Siegel der Universität Heidelberg
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Im Dschungel der Düfte

Ein Mensch kann Tausende von Gerüchen identifizieren und im Gedächtnis behalten. Das ist eine erstaunliche Leistung für einen Sinn, der von alters her als "niederer" Sinn gilt. Wie wir Düfte – ob verführerische oder abstoßende – überhaupt wahrnehmen, erwies sich als naturwissenschaftlich schwer zu lösendes Rätsel: Kein Sinn blieb bis heute derart geheimnisumwittert wie der Geruchssinn. Hannah Monyer vom Interdisziplinären Zentrum für Neurowissenschaften erläutert, was sich im Gehirn auf zellulärer und molekularer Ebene ereignet, wenn wir einen Duft realisieren, und betrachtet, welche Rolle der vermeintlich zweitrangige Sinn in Philosophie und Literatur spielt.

Obgleich nicht endgültig geklärt ist, wie Wirklichkeit wahrgenommen und repräsentiert wird, gibt es keinen Zweifel darüber, wo dieses geschieht: Wahrnehmung erfolgt im Gehirn, und Informationen über die Außenwelt erhält das Gehirn über die fünf Sinne Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken.

Für alle Sinne gilt, dass sowohl die genetische Determinierung als auch Umwelteinflüsse und Lernen unsere Wahrnehmungen bestimmen. Zum Teil sind die Regionen des Gehirns, in denen Sinneseindrücke verarbeitet werden, sehr unterschiedlich aufgebaut. Dennoch können prinzipielle Erkenntnisse darüber, wie Wahrnehmung in einer spezifischen Hirnregion prozessiert wird, häufig auf andere Hirnregionen übertragen werden. Meine Arbeitsgruppe beschäftigt sich mit der Frage, welche genetischen und epigenetischen Faktoren Wahrnehmungsprozesse und Lernen im Gehirn bestimmen. Unsere Arbeiten, die am Ratten- bzw. am Mausmodell erfolgen, wurden in den letzten Jahren meist gezielt an unterschiedlichen Hirnstrukturen durchgeführt. Dies hat den praktischen Grund, dass sich einige Hirnareale für gewisse Fragestellungen besser eignen und dass vorhandenes Vorwissen bereits die Fragen diktierte.

Unsere Vorgehensweise ist multidisziplinär: Zunächst untersuchen wir die Funktion einer Nervenzelle und korrelieren deren Eigenschaften mit der Genexpression der betreffenden Zelle, bestimmen also, welche Gene in der Zelle abgelesen und in Proteine übersetzt werden. Diese genetischen Informationen ergänzen anatomische Studien: Wie sieht die Zelle aus, wo befinden sich entscheidende Kommunikationskanäle? Als Nächstes untersuchen wir, wie eine bestimmte Zelle mit ihren Nachbarzellen kommuniziert und welche Eigenschaften die Synapsen haben – jene spezialisierten Strukturen, über welche die Kommunikation zwischen Nervenzellen erfolgt. Eine wichtige Frage dabei lautet etwa: Wie effizient werden Neurotransmitter, chemische Boten, freigesetzt? Alle diese Informationen fließen nun in ein Computermodell ein: Die Nervenzellen eines artifiziellen Netzwerks werden mit den Eigenschaften ausgestattet, die wir und andere Forschergruppen experimentell bestimmt haben. Die Nervenzellnetzwerke im Computermodell weisen auf Parameter hin, die für ein bestimmtes "Verhalten" des Netzwerks essenziell und bestimmend sind. Schließlich formulieren wir auf der Grundlage der experimentellen Daten und der Computermodelle Hypothesen, deren Gültigkeit sodann in biologischen Systemen geprüft wird. In genetisch modifizierten Mäusen können beispielsweise die Öffnungszeiten bestimmter Nervenzellkanäle in ausgewählten Zellpopulationen gezielt verändert werden. Nachfolgende elektrophysiologische Studien bestätigen oder verwerfen die computergestützten Hypothesen. Eine der vielleicht wichtigsten Fragen dabei ist, wie sich die genetische Manipulation auf das "Verhalten" der Nervenzellen auswirkt. In erster Linie interessiert uns, eine Verbindung von Molekül und Verhalten herzustellen: Welche molekularen und zellulären Grundlagen synchronisieren die Netzwerkaktivität?

Elektrophysiologische Messungen an einzelnen Sinnesnervenzellen ließen manche Wissenschaftler schlussfolgern, dass Objekte der Umwelt im Gehirn durch die Aktivität einzelner Nervenzellen ("single neuron coding") repräsentiert werden. Theoretische Überlegungen und empirische Daten veranlassten andere Wissenschaftler, das Modell der "Populationskodierung" ("ensemble coding") vorzuschlagen. Dabei repräsentiert die neuronale Aktivität eines Nervenzellverbands (eines "ensemble") ein Objekt; die Aktivität einer einzelnen Nervenzelle ist nur Träger einer Teilinformation. Ein solches Modell bietet mehr Stabilität, vor allem aber mehr Flexibilität: Ein bestimmtes Neuron kann an unterschiedlichen Nervenzellverbänden teilhaben und wird so zum Teil diverser Repräsentationen.

Das Modell der Populationskodierung wirft die Frage auf, wie die Zugehörigkeit eines Neurons zu einem bestimmten Nervenzellverband markiert wird. Wie entsteht eine einheitliche Wahrnehmung? Wie werden verschiedene Merkmale eines Objekts zu einem kohärenten Ganzen zusammengebunden? Das Modell des "temporal coding" geht davon aus, dass einheitliche, kohärente Repräsentationen immer dann entstehen, wenn viele Nervenzellen, die durch unterschiedliche Merkmale eines Objekts erregt wurden, gleichzeitig "feuern", also gleichzeitig aktiv sind. In diesem Modell ist es nicht nur wichtig, dass eine Zelle feuert – ebenso wichtig ist es, mit welchen anderen Zellen die Nervenzelle zeitgleich feuert. Unsere Arbeitsgruppe ist an den molekularen und zellulären Mechanismen interessiert, die diese synchrone Aktivität von neuronalen Nervenzellverbänden bestimmen und modulieren. Auch hier sind Computernetzwerkmodelle die Grundlagen unserer Hypothesen, die wir anschließend in biologischen Systemen überprüfen.

Am Beispiel des Riechens kann sehr gut verdeutlicht werden, wie genetische Programme die Wahrnehmung bestimmen. Zum einen ist die Diversität der Duftrezeptoren in der Nase genetisch festgelegt, was zu einem großen Teil die Speziesunterschiede bei der Duftwahrnehmung erklärt. Die Duftrezeptoren sitzen auf der Oberfläche der Riechsinneszellen, die sich in der Nasenschleimhaut befinden. Je nach Spezies gibt es mehrere Hundert bis mehrere Tausend unterschiedliche Duftrezeptoren, die Produkte ebenso vieler Gene sind. Bei Wirbeltieren bilden die Duftrezeptoren die größte Familie der Kanalproteine; beim Menschen machen die Gene für Duftrezeptoren drei Prozent des menschlichen Erbguts aus. Eine Besonderheit der Duftrezeptoren ist, dass eine Riechsinneszelle nur eine Art von Duftrezeptoren erzeugt und somit nur von bestimmten Düften aktiviert werden kann.

Auf dieser ersten Stufe der Riechwahrnehmung heißt Populationskodierung, dass ein Duft nicht eine, sondern viele Hundert Sinneszellen aktiviert. Wie viele Sinneszellen angeregt werden, hängt von der Komplexität des Duftes ab. Nur die einfachsten Düfte aktivieren lediglich Riechsinneszellen einer Art, also Riechsinneszellen, auf deren Oberflächen sich die gleiche Art von Riechrezeptoren befinden. Die meisten Düfte sind jedoch komplex und aktivieren diverse Riechrezeptoren. Der Vorteil der Populationskodierung gegenüber der Kodierung einzelner Nervenzellen ist am Beispiel des Riechens leicht zu erkennen: Die Anzahl der Duftrepräsentationen ist nicht auf die Anzahl der Gene für Riechrezeptoren beschränkt, sondern wird durch zahlreiche kombinatorische Möglichkeiten um ein Vielfaches gesteigert.

Ebenfalls genetisch bestimmt ist, wie die Nervenzellen der Nasenschleimhaut mit den nachgeschalteten Zellen im "Bulbus olfactorius", dem Riechkolben, verschaltet sind. Die Fortsätze (Axone) der Riechsinneszellen leiten die Erregung, die durch einen Duft ausgelöst wurde, weiter und übertragen sie auf die Fortsätze (Dendriten) nachgeschalteter Mitralzellen. Die Reizübertragung erfolgt in Strukturen, die anatomisch gut zu erkennen sind. Es handelt sich dabei um die so genannten Glomeruli. In ihnen enden alle Fortsätze von Riechsinneszellen, die die gleichen Riechrezeptoren tragen. In Experimenten mit Mäusen konnte gezeigt werden, dass die Fortsätze von Riechsinneszellen, deren Rezeptortyp mit gentechnischen Methoden verändert wurde, in einem anderen Glomerulus enden. Das bedeutet: Es ist genetisch determiniert, welche nachgeschalteten Nervenzellen bei der Präsentation eines Duftes angeregt werden.

Verfahren, die es erlauben, die Aktivität vieler Nervenzellen gleichzeitig zu messen, zeigten, dass sich Düfte eindeutig neuronalen Aktivitätsmustern zuordnen lassen. Beim Riechen kommt diesem räumlichen Kodieren ("spatial coding") eine große Bedeutung zu. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass die Konstruktions- und Funktionsbedingungen des Riechhirns bestimmen, welche Wirklichkeit im Gehirn repräsentiert wird. Eine ebenso große Rolle spielt bei der Riechwahrnehmung das "temporal coding": Die synchrone Aktivität von Nervenzellen im Millisekundenbereich ist eine Möglichkeit, wie die Zugehörigkeit von Zellen zu einem Nervenzellverband markiert werden kann. Welche Zellen gleichzeitig aktiv sind, kann man mit elektrophysiologischen Methoden messen.

Wie bereits erläutert, sorgen genetische Programme dafür, dass Sinneszellen, die durch den gleichen Duft angeregt werden, die Duftinformationen über ihre Axone weitergeben, die in spezialisierten Strukturen, den Glomeruli, enden. Dieses Prinzip der Verschaltung, der Bündelung der Axone im Glomerulus und der Konvergenz auf nachgeschaltete Zellen, sorgt dafür, dass die Reizschwelle, die nötig ist, um eine nachgeschaltete Zelle zu aktivieren, leichter erreicht werden kann. Aus genetisch bestimmten Besonderheiten des Bulbus olfactorius kann man schließen, dass Mitralzellen, die sich nebeneinander befinden, mit großer Wahrscheinlichkeit synchron feuern, also gleichzeitig aktiv sind. Elektrophysiologische Messungen bestätigen dies – die Mitralzellen feuern aber nur dann synchron, wenn sich ihr Dendritenbaum im selben Glomerulus befindet. Hier stellt sich die Frage nach der Identität der Moleküle, die der synchronen Aktivität zugrunde liegen.

Wir konnten zeigen, dass Mitralzellen mit bestimmten Kanälen ausgestattet sind, die einen schnellen Informationsfluss zwischen benachbarten Mitralzellen ermöglichen. Es handelt sich dabei um so genannte "Gap Junctions" – Kommunikationskanäle – welche die Dendriten von Mitralzellen miteinander verbinden. Es werden jedoch nur Mitralzellen, deren Dendriten sich innerhalb eines Glomerulus befinden, über Gap Junctions verknüpft. Diese Art der neuronalen Kommunikation ist im erwachsenen Gehirn ungewöhnlich. Hauptsächlich kommunizieren Nervenzellen über chemische Botenstoffe, die an den Synapsen ausgeschüttet werden. Wir konnten in den letzten Jahren zeigen, dass die neuronale Kommunikation mithilfe von Gap Junctions – anders als früher angenommen – auch im erwachsenen Gehirn bei bestimmten Zellpopulationen existiert. Wir konnten zudem belegen, dass eine synchrone Aktivität in Nervenzellen, die durch Gap Junctions gekoppelt sind, leichter auszulösen und aufrechtzuerhalten ist. Genetische Manipulationen erlauben es, Gap Junctions gezielt auszuschalten, was sich auf die synchrone Aktivität und somit auf das "temporal coding" auswirkt: Bei Stimulation ist die Aktivität von Mitralzellen genetisch unveränderter Mäuse synchron, nicht jedoch in Mitralzellen von Mäusen, in denen die Gap Junctions ausgeschaltet wurden.

Welche Konsequenz diese Beobachtungen auf der Verhaltensebene haben, muss noch getestet werden. Wir gehen davon aus, dass sich die Riechwahrnehmung – zum Beispiel das Unterscheiden komplexer Düfte – bei genetisch modifizierten Mäusen verändert. Auch das "temporal coding" ist nicht für das Riechhirn spezifisch, sondern unterliegt zusätzlichen anderen Sinneswahrnehmungen wie Sehen und Hören sowie kognitiven Prozessen.

Um die molekularen Determinanten der synchronen Netzwerkaktivität zu bestimmen, ist es außerdem wichtig zu erfahren, wo bestimmte Kanäle lokalisiert sind. Die einzelnen Eigenschaften und das "Feuerverhalten" einer Mitralzelle bestimmen zahlreiche Kanäle, und das synchrone Feuerverhalten zweier Zellen hängt entscheidend von den Gap Junctions ab. Für Modellierungsstudien ist es wichtig zu wissen, wo genau die Kommunikation mittels der Gap Junctions erfolgt: Verbinden Gap Junctions die Zellkörper zweier benachbarter Zellen oder verbinden sie ihre Fortsätze, die Dendriten? Und wenn sie die Fortsätze miteinander verbinden, sitzen sie dann proximal – nahe am Zellkörper – oder distal, also weiter vom Zellkörper entfernt?

Auf klassische Weise kann man Proteine mit Antikörpern lokalisieren. Sie "erkennen" ein bestimmtes Protein und markieren es. Solche Studien können jedoch nur an fixiertem – an totem – Gewebe erfolgen. Neuere Techniken erlauben es, so genannte in-vivo-Marker zu gebrauchen. Dabei handelt es sich um fluoreszierende Proteine, die in der lebenden Zelle und sogar im lebenden Organismus sichtbar gemacht werden können. Fluoreszierende Proteine kann man auch nutzen, um Gap Junctions zu markieren und zu verfolgen, auf welchen Wegen Proteine in der lebenden Zelle vom Ort ihrer Entstehung bis an den Zielort transportiert werden. Auch die Transportprozesse von Proteinen werden von genetischen Programmen determiniert, sie sind aber auch von epigenetischen Faktoren abhängig. In genetisch veränderten Mäusen, deren Gap Junctions markiert wurden, kann man nicht nur untersuchen, wo sich die Kommunikationskanäle in einer Nervenzelle genau befinden, sondern auch, ob sie sich aktivitätsabhängig verändern, zum Beispiel durch Lernen.

Mit molekularbiologischen Techniken ist es uns kürzlich gelungen, neu gebildete Nervenzellen im ausgewachsenen Gehirn mit fluoreszierenden Proteinen zu markieren und ihren Weg zu verfolgen. Diese Zellen wandern lange Strecken von ihrem Entstehungsort (der Subventrikulärzone) zu ihrem Zielort, dem Bulbus olfactorius. Sie wandern aber auch zu anderen Hirnregionen, etwa zur Hirnrinde oder zum Hippocampus. Das Sichtbarmachen dieser neu gebildeten Nervenzellen im nicht fixierten Gewebe wird es erleichtern, viele noch offene Fragen zu beantworten. Noch wenig wissen wir beispielsweise über Nachbarzellen, die den neu entstandenen Nervenzellen im erwachsenen Gehirn offenbar als "Wegweiser" dienen, oder über Vorgänge im Zellinnern, die für die gezielte Bewegung der neuen Zellen maßgeblich sind. Nicht bekannt ist außerdem, wie neue Nervenzellen in das bereits etablierte Netzwerk des Bulbus olfactorius eingebaut werden und ob diese Integration für die Plastizität, Lernfähigkeit und Adaptation bedeutend ist.

In den letzten Jahren versuchten wir vor allem zu klären, welche Zellen im Gehirn fähig sind, synchrone Netzwerkaktivitäten in bestimmten Frequenzen zu generieren und zu koordinieren und welche zentralen Moleküle/Proteine dabei eine Rolle spielen. Unsere Untersuchungen erfolgten zunächst an Hirnstrukturen wie dem Hippocampus oder dem Cortex. Später bezogen wir den Bulbus olfactorius ein, um genetische Veränderungen von der molekularen bis zur Verhaltensebene verfolgen zu können. Die räumliche und zeitliche Kodierung, die am Beispiel des Bulbus olfactorius beschrieben wurde, erfolgt mehr oder weniger ähnlich auch bei anderen Sinneswahrnehmungen. Spezifisch für das olfaktorische System ist die weitere Verschaltung. Für alle anderen Sinne gilt, dass die Information den Cortex über eine Verschaltung im Thalamus, einem Teil des Zwischenhirns, erreicht. Nur im olfaktorischen System gibt es neben dieser üblichen thalamo-corticalen Projektion einen direkten Informationsfluss, der vom Bulbus olfactorius zum limbischen System führt, also zu denjenigen Hirnstrukturen, die für Emotionen, Motivation und bestimmte Formen des Gedächtnisses zuständig sind. Es gibt also eindeutig eine anatomische Basis für die Äußerung des englischen Schriftstellers Rudyard Kipling, der in seinem Gedicht "Lichtenberg" schreibt: "Smells are surer than sounds and lights to make your heart-strings crack".

Nicht zuletzt wegen solcher Zusammenhänge war es mir auch immer wichtig zu beachten, wie das Objekt und das Thema meiner Forschung von Geisteswissenschaftlern untersucht wurde, zumal ich mit dem argentinischen Schriftsteller Jorge Luis Borges darin übereinstimme, dass große Dichter nicht Erfinder, sondern – wie Naturwissenschaftler – Entdecker sind. Auch beim Thema Gehirnleistungen und Gehirnfunktionen geht es letztlich darum, die Wahrheit/Wirklichkeit in ihrer komplexen Beziehung zur physischen Außenwelt, zur neuronalen Aktivität und subjektiven Erlebniswelt zu erkennen. Diese Beziehung ist nicht geradlinig und konstant: Die Wahrnehmung eines Objekts hat nicht jedes Mal die Aktivität derselben Nervenzellen zur Folge. Erfahrung, Erwartungen und Emotionen, die Motivation oder der Wachheitszustand des Wahrnehmenden beeinflussen, welche Zellen aktiviert werden. Ebenso wird die momentane subjektive Befindlichkeit entscheidend beeinflussen, wie ein Reiz wahrgenommen wird. Es ist also nicht möglich, die Merkmale eines Objektes eins zu eins in das konstante Aktivitätsmuster eines neuronalen Ensembles zu übertragen.

"Das ist der Atem der Natur"

Der "niedere" Sinn des Menschen – und wie Schriftsteller das Riechen betrachten

Die Leistungen des Gehirns sowohl im streng naturwissenschaftlichen Sinn wie auch in seinen kulturellen Leistungen wie Musik, Philosophie und Literatur zu verstehen, insbesondere wo diese eine Reflexion über objektive und subjektive Wahrnehmung anstreben, ist ein wichtiges Anliegen meiner wissenschaftlichen Arbeit. Bleibt man beim Beispiel des olfaktorischen Systems und untersucht die Literatur des 20. Jahrhunderts, fällt auf, dass es Gehirnforschern gelungen ist, besser zu verstehen, was sich bei der Abbildung eines Dufts im Gehirn auf molekularer und zellulärer Ebene ereignet. Dem Künstler hingegen geht es mehr um die Beziehung von Objekt (hier Geruch) und subjektiver Erlebniswelt.

Nachzuverfolgen, wie der Geruchssinn in der Literatur behandelt wird, ist interessant, auch weil sein Stellenwert in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine interessante Wandlung erfahren hat.

Der Geruchssinn zählt seit dem Altertum zu den so genannten niederen Sinnen. Plato und Aristoteles stellten den niederen Sinnen Riechen und Geschmack die "höheren" Sinne Sehen und Hören gegenüber. Schon die Philosophen des Altertums beschäftigten sich ausgiebig mit der Frage, wie die fünf Sinne bei Wahrnehmungsprozessen funktionieren. Sie betrachten auch schon, welche Rolle die Sinne für das Erkennen der Wahrheit haben. Während Sehen und Hören eine wichtige Funktion bei kognitiven Prozessen zugesprochen wird, werden der Geruchs- und Geschmackssinn nicht nur als unwichtig, sondern geradezu als hinderlich angesehen, da sie einer körperlichen Transzendenz entgegenwirken. Die "niederen" Sinne sind nach Plato und Aristoteles nicht dazu geeignet, Erkenntnis zu erlangen, da sie im Unterschied zu Sehen und Hören nicht auf Distanz funktionieren, sondern den direkten Kontakt zwischen Objekt und Körper erfordern. Trotz unterschiedlicher Positionen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, stimmen Plato und Aristoteles darin überein, dass nur Sehen und Hören "philosophische Sinne" und dem Intellekt förderlich sind. Diese Erhebung des Sehens und Hörens über die anderen Sinne muss vor dem Hintergrund der philosophischen Anschauungen der beiden Philosophen verstanden werden. In den Gegensatzpaaren Geist-Körper, Verstand-Gefühl, Kultur-Natur und Mann-Frau (bei Aristoteles) wird jeweils Ersterem der höhere Stellenwert zugeschrieben.

Die Hierarchisierung der Sinne blieb über die Jahrhunderte unverändert. Differenzen in der Bedeutung, die dem Geruchs- und Geschmackssinn beigemessen werden, müssen auf der Basis des philosophischen Gesamtkonzepts der jeweiligen Geisteswissenschaft betrachtet werden.

Zahlreiche Stellungnahmen zur Funktion der Sinne finden sich vor allem in philosophischen Schriften zur Ästhetik, die sich im 18. Jahrhundert zu einer eigenen philosophischen Disziplin entwickelte. Für Kant ist der Geruch allen anderen Sinnen unterlegen. Wie Plato und Aristoteles befindet auch Kant, dass die Abhängigkeit des körperlichen Wohlbefindens von den niederen Sinnen diese untauglich machen für kognitive Erkenntnisse und ästhetische Urteile. Auch für Hegel sind nur die "theoretischen" Sinne Sehen und Hören geeignet, ein Kunstobjekt zu beurteilen. Der direkte körperliche Bezug der "praktischen" Sinne hingegen mache ein objektives Urteil über ein Kunstwerk unmöglich.

Die Thematisierung des Geruchssinns in der schönen Literatur erfolgt im Zusammenhang mit Situationen, die jenseits naturwissenschaftlich-empirischer Analyse liegen. Ganz verschieden ist das Interesse der jeweiligen Schriftsteller an den "niederen" Sinnen – aus den meisten Werken ist aber ersichtlich, dass ihnen keineswegs ein so niederer Rang zugeschrieben wird, wie wir es aus den philosophischen Schriften kennen. Dies mag vor allem mit dieser speziellen Form von Kunst zusammenhängen: Schriftsteller interessierten sich schon immer für das Sinnliche, Irrationale und Emotionale. Geruch und Geschmack sind daher für Schriftsteller ausgezeichnete Auslöser von Zuständen, die in die subjektive Befindlichkeit und in das Seelenleben der Romanhelden hineinblicken lassen.

Das Relative und die Subjektivität der Riechwahrnehmung ist in der Erzählung "Die Betrogene" von Thomas Mann hervorgehoben. Der alternden Protagonistin Rosalie wird ihre Tochter Anna gegenübergestellt. Die beiden Frauen verkörpern zwei Extreme weiblicher Lebensformen: die Mutter "gesellig von Anlage", von heiterer Gemütsart, die Tochter rational, "von ungewöhnlicher Intelligenz". Am deutlichsten manifestiert sich der Unterschied der beiden Frauen in ihrer Einstellung zum eigenen Körper, zur Weiblichkeit sowie zur Natur. Bei der konträren Einstellung zur Weiblichkeit beider Frauen – ein zentrales Thema der Erzählung – verwundert nicht die entgegengesetzte Einstellung zur Natur. Rosalie ist eine "Naturfreundin", von der Tochter hingegen heißt es, sie sei "mit der Natur nicht auf bestem Fuß, sondern muss sie ins Geistige übertragen". Die Wahrnehmung der Natur und ihr Effekt auf die Protagonisten erfolgt vor allem über den Geruchssinn. Thomas Mann beschreibt eindrucksvoll, wie gegensätzlich die beiden Frauen auf ein komplexes Duftgemisch in der Natur reagieren: "Fabrizierte Riechstoffe, Parfüms gebrauchte Rosalie nicht (…) Aber was die Natur unserem Geruchssensorium als Holdheit, Süßigkeit, würziger Bitternis, auch an Schwülem, Berauschendem zu bieten hat, das liebte sie und nahm es tief und dankbar, mit der sinnlichsten Andacht auf. An einem ihrer Spaziergänge gab es einen Abhang, eine gestreckte Bodenfalte und untiefe Schlucht, auf ihrem Grunde tief bewachsen mit Jasmin- und Faulbaumgesträuch, von dem an feucht-warmen, zum Gewitter neigenden Junitagen ganze Schwaden, Wolken erwärmten Wohlgeruchs beinahe betäubend emporquollen. (...) Rosalie atmete den schwer aufwallenden Brodem mit bewunderndem Genuss, blieb stehen, ging weiter, verweilte wieder, beugte sich über den Hang und seufzte: Kind, Kind, wie wundervoll! Das ist der Atem der Natur, das ist er, ihr süßer Lebenshauch, sonnerhitzt und getränkt mit Feuchte, so weht er uns wonnig aus ihrem Schoße zu. Genießen wir ihn in Verehrung, die wir auch ihre lieben Kinder sind." Von Anna heißt es, dass diese Düfte bei ihr Kopfschmerzen hervorriefen, sie zieht die Mutter weiter, und auf die schwärmerischen, entzückten Äußerungen Rosalies entgegnet sie "Mich mag sie (die Natur) weniger und verursacht mir diesen Druck in den Schläfen mit ihrem Duftgebräu."

Großartig und symbolisch ist eines der ersten Bilder im Roman "Der Leopard" von Tomasi di Lampedusa, der einen Gang des Fürsten in seinem Garten beschreibt. Es ist ein Garten, der nicht das Auge, sondern den Geruchssinn anspricht, ein "Garten für Blinde", wie es im Roman heißt. Der Fürst wird beschrieben als "umgetrieben, hier von dem Stolz und dem Intellektualismus der Mutter, dort von der Sinnlichkeit des Vaters". Es ist Letzteres, was den Fürsten, ein Patriarch und ein Sinnbild von Männlichkeit, empfänglich macht für das Schöne, Emotionale, Sinnliche. An mehreren Stellen des Romans ruft ein Duft in dem Protagonisten Erinnerungen hervor, die alle sinnlicher Natur sind und mit dem sexuellen Verlangen des Fürsten in Zusammenhang stehen. Der "dichte, fast schamlose" Duft der Rosen in seinem Garten erinnert ihn an die Schenkel einer Tänzerin. Auf der nächtlichen Fahrt nach Palermo wird der Geruch der blühenden Orangengärten mit "Huris und sinnlichen Orgien nach dem Tode" assoziiert. Dabei ist es nicht ohne Belang, dass der Zweck dieser Reise ein ehelicher Seitensprung ist und diktiert wurde vom "Stachel in seinem Fleisch, der ihn dazu drängte, sich gegen den Zwang und den Druck zu empören". Und nicht zuletzt sei die berühmte Ballszene erwähnt und der Tanz des nicht mehr jungen Fürsten mit der bezaubernden Angelika. Es ist der Geruch ihres Parfüms, aber vor allem der ihrer jungen, glatten Haut, die dem Fürsten den Satz in den Sinn kommen lässt: "Ihre Bettlaken haben sicher den Duft des Paradieses."

Beide literarischen Beispiele belegen, dass in der Literatur eine Kategorisierung der Sinne in "hoch" und "nieder", oder "männlich" und "weiblich" nicht eindeutig erfolgt. In der Erzählung "Die Betrogene" werden Sehen und Riechen mit dem präferenziellen Wahrnehmungssinn zweier Frauen assoziiert, die zugegebenermaßen den rationalen bzw. emotionalen Frauentyp verkörpern. Noch komplexer erfolgt die Vereinigung von "männlich" und "weiblich", von "Sehen" und "Riechen" in der Gestalt derselben Person, des Fürsten im "Leopard". Dabei ist nicht uninteressant, dass der Fürst die "männlichen" Charaktereigenschaften von der Mutter und die "weiblichen" vom Vater geerbt hat.

Dass auch Gerüche als Baustoffe zu kreativem Schaffen geeignet sind, finden wir im Roman von Joris-Karl Huysman "Gegen den Strich" beschrieben. Ein langes Kapitel beschäftigt sich mit dem Riechen. Der Held Des Esseintes lebt abgeschlossen von der Welt in einem Haus, das alle Sinne anregt. Diese ästhetische Dekadenz hat zum Ziel, die Wahrnehmung zu steigern und neue, ungeahnte Sinneserfahrungen hervorzurufen. Neben einer Geschmacksorgel kreiert Des Esseintes auch Geruchslandschaften. Er kombiniert beispielsweise Düfte, um bestimmte Bilder aus der Erinnerung hervorzurufen, lässt auf diese Weise aber neue Landschaften und Bilder entstehen. Des Esseintes konkurriert mit der Natur und ist Schöpfer von imaginierten Duftlandschaften. Das Exzessive an Des Esseintes kreativem Prozess bei der Gestaltung seiner Duftbilder wird deutlich an den Ohnmachtsanfällen, mit denen der Schöpfungsakt nicht selten endet.

Wo sonst als in dem großen Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" von Marcel Proust erfahren die so genannten niederen Sinne die Rehabilitation, die sie eigentlich verdienen: Ein in Tee eingetauchtes Gebäckstück lässt im Erzähler die Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend aufkommen. Es sind die "niederen" Sinne, die Erinnerungen ungewollt heraufbeschwören. Der hohe Stellenwert, der den sinnlichen Erfahrungen dabei zugeschrieben wird, hängt mit Prousts Interesse an der inneren Wirklichkeit seiner Protagonisten zusammen. Mit dem Gedanken, dass nicht Ratio, sondern Intuition, Traum und Leiden den Zugang zur Wirklichkeit ermöglichen, knüpft Proust an die romantische Tradition. Proust zufolge sind Geruch und Geschmack Initiatoren von Erinnerungen, die den Zugang zur inneren Wirklichkeit ermöglichen. Es ist die innere Wirklichkeit und nicht die uns umgebende physische Außenwelt, die nach Proust für das Schaffen eines Kunstwerks entscheidend ist. Da Proust der Kunst die höchste Wirklichkeit zuspricht, sind für ihn Geruch und Geschmack Initiatoren von Prozessen, die über Erinnerung mit Kognition auf höchster Ebene – dem kreativen Schaffen – verbunden sind.

Beispiele zu diesem Thema aus dem Gebiet der bildenden Künste sind rar. Umso eindrucksvoller ist die allegorische Darstellung des Geruchs in der sechsteiligen Gobelinserie "Die Dame mit dem Einhorn". Neben der handwerklichen Kunst beeindrucken hier vor allem die multiplen Interpretationsmöglichkeiten, die eine Verbindung zwischen der persönlichen, gesellschaftlich-politischen und religiösen Ebene erlauben. Des Weiteren fällt auf, dass die fünf Sinne – anders als in philosophischen Texten – in dieser Darstellung als gleichrangig erscheinen: Sie sind ebenbürtige Instrumente der Wahrnehmung und sind gleichzeitig Hindernisse auf dem Weg zu einer höheren spirituellen, intellektuellen, religiösen Wahrheit.

Gerade in einer Zeit, in der naturwissenschaftliche Erkenntnisse einen rasanten Fortschritt erfahren, erscheint es mir wichtig, geisteswissenschaftliche Sicht- und Interpretationsweisen nicht außer Acht zu lassen.

Autorin:
Prof. Dr. Hannah Monyer
Interdisziplinäres Zentrum für Neurowissenschaften
Im Neuenheimer Feld 364, 69120 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 56 24 01
E-mail: monyer@urz.uni-hd.de , cnb@urz.uni-hd.de

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