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Die Janusköpfigkeit des Schmerzes

Mit dem Schmerz verhält es sich wie mit Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Er kann vor Schaden bewahren, er kann aber auch zum unbarmherzigen Tyrannen werden und ebenso grundlos wie unablässig quälen. Diese Janusköpfigkeit des Schmerzes ist für Wissenschaftler und Ärzte ein Rätsel. Wie kommt es, dass sich eine schützende Funktion in eine chronische Krankheit verwandelt? Wie können chronische Schmerzen besser behandelt werden? Rohini Kuner vom Pharmakologischen Institut der Universität Heidelberg erforscht diese Fragen und schildert aktuelle Arbeiten, die nachvollziehen lassen, wie sich der Schmerz als Gedächtnisspur in das Nervensystem eingräbt.

Charles Darwin beschrieb in seinem Aufsatz „Der Ausdruck von Emotionen bei Mensch und Tier“ im Jahr 1872 den Schmerz als grundlegende Emotion von Säugetieren. Sie diene zum Schutz des Individuums, wobei nur der Mensch Schmerzen als solche identifizieren und explizit ausdrücken könne. Der Schmerz ist demnach, wie Hunger und Durst, eine so genannte homöostatische Emotion.

Für den, der unter Schmerzen leidet, ist der Schmerz ein tiefer persönlicher Angriff auf sein Selbst. Der Schmerz ist ihm nicht nur eine sensorische Erfahrung, die es zu identifizieren gilt, sondern ein Gefühl, das mit dem intensiven Wunsch verknüpft ist, wieder davon loszukommen. Anhaltende Schmerzen beeinflussen Menschen tiefgreifend: Sie machen mehr Menschen ­arbeitsunfähig und beeinträchtigen die Gesundheitskosten stärker als Krebs- und Herzerkrankungen zusammen.

Im Gegensatz zu anderen Sinnen wie Sehen oder Hören ist der Schmerz sowohl schützend wie quälend. Primär erfüllt der Schmerz eine Schutzfunktion: Schnell auf mögliche Schädigungen zu reagieren, ist für das Überleben notwendig und eine der wichtigsten Aufgaben, die ein Nervensystem zu erfüllen hat. Wie bedeutend die Schutzfunktion des Schmerzes ist, wird bei Personen deutlich, die genetisch bedingt unempfindlich für Schmerzen sind und ständig Gewebeschädigungen durch geringfügige Einflüsse erleiden. Der Schmerz ist also eine wichtige physiologische Funktion, die wir nicht verlieren dürfen.

Der Schmerz kann sich jedoch auch in einen unbarmherzigen Tyrannen verwandeln. Die Rede ist vom chronischen Schmerz, der selbst eine Krankheit ist. Eine der dramatischsten Arten des chronischen Schmerzes ist der „neuropathische Schmerz“. Er wird von Nervenverletzungen ausgelöst, die beispielsweise von einer Operation herrühren. Ein besonders grausames neuropathisches Schmerzsyndrom kann die Amputation einer Gliedmaße auslösen: Der Patient spürt klopfende, krampfartige, brennende oder stechende „Phantomschmerzen“.

Eine andere verbreitete Form des neuropathischen Schmerzes ist die „trigeminale Neuralgie“. Sie wird von Veränderungen der Aktivität des Trigeminalnerven hervorgerufen, der zum Gesicht zieht. Patienten beschreiben die Schmerzen „als ob die Hälfte des Gesichtes brennen“ würde. Nicht ohne Grund wird die trigeminale Neuralgie umgangssprachlich „Selbstmordkrankheit“ genannt. Auch Infektionen mit Herpeszoster-Viren können eine besonders quälende Form des chronischen Schmerzes, die „postherpetische Neuralgie“, auslösen. Und wenn man bedenkt, dass auch chronische Rückenschmerzen eine neuropathische Komponente haben können, wird deutlich, dass der neuropathische Schmerz keineswegs eine exotische oder seltene Störung ist.

Zu nennen sind außerdem der Krebsschmerz, eine einzigartige und komplexe Form des Schmerzes, der noch wenig verstanden ist, und häufig auftretende chronische Schmerzen, die mit anhaltenden Entzündungen, beispielsweise Rheumatoider Arthritis, einhergehen. Einerseits Schutz, anderseits Schaden – diese „Dr. Jekyll- und Mr. Hyde“-Eigenschaft des Schmerzes ist für Kliniker und Wissenschaftler ein großes Rätsel: Wie kann sich eine schützende physiologische Funktion in eine chronische Krankheit verwandeln? Und wie können wir die Krankheit behandeln, ohne die wichtige Schutzfunktion des physiologischen Schmerzes zu verlieren?

Noch vor 30 Jahren hielten Schmerzphysiologen an der „Spezifitätstheorie des Schmerzes“ fest, die ursprünglich von Descartes im 17. Jahrhundert vorgeschlagen worden war. Danach ist der Schmerz eine spezifische Modalität mit eigenen spezialisierten Sensoren, neuronalen Bahnen und schmerzspezifischen Zentren. Diese Vorstellung kann zwar erklären, warum eine Verletzung einen akuten Schmerz verursacht. Sie kann jedoch nicht erklären, warum es zum chronischen Schmerz kommt, Patienten also weiterhin unter Schmerzen leiden, obwohl die ursprüngliche Verletzung längst verheilt ist. Wie man im Falle der Phantomschmerzen sehen kann, kennt der chronische Schmerz zudem keine topographischen Grenzen.

Bald tauchte die Idee von der „neuralen Plastizität“ auf. Dass das Nervensystems plastisch ist – dass es sich also abhängig von Nutzung und Funktion verändert –, wurde bis in die späten 1980er Jahre vehement bestritten, zwischenzeitlich ist die Plastizität allgemein akzeptiert: Bei chronischen Schmerzen haben Schmerzreize dauerhafte Spuren im Zentralen Nervensystem hinterlassen; man spricht auch vom „Schmerzgedächtnis“.

Diese Plastizität kann sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren: Einzelne Moleküle, einzelne Nervenzellen (Neuronen) oder neuronale Netzwerke können ihre Funktion verändern; Neuronen können absterben, Nervenendigungen können degenerieren oder aussprießen, Verbindungen zwischen Nervenzellen (Synapsen) können modifiziert werden. Einige Formen der aktivitätsabhängigen Plastizität sind sehr kurz, andere relativ lang und gehen mit Veränderungen von Proteinen und einer veränderten Genexpression (Ablesen der Gene und Übersetzen der genetische Information in ein Protein) einher; einige Plastizitätsformen sind unumkehrbar mit einem Neuronenverlust oder dem Entstehen neuer Synapsen verbunden.

Die Bahn des Schmerzes

Alle Gewebe enthalten Nervenendungen, die beispielsweise auf Stimuli wie Hitze, Kälte oder Druck antworten. Die Nervenendungen sind Teil des so genannten afferenten Nozizeptors, dessen Aufgabe es ist, schädigende Stimuli aufzuspüren. Er wird von Ganglionzellen, die im Rückenmark lokalisiert sind, unterstützt. Die erste und entscheidende Synapse der Schmerzbahn befindet sich im spinalen Hinterhorn des Rückenmarks. Hier bringen Nervenfasern (sensorische Axone) die Informationen von der Peripherie zu den lokalen spinalen Interneuronen und Projektionsneuronen. Die spinalen Neurone verarbeiten und filtern die Information und erregen Bahnen, welche die Schmerzbotschaft an höhere Zentren (Thalamus; zerebraler Cortex) im Gehirn weiterleiten. Dort wird der Schmerz bewusst wahrgenommen. Weitere Hirnstrukturen wie die „Cortex cinguli anterior“ und der „Mandelkern“ sind wichtig, um die emotionale Komponente des Schmerzes zu bestimmen. Sie ist das Ergebnis vorangegangener Schmerzerfahrungen.

Einer der bedeutendsten Fortschritte der Schmerzforschung in den letzten Jahren war die Identifizierung von Ionenkanal-Proteinen in den Membranen der Nervenzellen. Die Kanäle vermitteln spezifische Eigenschaften an Nozizeptoren und befähigen sie dazu, physische und chemische Stimuli in neuronale Aktivität umzuwandeln.

Eine Plastizität von Neuronen und Neuronennetzwerken kann bei allen anatomischen Komponenten der Schmerzbahn vorkommen. Aber wie tragen solche Veränderungen zum chronischen Schmerz bei? Betrachten wir zunächst einmal den normalen Ablauf. Ein akuter Schmerzreiz löst eine definierte neuronale Antwort aus und ruft das Gefühl eines kurz andauernden Schmerzes hervor. In krankhaften Zuständen verändern sich die Umwandlungseigenschaften der Nozizeptoren. Dies führt zu einer „peripheren Sensibilisierung“: Schmerz wird an der Stelle der ursprünglichen Gewebeverletzung auch in Abwesenheit eines Schmerzreizes empfunden. Eine dynamische Erhöhung der Erregbarkeit kann jedoch auch im Zentralen Nervensystem vorkommen (zentrale Sensibilisierung). Die zentrale Sensibilisierung führt typischerweise zu Allodynie (Reize werden als Schmerzen empfunden, die bei gesunden Menschen kein Schmerzempfinden hervorrufen, beispielsweise ein sanftes Streicheln der Haut), und sie führt dazu, dass sich die Schmerzempfindlichkeit über den Bereich der ursprünglichen Gewebeschädigung hinaus verbreitet.

Die nächste Frage ist, wie es zur peripheren Sensibilisierung kommt. Und die Antwort lautet: Sie rührt von Veränderungen der Eigenschaften peripherer Nervenfasern her. Ein Beispiel ist die postherpetische Neuralgie. Nach einer Infektion im Kindesalter „schläft“ das Herpes-zoster-Virus im Hinterhornganglion, kann sich aber nach Jahren der Ruhe wieder vermehren. Das Virus vernarbt so genannte C-Nervenfasern und verursacht eine Entzündung der Haut, was mit starken Schmerzen einhergeht. Eine ähnliche Sensibilisierung der Nozizeptoren von C-Fasern erfolgt nach traumatischen Verletzungen und Amputationen. Die Sensibilisierung ist mit Veränderungen der Aktivierungseigenschaften von Nozizeptoren assoziiert, beispielsweise sind die Aktivierungsschwellen verringert oder es kommt zu einer Überexpression spannungsabhängiger Ionenkanäle.

Als Folge hochfrequenter Aktivität in Nozizeptoren sind viele Nervenfasern des Hinterhorns sensibilisiert; der synaptische Transfer wird potenziert. Diese zentrale Sensibilisierung zeigt sich in verschiedenen Formen, und bei genauerem Betrachten ist zu erkennen, dass die Prozesse, die zu chronischen Schmerzen führen, Mechanismen mit der Gedächtnisbildung teilen.

Die synaptischen Kontakte zwischen Nervenzellen sind der Sitz der Potenzierungsphänomene. Die Stärke des synaptischen Kontakts kann variieren: von einem Extrem wie dem Ausbleiben jeglicher Antwort („stille Synapse“) bis hin zu einer Situation, wo geringste Reize ausreichen, um ein Zielneuron zu erregen. Eine Langzeitpotenzierung (LTP) könnte in folgender Weise chronische Schmerzen etablieren: An jeder beliebigen Synapse der Schmerzbahn ruft ein akuter schmerzhafter Stimulus, etwa das Stolpern über einen Stein, eine akute und diskrete synaptische Antwort hervor. Im Zustand von Nervenverletzungen, chronischer Entzündung oder Krankheit aber sind die Nozizeptoren andauernd aktiviert, sodass die synaptische Antwort mit jedem neuen Schmerzimpuls hochskaliert wird. An diesem Punkt greifen normalerweise innere Stoppmechanismen ein, um die synaptische Aktivität zu reduzieren. Wenn allerdings diese Stoppmechanismen durch eine bleibende Aktivierung der Schmerzbahnen überwältigt werden, lernt die Synapse, übertriebene Antworten zu geben – auch dann, wenn die akute Gewebeverletzung längst nicht mehr besteht. Ist solch ein Gedächtnisabdruck erst einmal eingerichtet, kann ein akuter und diskreter Stimulus stark übertriebene, lang andauernde Schmerzen auslösen.

Bessere Therapie

Mit unseren Forschungsprojekten versuchen wir zu ergründen, wie die Plastizität entsteht und wie die Stoppmechanismen funktionieren. Wir wollen die verantwortlichen Moleküle identifizieren und die funktionellen Konsequenzen molekularer Störungen auf der Ebene synaptischer Prozesse, synaptischer Ströme, der elektrischen Aktivität einzelner Neuronen und sensorimotorischer Netzwerke untersuchen. In den letzten Jahren sind enorme Fortschritte erreicht worden, und es kann besser erklärt werden, welche Zellen und Moleküle für die synaptische Plastizität im Rückenmark verantwortlich sind.

Einer der molekularen Mechanismen, die dem chronischen Schmerz zugrunde liegen, ist das komplexe Geschehen um einen Subtyp der Glutamatrezeptoren, des „AMPA-Rezeptors“. Früher lautete das wissenschaftliche Dogma, dass es die einzige Rolle der AMPA-Rezeptoren beim Schmerz sei, basale physiologische Schmerzen zu vermitteln. Unsere in den letzten Jahren erarbeiteten Forschungsergebnisse zeigen, dass AMPA-Rezeptoren den erregenden Tonus in pathologischen Schmerzzuständen steigern. An diesem Beispiel wird deutlich, dass molekulare Änderungen auf allen Ebenen des somatosensorischen Systems wichtig für das Entstehen chronischer Schmerzen sein können. Dies hat Konsequenzen für die Therapie.

Im Zentrum der Aufmerksamkeit vieler Arbeitsgruppen steht derzeit beispielsweise die Frage, ob ein selektiver Angriff an peripheren Rezeptoren zentrale Nebenwirkungen vermeiden und gleichzeitig eine starke Aufhebung des Schmerzempfindens bewirken könnte. Wir benutzen genetische Ansätze, die zum Ziel haben, Gene in der peripheren Schmerzbahn gezielt auszuschalten. Wir untersuchen derzeit außerdem, welche Bedeutung schmerzrelevante Proteine in peripheren Mechanismen des Schmerzgedächtnisses haben. Damit hoffen wir, auch kritische pharmakologische Fragestellungen bezüglich der peripheren Schmerzausschaltung gezielt angehen zu können.

Ein Schwerpunkt unserer gegenwärtigen und künftigen Arbeiten ist es, die molekularen Grundlagen von Schmerzkrankheiten zu ergründen, die klinisch bedeutend und schwierig zu therapieren sind, beispielsweise die Kniearthrose, die chronische Bauchspeicheldrüsenentzündung, vor allem aber Krebsschmerzen. Uns interessieren etwa Faktoren, die von Tumoren freigesetzt werden und sensorische Nerven aktivieren oder funktionell verändern.

Ein gemeinsamer Aspekt dieser Krankheitsbilder ist die strukturelle Plastizität nozizeptiver Nerven. Um dies näher zu untersuchen, haben wir Mäuse gezüchtet, die uns dabei helfen werden, dynamische Veränderungen der Nozizeptoren in verschiedenen Krankheitsparadigmen mit bildgebenden Verfahren zu untersuchen. Das Ziel all dieser Arbeit ist, dazu beizutragen, dass chronisch schmerzkranke Menschen besser als bislang behandelt und von ihrer anhaltenden Pein befreit werden können.

Autorin:
Prof. Dr. Rohini Kuner,
Pharmakologisches Institut der Universität Heidelberg,
Im Neuenheimer Feld 366, 69120 Heidelberg,
Telefon: (0 62 21) 54 82 89,
E-Mail: rohini.kuner@pharma.uni-heidelberg.de
Für ihre Arbeiten erhielt die Biomedizinerin kürzlich den erstmalig verliehenen und mit 100 000 Euro dotierten Chica und Heinz Schaller-Förderpreis.

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