König schließlich zum Bußgang nach Canossa führte, kommentierte etwa 70 Jahre später der berühmte Chronist Otto von Freising so: „Ich lese wieder und wieder die Geschichte der römischen Könige und Kaiser. Doch finde ich vor Heinrich keinen einzigen unter ihnen, der vom römischen Papst exkommuniziert worden wäre.“

„Canossa“ ist untrennbar verbunden mit dem Namen Papst Gregors VII. (1073–1085). Sein Reformprogramm war revolutionär und niedergelegt in seinem berühmten Dictatus Papae von Anfang März 1075. Es umfasst 27 Leitsätze, die es in sich hatten. Vieles, was Gregor hier notierte, entnahm er den kirchenrechtlichen Traditionen und Fälschungen, vor allem dem Constitutum Constantini und den ‚Pseudoisidorischen Fälschungen‘. Aber manches war ohne Vorbild – und zeugt von atemberaubender Kühnheit. Niemand hatte vorher behauptet, dass der Papst bei kanonisch gültiger Weihe „unzweifelhaft heilig“ sei – so der Satz 23. Vielmehr hatte man bis dahin eine Heiligkeit schon zu Lebzeiten als absurd angesehen. Niemand auch hatte so eindeutig formuliert, dass der Papst „Abwesende absetzen“ dürfe, wie es nun in Satz 5 des Dictatus Papae formuliert wurde. Dieser Anspruch wiederholt sich nochmals in Satz 25: „Dass der Papst ohne Synode Bischöfe absetzen und wieder einsetzen kann.“ Diese Behauptung widersprach eigentlich dem geltenden römischen und kirchlichen Recht und auch den ‚Pseudoisidorischen Dekretalen‘, an denen sich Gregor VII. sonst gerne orientierte. Ebenso hatte niemand in der Westkirche bisher den Satz für sich verwendet, „dass nur der römische Bischof zu Recht ‚universal‘ genannt werden darf“ (Satz 2). Diesen Anspruch hatte einst Papst Gregor I. um 600 als töricht und anmaßend abgetan, als sein Amtskollege in Konstantinopel sich damit schmückte. Nicht weniger erstaunlich war der siebte Satz: „Dass es dem Papst allein erlaubt ist, im Falle der Notwendigkeit neue Gesetze zu erlassen (novas leges condere)“. Das klang unerhört. Bisher hatte man sich immer darum bemüht zu betonen, man wolle gar nichts Neues beschließen, sondern das alte Recht zur Gültigkeit bringen. Geradezu ungeheuerlich musste es schließlich anmuten, wenn der Papst in Satz 12 behauptete, „dass es ihm erlaubt sei, Kaiser abzusetzen“. Dazu gehörte auch noch Satz 27: „Dass er Untergebene vom Treueid gegenüber Sündern lösen kann“. So etwas hatte bis dahin niemand behauptet.

Doch Gregor VII. ging mit ganzem Einsatz daran, diese Positionen in der gesamten westlichen Kirche durchzusetzen. Erstmals in der Geschichte der Kirche strömte eine Flut von Briefen und Anordnungen von Rom aus. Sie erreichten die verschiedensten Empfänger bis an die Grenzen des orbis Romanus. Der „römische Erdkreis“: Das wurde jetzt die Formel für die Zuständigkeit des Papstes. Damit war der Bereich gemeint, der weit über das Reich und Italien und über das Kaisertum hinausging, ein Raum, für den die Bezeichnung Hesperia aufkam, also „Abendland“. Es entstand ein völkerübergreifender ‚Ordnungsraum‘, der vom Reformpapsttum in Rom abgesteckt und gefüllt werden sollte. Keineswegs wurde damit „Europa“ geschaffen, aber wir dürfen die integrative Kraft, die auf diese Weise auf große Teile Europas einwirkte, auch nicht unterschätzen.

Die Briefe des Papstes gingen an Weltliche wie an Geistliche. Unermüdlich schärfte ihnen Gregor VII. die Reformgrundsätze ein. Ständig waren päpstliche Boten in der westlichen Christenheit unterwegs, um die päpstlichen Unterweisungen zu überbringen. Stets stand an erster Stelle die Gehorsamsforderung. Dies veranlasste den Erzbischof Liemar von Bremen (1072–1101) zu den viel zitierten Worten: „Dieser gefährliche Mensch (homo periculosus) will den Bischöfen, was immer er will, befehlen, so als wären sie seine Gutsverwalter (villici), und wenn sie nicht alles erfüllt haben, sollen sie nach Rom kommen oder werden ohne gerichtliches Urteil des Amtes enthoben.“

Es sind nicht nur hochsteigende Emotionen, die man hier wahrnehmen kann. Vielmehr stießen zwei Ordnungs-Prinzipien aufeinander: das episkopalistische und das monarchisch-papalistische. Die Bischöfe sahen sich als korporatives Kollegium. Nur gemeinschaftlich sollte über einen der ihren zu Gericht gesessen werden. Der Papst aber entschied aus einsamer Höhe herab. Und noch ein zweites kam hinzu: Die Bischöfe sollten dem Papst und seinen Legaten unbedingten Gehorsam entbieten. Das aber richtete sich gegen jede hergebrachte Ordnung. Gehorsam konnte in dieser Zeit nur von den Unfreien villici verlangt werden, den „Gutsverwaltern“. Einem Bischof dagegen, einem Nachfolger der Apostel, dem höchs­ten und vornehmsten Repräsentanten seiner Kirche, Befehle zu erteilen, erschien geradezu absurd. Doch das hierarchische Prinzip der religiös-moralischen Instanz „Papst“ setzte sich unaufhaltsam durch und schuf eine völlig neuartige ‚Gehorsamhierarchie‘ im neuen orbis Romanus.

Auch der König sollte gehorchen, der Salier Heinrich IV. (1056-1106) – und sich damit in das Kollektiv der Gehorsamen einreihen. In ihm sah der Papst einen König wie alle anderen, alle in ihrem Verhältnis zum Papsttum gleichgestellt. Der „König der Römer“ (rex Romanorum), wie der Titel des salischen Herrschers lautete, wurde von Gregor VII. deshalb zum ersten Mal „deutscher König“ (rex Teutonicus) genannt. „Deutsches Reich“ und „deutscher König“ sind Bezeichnungen, die damals in Rom geprägt und in den Norden exportiert wurden. Der deutsche König stand aus dieser Perspektive neben dem König von Frankreich, dem König von England, dem König von Dänemark, dem König von Ungarn und anderen Königen im orbis Romanus. Die Vision einer Gemeinschaft gleichrangiger Völker und Könige begann sich abzuzeichnen, die sich im ‚Großraum des Gehorsams‘ vereinten.

Dem Papst gehorchen: Das bedeutete für den ­römischen König, Heinrich IV., einen fundamentalen Angriff auf seine Legitimation. Er sah sich selbst als Stellvertreter des himmlischen Königs (vicarius Christi), nur diesem verantwortlich und allein durch ihn in seiner Autorität legitimiert. Nun jedoch sollte Gott nicht mehr durch ihn, sondern durch den Papst sprechen. So kam es zur Erhebung der ‚Un­gehorsamen‘ in der Interessensgemeinschaft von ­König und Bischöfen. Im Januar 1076 kündigten sie auf einem Hoftag in Worms dem Papst den Gehorsam auf. Wenige Wochen später folgte die Reaktion Gregors VII.: Über den König und die Bischöfe sprach er die Exkommunikation aus und entband alle Fürsten vom Treueid. A vinculo iuramenti absolvo, so lautete die Formel. Der König war aus der Kirche ausgeschlossen, niemand sollte mehr mit ihm verkehren dürfen, er war der Hölle und der Verdammnis ausgeliefert, und jeden sollte dasselbe Schicksal treffen, der ihm helfen würde. Allein mit geistlichen Waffen wurde dieser Schlag geführt, allein mit re­ligiös-moralischen Werte- und Ordnungsvorstellungen wurde der hierarchische Umbau der westchristlichen Welt vorangetrieben und ihr Geltungsraum abgesteckt.

Kampf zwischen den Guten und den Bösen

Was waren die Ursachen für diese Vorgänge und Entwicklungen? Bei dieser Frage muss man den Blick darauf richten, dass der Papst die Untertanen vom Treueid gegenüber dem König entbunden hat. Das war ein ungeheuerlicher Akt. Der Eid hatte bis dahin als die unumstößliche und verpflichtende Klammer in der politischen und gesellschaftlichen Ordnung gegolten. Ein Eid war nach damaliger Auffassung nicht einseitig aufhebbar, sonst wäre dies wie ein Meineid gewesen, eine der schlimmsten Sünden an der Gemeinschaft. Wie aber konnte sich der Papst über den Eid erheben?

Man kann beobachten, dass sich die Kirche schon in den Jahren zuvor gleichsam des Eides bemächtigt hatte. In Mailand war es dem päpstlichen Legaten gelungen, die dort entstandene sozial-religiöse Revolte der Unterschichten (Pataria), die gegen den etablierten Klerus gerichtet war, auf die Seite des Papstes zu ziehen. Dabei wurde der Eid der Schwurgenossenschaft mit einem kirchlichen Gelöbnis und einem Glaubenbekenntnis verknüpft. Der politische Eid der Pataria wurde auf diese Weise umgewandelt in ein von der Kirche verwaltetes und kontrolliertes ‚Sakrament‘. Das bedeutete einen eminent wichtigen Schritt, denn damit war das Tor dafür geöffnet, dass die Kirche über die Gültigkeit des Eides entscheiden konnte. In der Tat wurden schon kurz darauf erstmals Eide vom Papst für ungültig erklärt. Die Kriterien der Kirche wurden damit auch in der Praxis über die der bisherigen gesellschaftlichen Ordnung und über die Bindekraft der Rechtstraditionen gestellt.

In der Folge brachen heftige Diskussionen um die Frage des Eides aus. Seine Unauflöslichkeit sah man einerseits in der Bibel selbst verankert. Andererseits argumentierte man damit, dass ein König, der sich von der Gerechtigkeit, dem Glauben und dem Frieden entferne, den Eid von sich aus auflöse. Das Volk sei dann frei, einen anderen zum König zu erheben, denn einem Bösen dürfe man keinen Eid leisten. Wenn dies dennoch geschehe, sei dieser Eid wie ein Meineid, denn man habe ihn gar nicht schwören dürfen. Außerdem sei es nach Augustinus auch ein Mein­eid, „dasjenige zu verletzen, was zu schwören wäre“ (iurata iuranda violare periurium est). Schon eine neutrale Haltung musste demnach sündhaft sein. Wer das Gute nicht offensiv vertrat, war böse. Das Böse und die Sünde aber gefährdeten das Seelenheil, daher mussten die ‚Guten‘ dagegen kämpfen. Alle diese Wertedebatten und Vorgänge brachten eine neue ‚Moralelite‘ hervor, die in Kirche und Welt zugleich großen Einfluss entwickelte. Sie wurde von ihren Gegnern als anmaßend empfunden, als eifernd, radikal und intolerant. Aber sie zog die Mächtigen in ihren Bann. Adlige und Fürsten, die auf sich hielten, schlossen sich dieser Elite an und begannen, sich nach den neuen Werten auszurichten und sich in ­ihrem Handeln daran zu orientieren.
 
Eine kollektive Kussorgie

Nach dem Bannspruch des Papstes gegen den König versammelten sich die Fürsten, die sich zu den ‚Guten‘ rechneten, im Herbst 1076 in Trebur, um für den Frieden zu sorgen. Alte Feinde versöhnten sich unter diesem neuen Vorzeichen guten Handelns. Sie ließen ihre Vasallen in langen Reihen antreten, die sich dann gegenseitig küssten und Tränen vergossen – eine kollektive Kussorgie, möchte man sagen. Die ‚guten Fürsten‘ nahmen die Sache in die Hand und wählten ein halbes Jahr später mit Rudolf von Rheinfelden, Herzog von Schwaben, einen neuen König, in dem man einen guten König sah.

Drei Jahre später, 1080, kam es zur Entscheidungsschlacht zwischen den beiden Königen. An der Weißen Elster in Thüringen trafen die Heere aufei­nander. Das Heer Rudolfs von Schwaben, so wird
berichtet, habe im Voranstürmen den Psalm 83 rezitiert: „Gott bleib nicht still, bleib nicht stumm! Sieh doch, deine Feinde toben, die dich hassen. Sie er­heben ihr Haupt, ersinnen listige Pläne gegen dein Volk, halten Rat gegen die, die sich bergen bei dir (...). Mach es mit ihnen wie mit Midian und Sisera, wie mit Habin am Bach Kischon, die du bei en-Dor vernichtet hast: Sie wurden zu Dünger für die Äcker (...). Mein Gott, lasse sie dahinwirbeln wie Staub, wie Spreu vor dem Wind! Wie das Feuer, das ganze Wälder verbrennt, wie die Flamme, die Berge versengt, so jage sie davon mit deinem Sturm und schrecke sie mit deinem Gewitter!“ Die ‚Guten‘ waren sich ihrer Sache sicher. Sie hielten sich für die Auserwählten des Herrn.

Sie waren auch die Sieger der Schlacht. Aber ihr König, Rudolf von Schwaben, wurde verletzt durch einen Stich in den Unterleib. Außerdem wurde ihm die rechte Hand abgeschlagen. Einen Tag später war er tot. Für die Anhänger des Königs war das ein klares Urteil Gottes: Rudolf war an der Hand bestraft worden, mit der er einst Heinrich IV. die Treue geschworen hatte. Jetzt war er als Meineidiger entlarvt. Für die Anhänger Rudolfs indes war es ein ganz anderes Zeichen Gottes: Er hatte ihrem König das Martyrium geschenkt. Daher bestatteten sie ihn im Chor des Domes von Merseburg, wo eigentlich nur Heilige ­ruhen durften. Rudolf war in ihren Augen nicht als Rivale Heinrichs im Kampf um das Königtum gefallen, vielmehr hatte er sein Leben in einem Kampf verloren, den er für Gott geführt hatte und der eng verwoben war mit der religiös-moralischen Idee des guten und auserwählten Christen.

An dieser Stelle werden wir uns fragen müssen, weshalb sich in dieser Zeit der religiös-moralische Anspruch so stark entfalten konnte. Die Ursache dafür ist wohl darin zu suchen, dass sich die Gesellschaft im 11. Jahrhundert funktional ausrichtete. Vorher, im früheren Mittelalter, überwog die Vorstellung, dass die Gesellschaft in die drei Stände der Mönche, der Kleriker und der Laien einzuteilen sei. Diese drei Gruppen wurden nach ihrem Heilswert gebildet. Die Lebensweise der Mönche galt als diejenige, die am ­sichersten in den Himmel führte. Die Lebensweise der Laien hatte dagegen den geringsten Heilswert.

Im beginnenden 11. Jahrhundert trat dagegen ein ganz anderes Modell zur Deutung und Gliederung der Gesellschaft in den Vordergrund. Dieses Deutungsschema, das die salische Epoche bestimmte, ist – auch wenn es sich schon auf Plato zurückleiten ließ – gegenüber dem alten als revolutionär zu bezeichnen. Es gliederte die Gesellschaft nicht mehr nach biblischen und heilsgeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern nach den irdischen Funktionen. Demnach gab es eine Gruppe derer, die beten, nämlich die oratores, also den Klerus. Dann gab es die Gruppe derer, die kämpfen, die pugnatores, also die Krieger, die später Ritter genannt wurden. Schließlich war da noch die Gruppe derer, die arbeiten, die laboratores oder agricultores, die Arbeiter oder Bauern.
 
Über diese neue Ordnung berichtet uns der Bischof Adalbero von Laon im frühen 11. Jahrhundert mit den Worten: „Dreigeteilt ist das Haus Gottes: die einen beten, die anderen kämpfen, die dritten arbeiten. Es gibt nur diese drei Gruppen, eine weitere Teilung gibt es nicht. Durch die Pflicht des einen Teils können die anderen sich ihren Aufgaben widmen, und durch die jeweiligen Pflichten ist allen gedient.“ Dann geht er näher auf die Lage der Arbeitenden ein. Er bedauert sie, aber ihr Los sei nicht zu ändern: „Dieses gebeugte Geschlecht von Menschen hat nichts als seine Arbeit“, so lauten seine Worte, und er fährt fort: „Wer kann ihre Pflichten beschreiben, ihre Mühsal, ihren Einsatz, ihre überaus schweren Arbeiten? Für alle müssen sie die Kleidung und die Verpflegung schaffen, und kein Adliger kann ohne die Arbeiter leben.“ Die Unfreiheit der Arbeiter wird bei Adalbero als Voraussetzung für das Funktionieren der Gesellschaft angesehen. Die alte christliche Auffassung, dass die Freiheit aller Menschen das Ursprüngliche und die Unfreiheit nur eine Folge der Sünde sei, rückte in den Hintergrund.

Die Funktionalisierung der gesellschaftlichen Ordnung erklärt auch, weshalb der Stand der Mönche in diesem Modell im Stand der Kleriker aufging. Für die Menschen im Ganzen gesehen, war die Funktion der Kleriker viel wichtiger als die der Mönche. Die Mönche strebten die Selbstheiligung an. Die Kleriker dagegen hatten sich um das Seelenheil der Mitmenschen zu kümmern, damit sie vor dem Jüngs­ten Gericht bestehen könnten. Eben das war im Denken dieser Zeit überhaupt die wichtigste Aufgabe. Vom Funktionswert her erhob sich der Klerus weit über alle anderen, denn er sorgte für das ewige Leben der Menschen. Entsprechend stieg auch das priesterliche Selbstwertgefühl in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts sprunghaft an.

Freilich wurden an den Klerus damit auch besondere Anforderungen gestellt. Man verlangte nun von den Priestern eine tadellose Lebensführung, damit sie ihren Funktionen gerecht würden. Ämterkauf wurde verdammt, aber auch das Zusammenleben der Priester mit Frauen. Rechtfertigungstheorien wurden verbreitet. Das Zusammenleben mit Frauen, so hieß es, würde unweigerlich zur Verdammnis führen. Bei Frauen könne nämlich nur die obere Hälfte getauft werden, nicht aber die untere Hälfte. Dieses Problem wurde heiß diskutiert. Gottschalk, ein gelehrter Mönch aus dem Kloster Klingenmünster in der Südpfalz, verfasste um 1100 darüber eine Expertise. Er kam zu dem Ergebnis, dass diese verbreitete Meinung wohl doch nicht stimme, weil sonst jede Frau bei ­ihrem Tod in zwei Hälften geteilt werde und die eine Hälfte in den Himmel auffahre, die andere aber hi­nab in die Hölle, und das würde beim Jüngsten Tag erhebliche Probleme mit sich bringen.
 
Der ‚gute Priester‘ musste von nun an auf seine Frau verzichten, denn seine Hände mussten rein sein für die Verwaltung der heiligen Sakramente. Außerdem war so zu verhindern, dass eine Pfarrstelle als Erbe an den Sohn des Pfarrers überging. So suchte sich die neue Priesterkirche zu optimieren. Überall erkennt man die stark wirkende moralisch-religiöse Kraft für den Anspruch dieser Priesterkirche, sich in der Welt als die oberste Autorität darzustellen. In den Reformkreisen entstanden neue Eliten mit ihren neuen Wertekategorien, und es bildeten sich neue Autoritäten heraus, an deren Spitze sich der Gehorsam fordernde Papst selbst setzte.

Die Definition des Weltlichen

Wie reagierte der König auf diese Prozesse? Vordergründig gesehen kam es zum Gang nach Canossa. Heinrich IV. zwang den Papst auf diese Weise, ihn im Januar 1077 wieder in die Kirche aufzunehmen. So verhinderte er ein Tribunal, das die ‚guten Fürsten‘ zusammen mit dem Papst gegen ihn veranstalten wollten. Es hätte unweigerlich zu seiner Vernichtung geführt. Dies konnte Heinrich durch seinen Bußgang abwenden, und der Tod Rudolfs in der Schlacht an der Weißen Elster 1080 gab ihm die Handlungsfreiheit endgültig zurück.

Aber was waren die tiefergehenden Folgen dieser Umwälzungen für die gesellschaftliche Ordnung und die Ordnung der ‚Welt‘? Zunächst ist zu sehen, dass das Königtum selbst versuchte, sich einen Freiraum der Selbstbestimmung zu verschaffen. Der König und sein Hof argumentierten mit der ‚Zweigewaltentheorie‘. Damit wollte man die Gleichwertigkeit der Gewalten, der kirchlichen und der weltlichen Gewalt, behaupten. Im Neuen Testament, Lukas 22, 38, ist die Rede davon, dass die Jünger in der Stunde der Entscheidung Jesus zwei Schwerter zeigten. Dieser sagte daraufhin: „Das ist genug!“ Frühzeitig, schon um 500, wurden in der Kirche damit die weltliche und die geistliche Gewalt in Verbindung gebracht. Damals versuchte der Papst, sich mit dieser Deutung eine gewisse Unabhängigkeit vom Kaiser in Byzanz zu verschaffen. Nun, im Umfeld von „Canossa“, war es der König, der sein Amt auf diese Weise von der Kirche als unabhängig darstellen wollte. Er habe sein Schwert unmittelbar von Gott, so lautete sein Standpunkt. Der erste Schritt zur Herauslösung der ‚weltlichen Gewalt‘ aus dem kirchlich-weltlichen Gesamtkosmos, ja mehr noch: zur Schaffung einer ‚weltlichen Gewalt‘, ging damit vom Königshof aus.

Neben diesen und anderen biblisch begründeten Argumenten wurden auch ganz neue Legitimationsfelder aufgetan. Dazu gehörte vor allem das römische Erbrecht. Der italienische Rechtsgelehrte Petrus Crassus führte diese Richtung an. Er verfasste eine „Verteidigungsschrift für Heinrich IV.“ (Defensio Heinrici IV.). Darin bezieht er sich auf die Institutionen Justinians. Die kaiserliche Macht müsse demnach nicht nur auf Waffengewalt, sondern auch auf eine durch Gesetze abgesicherte Rechtsordnung gegründet sein. Gemäß dem römischen Sachen- und Familienrecht sei Heinrich IV. im juristischen Sinne rechtmäßiger Inhaber des Königtums. Was jedem Privatmann zustehe, so heißt es in Kapitel 6, dürfe einem König nicht vorenthalten werden. Wer das tue, handle gegen das Völkerrecht, gegen das Zivilrecht, gegen die guten Sitten, gegen jede Billigkeit des menschlichen Lebens. Dies müsse auch der Papst anerkennen.

Die funktionale Optimierung führte auch in der Kirche dazu, sich unabhängig vom König zu definieren. Hier verfolgte man das Ziel, jeden Einfluss des Königs auf die Besetzung von Bischofsstühlen zu unterbinden. Die Investitur, die Einsetzung der Bischöfe, sollte allein nach kirchlichen Regeln gestaltet werden. Aber ein Bischof war nicht nur ein geistlicher, sondern auch ein weltlicher Herr. Seine Rechte waren öffentliche Rechte, die in den Einflussbereich des Königs gehörten. Wie konnte man aber unter diesen Umständen den König dazu bringen, sich aus der Bischofsinvestitur zurückzuziehen? Ein Lösungsmodell lautete: Die Bischöfe müssten auf alle weltlichen Rechte und Besitzungen verzichten. Doch dieser Versuch scheiterte im Jahre 1111 kläglich. Als der Papst damals die völlige Entmachtung der Bischöfe anordnen wollte, brandete die Welle der Empörung durch die Bischöfe so hoch, dass dieser Versuch im Mittelalter niemals wiederholt wurde. Das andere Modell, vor allem vorangetrieben von Bischof Ivo von Chartres, zielte auf eine klare Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Sphäre des Bischofsamtes. Das war ein epochaler Vorgang, weil dadurch auch von kirchlicher Seite her die Trennung von Kirche und Welt rechtstheoretisch geleistet und akzeptiert wurde.

Eine weitere Folge des Umbruchs, der mit „Canossa“ verknüpft ist, betrifft die neue Definition der Wahrheit. Der funktionale Auftrag an die Kirche lautete ‚göttliche Wahrheitsvermittlung‘. Doch die kirchlichen Gesetze, die Väterschriften, die Konzilsbeschlüsse, die päpstlichen Anordnungen und die Gebote Gottes standen keineswegs stets im Gleichklang, was bis ­dahin kein großes Problem in der Christenheit darstellte. Aber jetzt änderte sich das. Jetzt musste man wissen, welche Wahrheit man zu vertreten hatte und wie die Wahrheit zu erkennen war. Nur so war eine optimale Heilsvermittlung möglich. Die kirchlichen Autoritäten allein genügten nicht mehr, auch die päpstliche Autorität nicht. Nun wurde das Kirchenrecht in sich stimmig gemacht: „Die Übereinstimmung des voneinander Abweichenden“ (Concordantia discordantium). Vor allem aber wurde die scholastische und dialektische Methode eingesetzt, um mit der ‚reinen Vernunft‘ die Wahrheit zu erkennen. Sola ratione, Erkenntnis der Wahrheit allein durch die Vernunft, so lautete die Formel, wie sie als erster Anselm von Canterbury gegen Ende des 11. Jahrhunderts formulierte.

Wir sehen, in welchen Dimensionen „Canossa“ als historische Chiffre steht. Im Innersten geht es bei „Canossa“ um den Beginn und den Weg einer Entzauberung der Welt. So hat Max Weber den Rationalisierungsprozess umschrieben, bei dem die Einheit von religiöser und staatlicher Ordnung sich auflöst. Dieser Vorgang birgt zwangsläufig neue regulative Ideen in sich, die den Wertekodex einer Gesellschaft zutiefst beeinflussen, ja gerade umstürzen. Die Wahrheit und auch die Gerechtigkeit stechen dabei hervor. Und es zeigen sich auch erste Ansätze dafür, dem staatlichen Bereich eigene Grundlagen zu verschaffen, etwa durch den Rückgriff auf römisches Recht. Der neue Wertekodex war, um seine Durchsetzungskraft zu erhöhen, stark auf moralisches Urteilen ausgerichtet. Verhalten und Handeln, das sich nicht einpasste, wurde als böse diffamiert.
 
Nun ist es keineswegs so, dass sich die Kirche im Mittelalter wirklich aus der Welt zurückgezogen hätte. Ganz im Gegenteil, das Papsttum konnte für ­geraume Zeit sogar eine Schiedsrichterrolle über die europäischen Völker und Reiche errichten. Letztlich war mit „Canossa“ eine Entwicklung eröffnet worden, die den Keim in sich trug, dass die weltliche Ordnung ihren eigenen Gesetzen folgen und ihre ­eigenen Werte entwickeln konnte. Der Prozess der Rationalisierung war auf den Weg gebracht, auch wenn es bis zu seiner vollen Entfaltung noch vieler Jahrhunderte bedurfte. Seine eigentlichen Wurzeln reichen in die Tage von „Canossa“ – hervorgerufen durch die Funktionalisierung der Gesellschaft und eingesetzt durch die Kraft eines moralisch-religiösen Anspruchs. Von hier gingen die ersten Impulse dafür aus, weltliche Lebensordnungen zu konzipieren, die Kirche als eigene Institution zu definieren und wissenschaftliche Methoden der Wahrheitssuche zu entwickeln. Erstaunlich rasch brachte es das „Licht der Vernunft“ so weit, dass man es an der Pariser Universität schon im 13. Jahrhundert wagte, Gottes Existenz zu leugnen. Der Stein war ins Rollen gebracht und zog seine Bahn über manche Unebenheiten hinweg bis hin zur Aufklärung.

Prof. Dr. Stefan Weinfurter ist seit 1999 Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte am Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften in Heidelberg  
Prof. Dr. Stefan Weinfurter ist seit 1999 Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte am Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften in Heidelberg und leitet gemeinsam mit Prof. Dr. Bernd Schneidmüller das Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde. Zuvor hatte er Professuren beziehungsweise Ordinariate an den Universitäten Eichstätt, Mainz und München inne. Seine Forschungen über politische, gesellschaftliche und kulturalistische Ordnungskonfigurationen konzentrieren sich vor allem auf die Zeit des 10. bis 13. Jahrhunderts (zuletzt: Canossa. Die Entzauberung der Welt, München 2006). Seit 2003 ist er Ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Kontakt:
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