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Gefühle hinter Wort und Bild: Musik im Hollywood-Film

Anfang der 1930er Jahre entwickelten sich in Hollywood die ersten Tonfilme mit durchkomponierter Partitur. Welch hoher Stellenwert der eigens für einen Film komponierten Musik beigemessen wurde, zeigte sich bereits im Jahr 1934 mit der Einführung der Oscar-Kategorie "Best Score". Das Aufblühen des Tonfilms verlief parallel zur großen Emigration aus Europa, mit der Schauspieler, Regisseure und vor allem Komponisten nach Hollywood kamen. Horst-Jürgen Gerigk vom Slavischen Institut und Dorothea Redepenning vom Musikwissenschaftlichen Seminar demonstrieren am Beispiel ausgewählter Hollywood-Klassiker den kulturellen Dialog zwischen der amerikanischen Traumfabrik und Europa.

Filmmusik dient der Verständnislenkung. Als nonverbales Ausdrucksmittel evoziert und ordnet sie unsere Affekte angesichts des Geschehens auf der Leinwand. Was aber heißt "Ausdruck"?

Im künstlerischen Ausdruck ist das Ausgedrückte selbst da. Zum Ausdruck kommt die gestaltete Sache, die Eindruck machen soll, nicht die Innerlichkeit eines Autors. Ja, das Können des Künstlers ist seine Fähigkeit, das, was Eindruck machen soll, so ins Werk zu setzen, dass es zum Ausdruck kommt. In seinem Traktat Was ist Kunst? beschreibt Lew Tolstoj diesen Vorgang als "Infektion". Der Künstler habe den Leser mit dem Gefühl, das er vermitteln will, zu "infizieren". Wenig später kennzeichnet T. S. Eliot das Können des Dramatikers als die Fähigkeit, zu einer Emotion das "objektive Korrelat" herzustellen, sodass dessen Anblick als eine Reihe von Ereignissen im Zuschauer die gewünschte Emotion automatisch auslöst. In solchem poetologischen Kontext ist Filmmusik zu analysieren.

Wie lassen sich Film und Musik zusammenbringen? Wie kann, grundsätzlich gesehen, Musik dem "Lichtspiel" (Heidegger) und den "Gespenstern" (Adorno) Lebendigkeit verleihen? In der Stummfilmära sind vier Möglichkeiten unterschieden worden. Ganz schlicht: ein Ensemble aus Pianist, Geiger und Schlagzeuger, die – je nach Geldgeber – auch einzeln oder zu zweit die Bilder improvisierend mit illustrierenden Klängen unterlegten. Als anspruchsvoller galt ein kleines Orchester, das im vorhinein festgelegte Nummern aus klassischer und Salon-Musik spielte. Für künstlerisch noch wertvoller erachtete man eine Musik, die von einem konkreten Autor für einen konkreten Film kompiliert wurde. Als edelste Kategorie schließlich galt die für einen Film eigens komponierte Musik, also die künstlerisch gestaltete Einheit von Bild und Klang. In der Stummfilmzeit war diese Kategorie die Ausnahme; im Tonfilm wird sie zur Norm.

Mit der wachsenden Produktion von Stummfilmen entstand ein wachsender Bedarf an leicht verfügbarer Musik, den Notensammlungen und Handbücher befriedigten. John Stepan Zamecnik, ein Geiger und Dirigent tschechischer Herkunft, publizierte 1920 seine zweibändige Sam Fox Photoplay Edition, die zu einem international geschätzten Standardwerk wurde. Es handelt sich um eine Sammlung von gut 100 kleinen Orchesterstücken, aus denen für unterschiedliche Filmszenen passende Sequenzen zusammengestellt werden können. Modell und historischer Bezugspunkt sind die kleinen Charakterstücke, auch instrumentale Etüden für Klavier, die meist mit programmatischen Titeln versehen waren und eine konkrete Stimmung evozieren sollten – von Robert Schumanns Zyklen Album für die Jugend oder Waldszenen bis hin zu Antonín Dvor?áks Zyklen Aus Böhmens Wald oder Poetische Tonbilder. Zamecniks Stücke erheben nicht den Anspruch, Kunst im emphatischen Sinne zu sein, aber sie partizipieren an diesem Anspruch, indem sie sich in die Gattungstradition des kleinen Charakterstücks einordnen, das vom ästhetischen Rang, den es noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts behauptete, allmählich ins musikalische Souterrain abgesunken war.

Einen Schritt weiter gehen Hans Erdmann und Giuseppe Becce, beide Filmkomponisten, die 1927 ein zweibändiges Allgemeines Handbuch der Film-Musik herausgaben. Sie unterscheiden "Illustration" als Unterlegung eines Films mit Musik im weitesten Sinne, "Autorenillustration" als planvolle Zusammenstellung einer Filmmusik aus existierender Musik durch einen Fachmann und kennzeichnen als Idealziel die "Komposition". Gemeint ist "das Schaffen eines eigentlichen Musikfilms", in dem ein Komponist als Autor für die Musik verantwortlich zeichnet. Da dieses Stadium noch nicht erreicht sei, bieten Erdmann und Becce ein Kompendium für die "Autorenillustration" an, das sich an professionelle Arrangeure mit Zugriff auf umfassende Notenbibliotheken richtet. Der zweite Band, ein Thematisches Skalenregister, enthält 3050 musikalische Inzipits, gegliedert in die drei großen Blöcke "Dramatik", "Lyrik" und "Incidenz".

Die Sammlungen Zamecniks sowie Erdmanns und Becces sind genrespezifisch angelegt. Die Unempfindlichkeit gegenüber den unterschiedlichen Stilhöhen der Vorlagen steht im Dienst des ästhetischen Produktes, des Kunstwerks Film. Aus solcher Perspektive ist die Stilhöhe des Materials unerheblich, solange sie für die Gesamtkomposition nicht relevant ist.

Die Voraussetzung für den Konsens über Musik als international verständlicher Metasprache, eine Voraussetzung von der die beiden Sammlungen ausgehen, ist die Überzeugung, dass Musik den emotionalen Gehalt, die Gefühlswerte hinter gesprochener Sprache eindeutig und interkulturell zum Ausdruck bringen könne und dass sie ein klingendes Vokabular bereitzustellen vermag, das dem Betrachter eindeutig vermittelt, in welcher Zeit, an welchem Ort und in welchem Kontext er sich befindet. Die Musik des Vorspanns zu Casablanca ist dafür ein Musterbeispiel. Beides ist, was die Zeichen anbelangt, keineswegs selbstverständlich, sondern in einer Tradition gewachsen, die in dieser Ausprägung europäisch verwurzelt ist. Dass Musik emotionale Gehalte transportiere, dass sich die Wahrnehmung über Musik steuern lasse, ja dass der Mensch durch Musik zu prägen sei, geht bis auf Platon und Aristoteles zurück und ist im musiktheoretischen Diskurs vom Mittelalter über die so genannte Affektenlehre bis in die Programmusik lebendig. Das Bewusstsein für musikalisches Lokal- und Zeitkolorit, auch "Sozial-Kolorit" hat sich im europäischen 18. und vor allem 19. Jahrhundert entwickelt.

Unter dem Aspekt der Internationalität sowie der Stil- und Repertoirebildung ist von Interesse, welche konkreten Quellen Erdmann und Becce benutzen: Beispiele aus Opern von Jules Massenet, Giuseppe Verdi, François Auber und Peter Tschaikowsky, generell instrumentale Auszüge aus Opern, außerdem aus Balletten, Suiten, symphonischen Tänzen, aus Operetten, aber keine Auszüge aus Symphonien. Lebende Komponisten, die nicht ausgewiesenermaßen für den Film oder die Estrade schreiben, kommen abgesehen von Sergej Rachmaninow nicht vor. Anders gesagt: Hier ist die populäre Klangwelt des 19. Jahrhunderts und ihre Fortsetzung aus der Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts versammelt.

Dieses Klangideal wird das Modell, nach dem sich die ersten Tonfilme richten und nach dem Filmmusik-Komponisten vorgehen, also Künstler, die die edelste Stufe der Film-Illustration verwirklichen. Der Schritt zum durchkomponierten Film wird in Hollywood vollzogen; den Zeitumständen ist es geschuldet, dass es europäische Komponisten sind, Komponisten, die mit dem von Erdmann und Becce angepriesenen Repertoire aufgewachsen sind und die dieses Film-Musik-Ideal mit in die USA bringen.

Das Aufblühen des Hollywood-Tonfilms fällt in die frühen 1930er Jahre, als europäische Künstler, viele von ihnen jüdischer Herkunft, dem Nationalsozialismus entfliehen konnten und in den USA eine neue Heimat fanden. Der Handbuch-Klassiker American Film Music: Major Composers, Techniques, Trends, 1915-1990, den William Darby und Jack du Bois im Jahr 1990 herausgaben, ist nach Filmkomponisten gegliedert. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie eine Emigrantenliste: Max Steiner, Franz Waxman, Erich Wolfgang Korngold, Dimitri Tiomkin, Miklos Rozsa … Aber nicht alle der prominenten Europäer sind unter dem Druck des Nationalsozialismus emigriert. Max, eigentlich Maximilian, Steiner, aus Wien, Patensohn von Richard Strauss, kam schon 1914 als Operettenkomponist und -dirigent an den Broadway. Dimitri Tiomkin, aus der Ukraine und am Petersburger Konservatorium ausgebildet, ging nach der Oktoberrevolution nach Berlin und 1925 als Klavierbegleiter in die USA. Miklos Rozsa, gebürtiger Ungar und ausgebildet an den Konservatorien in Budapest und Leipzig, ging 1935 für Filmmusik-Kompositionen nach London und von dort 1939 in die USA. Erich Wolfgang Korngold, der als Zwanzigjähriger mit seinen Opern Violanta und Die tote Stadt Aufsehen erregt hatte, kam 1934 durch eine Zusammenarbeit mit Max Reinhardt nach Hollywood, von wo er nach dem "Anschluss" 1938 nicht nach Wien zurückkehrte. Franz Waxman, eigentlich Wachsmann, Absolvent des Berliner Konservatoriums und geschätzter Jazzpianist, war Arrangeur und Dirigent von Friedrich Hollaenders Partitur zum Blauen Engel (1929), aus dem die beiden für Marlene Dietrich geschriebenen Lieder Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt und Ich bin die fesche Lola populäre Schlager wurden. Nachdem er vom Nazipöbel zusammengeschlagen wurde, floh er 1933 nach Paris und von dort weiter nach Hollywood. Aus Waxmans Berliner Umfeld flohen ebenfalls Friedrich Hollaender und sein Vater Victor Hollaender, die als Schlagerkomponisten bzw. als Dirigenten in Hollywood wirkten, der Filmproduzent und Ufa-Chef Erich Pommer, Max Reinhardt, Fritz Lang und Marlene Dietrich.

Die Musikergeneration, die mit dem Aufblühen des Tonfilms, des "Talkie", nach Hollywood kam und seinen charakteristischen Film-Sound prägte, brachte eine Ästhetik und eine handwerklich-stilistische Grundlage mit, die ihrerseits bereits ein interkulturelles Produkt war: Der Aufschwung der Tanz- und Unterhaltungsmusik der 1920er Jahre in Europa, der auch den Bereich der so genannten ernsten Musik nachhaltig prägte, verdankt sich dem Import des amerikanischen Jazz. Mit den Musikern kehrte ein europäisch adaptierter Jazz in die USA zurück. Zugleich brachten die Musiker einen Stil mit, der mit Fin de siècle zu umschreiben ist, einen symphonisch-pathetischen, üppig instrumentierten Orchestersatz, der sich von Richard Wagner auf den musikalischen Expressionismus vererbt und seine charakteristische Ausprägung in Opern wie Korngolds Tote Stadt oder Alexander von Zemlinskys Florentinische Tragödie gefunden hatte. Aus dieser polystilistischen und von unterschiedlichen Stilhöhen kommenden Melange entfaltet sich die Musik des Hollywood-Films.

Filmproduktionen sind stets gattungsbewusst. Denn die anvisierte Zielgruppe entscheidet ja über den Erfolg auf dem Markt. Gewählt und geplant wird jeweils eine "Machart", die – ausgeklügelt – über Drehbuch, Casting und die Musik wacht, sei es Comedy, Film noire, Kriegsfilm oder Western. Dass Klassiker ihr Muster sprengen, bleibt davon unberührt. Anders gesagt: Wer sein Ohr trainiert hat, dem wird es leicht fallen, bereits aus der Musik eines Vorspanns die filmische Gattung zu erraten. Meist gelten Komponisten als Spezialisten für bestimmte Genres – Max Steiner für melodramatische Ereignisse wie King Kong, Gone With the Wind oder Casablanca, Franz Waxman für Thriller wie Dr. Jekyll and Mr. Hyde und manche Hitchcock-Filme, Erich Wolfgang Korngold für Abenteuerfilme wie The Adventures of Robin Hood oder The Sea Wolf, Miklos Rozsa für Historienfilme wie Quo vadis und Ben Hur, Dimitri Tiomkin für Western wie High Noon, Rio Bravo oder The Alamo. Selbstverständlich bedienten alle Komponisten unterschiedliche Genres. Die Praxis der Komponistenauswahl und das amerikanische Schrifttum zur Filmmusik neigen aber dazu, Filme zusammen mit ihren Musiken bestimmten Genres zuzuordnen. Sie werden in ein Raster aus inzwischen vielfach differenzierten Gattungen eingepasst. Die Ausgangsidee zu diesem Verfahren ist eine Gattungspoetik, wie sie im Drama und in der Oper gebräuchlich war; entscheidend für die Differenzierung ist aber offenbar die Pragmatik des Marktes. Gut sortierte Produkte verkaufen sich leichter, das gilt für den Film ebenso wie für die heute in unzählige Genres differenzierte Populärmusik. Was Filmmusik leisten kann, sei nun an zwei Beispielen, Gone With the Wind und High Noon, skizziert.

Der außerordentliche Anspruch von Gone With the Wind (1939, Regie: Victor Fleming) kommt auf technischer und inhaltlicher Ebene gleichermaßen zum Ausdruck. Man entschied sich für Farbe als neue Ausdrucksqualität und für doppelte Spielfilmlänge, also für die Maße eines abendfüllenden Dramas bzw. einer abendfüllenden Oper und appellierte damit an einen Bildungshorizont, an dem der Film nicht notwendigerweise partizipiert; und man entschied sich für eine nahezu durchgehende Musikunterlegung, mit der man den inzwischen hoch renommierten Max Steiner beauftragte. Seine symphonisch durchgearbeitete Partitur belegt etwa drei Viertel der Gesamtspielzeit. Schon ihre äußere Gestalt also unterstreicht den Anspruch der Konzeption. Zugleich aber gemahnt die Menge an Musik noch an die Stummfilmzeit, an die Sorge, ein Bild ohne Klang oder nur mit den Stimmen der Schauspieler versehen, wirke "unnatürlich", wie ein "Gespenst".

Inhaltlich basiert der Film auf Margaret Mitchells gleichnamigem 1936 erschienenen historischen Roman, der sogleich zu einem internationalen Bestseller avancierte. Allein in Deutschland wurden mehr als 360 000 Exemplare verkauft, bis die Nationalsozialisten das Werk 1941 auf den Index setzten. Mitchells Südstaaten-Epos zeigt den amerikanischen Bürgerkrieg und den Untergang der alten Welt aus der Perspektive zweier Gutsbesitzerfamilien; am Beispiel der Hauptfiguren – Scarlett O'Hara (Vivien Leigh), Rhett Butler (Clark Gable), Ashley Wilkes (Leslie Howard), Melanie Hamilton (Olivia de Havilland) und der schwarzen Haushälterin Mammy (Hattie McDaniel) – wird dargestellt, wie die große Geschichte in ihr Leben eingreift und sie formt. Roman und Film trafen mit ihrer Thematik des Werteverlusts und der Nostalgie den Nerv der Zeit, wobei Scarlett O'Hara als Hoffnungsträgerin fungiert, indem sie sich von einer verwöhnten Southern Belle über eine skrupellose Geschäftsfrau und nach drei gescheiterten Ehen zu einer verantwortungsvollen Persönlichkeit entwickelt. Über das Thema "Building of a Nation" bezieht sich der Film darüber hinaus zurück auf David W. Griffiths Birth of a Nation (1915, nach dem Roman The Clansman von Thomas Dixon, Jr., 1905), einen der ersten großen Stummfilme, der am Beispiel einer Südstaaten- und einer Nordstaaten-Familie die Geschichte des Bürgerkriegs und seine Konsequenzen darstellt: mit unverhohlener Verherrlichung des Ku Klux Klan.

Steiners Partitur verschränkt die junge Tradition der Filmmusik mit der Operntradition, nicht etwa mit der Operette, die sein Metier vor dem Film war. Zu Verfahrensweisen der Filmmusik gehören einmal das Einblenden von Bürgerkriegsliedern, Straßen- und Tanzmusik – Musik, die im "On" erklingt (das Äquivalent ist die Bühnenmusik in der Oper), zum anderen das so genannte Mickeymousing, das Nachzeichnen von Bewegung oder Gestik durch Musik. Aus der Operntradition stammt vor allem die Idee einer Ouvertüre: Der Film beginnt mit einem als "Ouverture" bezeichneten instrumentalen Vorspiel zu einem stehenden Bild – gleichsam einem Bühnenvorhang, bevor der übliche Vorspann einsetzt. Beides zusammen umfasst knapp sechs Minuten und ist aus Leitmotiven der Figuren so zusammengesetzt, dass musikalische Ausdruckscharaktere kontrastieren können, etwa das scherzando-hafte Mammy-Thema, das mit seinen Synkopen und seinem schlichten Bass zugleich für schwarzes Lokalkolorit einsteht, und das elegische, gesangliche Thema, das für Ashley und Melanie einsteht und dem Hauptthema der Tatjana aus Peter Tschaikowskys Eugen Onegin nachgebildet ist. Krönender Abschluss der Ouvertüre ist das Thema, das Tara, dem Landgut der O'Haras, zugeordnet ist. Es erklingt zur Einblendung des Titels und durchzieht den Film als sein musikalisches Hauptthema. Die zentrale Rolle der Musik wird durch einen Entracte mit symphonischer Schlachtenmusik und durch eine "Exit Music" bestätigt.

Aus den Leitmotiven entwickelt Steiner ein klangliches Netz, das die emotionale Entwicklung des Films trägt, das den Zuschauer in seinem Verständnis der Personen und der Handlung unmerklich lenkt, das über die Schnitte hinweggleitet und das sich so weit im Hintergrund hält, dass man Aaron Coplands Diktum verwirklicht meint, die beste Filmmusik sei die, die man gar nicht wahrnehme. Tatsächlich ist Steiners Leitmotivtechnik so ausgefeilt und sein Verfahren der Film-Musikalisierung so weit entwickelt, dass er virtuos modulieren kann zwischen einer Musik, die man wirklich nicht zu hören meint, weil sie viel leiser ist als der Dialog, und einer Musik, die in den Vordergrund tritt, die vom Innenleben des "filmischen Ichs" kündet, die dem Betrachter vielleicht sogar Dinge sagt, die die Figur auf der Bühne noch nicht weiß. Handwerklich gesprochen moduliert diese Musik zwischen neutralem "Underscoring" oder abfällig "elevator-music" und emotionale Spannung aufbauender Mood-Technik.

Wenn Reinhard Strohms These zutrifft, dass der Hollywood-Film das Erbe der Opera seria angetreten habe, dann ist ein Film wie dieser ein trefflicher Beleg: Die Präsenz der Musik, das Verweben von Geschichte und privatem Schicksal, auch die Produktionsbedingungen, die auf Tempo und Arbeitsteilung beruhen, der Star-Kult und ein breites, nicht unbedingt intellektuell geschultes Publikum sind Gemeinsamkeiten, die über beide Komponenten – Oper und Film – Aufschluss geben.

Die Musik zu Fred Zinnemanns Western-Klassiker High Noon (1952, nach John M. Cunninghams Erzählung The Tin Star schrieb Dimitri Tiomkin und wurde dafür gleich mit zwei Oscars ausgezeichnet – in den Kategorien "Best Score" und "Song": für den Titelsong Do not forsake me, o my darlin'. Im amerikanischen Kontext wird dieser meist als Ballade bezeichnet – "The Ballad of High Noon" -, denn das Lied stellt den Kern der Handlung und auch die Vorgeschichte aus der Sicht des Sheriffs Kane (Gary Cooper) voran: die Bedrohung durch den zurückkehrenden Frank Miller, die Angst, von der Ehefrau (Grace Kelly) verlassen und im Kampf getötet zu werden, die Unvereinbarkeit von Liebe und Pflicht. Ned Washington, der mit diesem Lied eine Karriere als Western-Song-Poet startete, artikuliert das in einer einfachen, einer unprätentiösen Sprache, die deutlich signalisiert, für jedermann verständlich sein zu wollen, und Tiomkins Musik folgt diesem Anspruch. Es ist ein schlichtes Lied, gesungen von einer einzelnen folkloristischen Männerstimme und begleitet von einem kleinen Ensemble, das die Klangfarbe von Mundharmonika und Banjo evoziert, also von Instrumenten, die einem "Westerner" durchaus verfügbar sein könnten. Tatsächlich ist das Lied instrumentiert mit Gitarre, Akkordeon und Bongos – also mit einer de facto erlesenen Klangfarbenkombination, die dank ihrer Extravaganz Simplizität, das heißt Authentizität suggeriert.

Bis dahin war es in Hollywood-Filmen üblich, einen groß instrumentierten Vorspann voranzustellen, sei es einen symphonischen nach dem Modell der Opern-Ouvertüre oder sei es ein symphonisch begleiteter Chorsatz nach dem Vorbild von Oratorien wie etwa in Howard Hawks Western-Klassiker Red River (1948), zu dem Tiomkin ebenfalls die Musik schrieb (er hat das Hauptthema aus diesem Film später als Song in Rio Bravo, 1959, wiederverwendet). Mit der Entscheidung für einen Titelsong hat man mit dem etablierten Hollywood-Usus der symphonischen Eröffnungsmusik gebrochen und diesem Usus etwas Neues entgegengestellt, gleichsam etwas Eigenes, nicht von europäischer Tradition Belastetes. Dass der Song als Neuerung begriffen wurde, zeigt die Titelsong-Mode, die von High Noon ausging und an die Tiomkin selbst etwa in dem Western Gunfight at the O.K. Corral (1957) anknüpfte.

Nun sind Vorbilder aus der symphonischen und Operntradition mit der Entscheidung für einen Song im typischen Western-Sound keineswegs außer Kraft gesetzt – im Gegenteil: Tiomkin hat in High Noon nahezu die gesamte Filmmusik aus dem Song abgeleitet. Haupt- und Mittelteil des Songs sind für eine breit ausgeführte symphonische Entfaltung und Kontrastbildung, ja sogar für die Ausprägung eines Themendualismus genutzt; das heißt die Tradition, die mit dem Titelsong verabschiedet wurde, kommt in der kompositorischen Verarbeitung wieder herein, denn sie bestimmt auf der Basis dieses populären Liedes, wie diese Filmmusik gemacht ist. Die "Ballad of High Noon" birgt in sich offenbar eine zweistufige Dialektik: Der Song evoziert Western-Volkstümlichkeit – das wird erreicht mit extravaganter Instrumentenkombination; der Song evoziert Western-Schlichtheit – dies wiederum als Grundlage für eine Partitur, die im Sinne der europäischen Tradition motivisch-thematisch durchgearbeitet ist.

In dieser Partitur wirkt ein hohes Maß an Professionalismus, was sich am Wechselverhältnis zwischen der Narrativität bzw. der semantischen Eindeutigkeit und – filmtechnisch gesprochen – der "Schneidbarkeit" der Musik greifbar machen lässt: Die beiden Teile des Songs sind durch die Exposition mit Text semantisch so weit aufgeladen, dass sie im Laufe des Films in allen erdenklichen instrumentalen Gestalten und vor allem, wenn sie nur einen Takt lang – nur im Bruchteil einer Sekunde – erklingen, doch als emotions- und sinntragend wahrgenommen werden. Diese Partitur zeigt exemplarisch, dass eine Filmmusik dann "gut" ist, wenn sie in einem Minimum an Zeit ein Maximum an Aussage verwirklicht. Anders gesagt, die Filmmusik ist dann "gut", wenn sie ohne symphonische Entwicklung auskommen kann oder wenn sie Kontemplation – also das, was eine gute Opernarie ausmacht – kurz fassen, d.h. in ein knappes charakteristisches Motiv oder eine Klangfarbe konzentrieren kann. Ein Filmkomponist hat mit dem Dilemma zu kämpfen, dass er sich dem Film und seinem Tempo unterordnen muss, also für musikalischen Ausdruck keine Zeit hat, dass er aber – jedenfalls bei Filmen dieser Art und dieser Zeit – den Anschein symphonischer Tradition zu wahren hat.

Dass der Beschränkung eine Bereicherung innewohnen kann, macht die Besonderheit dieser Filmmusik aus und ihren Vorbildcharakter für Hollywood nachvollziehbar: Bis dahin war es üblich, Filmmusiken am Vorbild der Oper auszurichten, sich also grosso modo an der europäischen Tradition des 19. Jahrhunderts zu orientieren. Dieser Anspruch kommt in der Regel im Habitus der Vorspannmusik synthetisch zum Ausdruck. Tiomkin setzt an die Stelle der europäisch inspirierten Film-Ouvertüre den amerikanisch inspirierten Western-Song; er signalisiert, zugespitzt gesagt, einen Wertewechsel oder eine Emanzipation, die für diesen Film insgesamt gelten mag und die in dem Attribut "adult Western" Ausdruck fand.

In der kompositorischen Durchführung aber hält sich Tiomkin geradezu vorbildlich an Techniken, die der europäischen Symphonik, genauer der so genannten neudeutschen Schule (Liszt und Wagner), gehören. Er hat die einzelnen Phrasen seines Liedes – auch nur einen oder zwei Takte – durch motivische Arbeit wie kontrapunktische Überlagerung und durch die Instrumentation derart aufbereitet, dass sie ohne Schwierigkeiten in einen symphonischen Kontext mit gehobenem Anspruch übertragbar wären.

Das Verfahren, eine Volksmusik – hier den Western-Song – symphonisch zu verarbeiten, war im 19. Jahrhundert ein probates Mittel, nationale oder kulturelle Identität klingend geltend zu machen. Man ging dabei von der Überlegung aus, dass ein Volkslied durch die Übernahme in künstlerische Formen wie die Oper, die Symphonie, die Symphonische Dichtung nobilitiert werde und umgekehrt auch die musikalischen Formen durch die nationale Prägung nobilitiere. Dies war das Credo, nach dem auch am Petersburger Konservatorium gelehrt wurde, und genau dies ist das Handwerkszeug, das Tiomkin als junger Mann bei Alexander Glasunow selbstverständlich gelernt hat.

Ein Grund für die hohe Verehrung, die man diesem Titelsong und dieser Filmmusik in den USA entgegenbrachte und der man mit zwei Oscars glanzvollen Ausdruck verlieh, mag über diesen Hintergrund verständlich werden: Denn zum einen nobilitiert der Song das Genre Western, indem er es von der Hollywood-Ouvertüre befreit und so zu sich selbst bringt; zum anderen fungiert dieser Song wie ein Volkslied, das einen symphonischen Zusammenhang stiften, also in elitäre Kunst hinüberwechseln kann. Indem diese Filmmusik auf die symphonische Tradition nicht mehr über deren schlecht imitiertes Vorbild, die Ouvertüre, zurückgreift, sondern sich vielmehr die symphonische Tradition über einen Westernsong zu eigen macht, tritt sie das europäische symphonische Erbe sozusagen auf einer neuen, dialektisch höher stehenden Ebene an.

In der Zwangsjacke fremder Vorgaben dienend innovativ zu sein, das ist die Situation des Filmkomponisten. Und der Kinogänger als Adressat wird mehrheitlich immer nur eine Wirkung spüren, die für ihn anonym bleibt. Der Beitrag will im Vorblick auf eine Monographie die Welt der Filmmusik aus ihrer "natürlichen" Anonymität ins Licht der analytischen Würdigung holen – im Horizont kulturgeschichtlicher und musikgeschichtlicher Koordinaten, in deren Mittelpunkt das filmische Einzelwerk als Gesamtkunstwerk steht.

Autoren:
Prof. Dr. Horst-Jürgen Gerigk
Slavisches Institut, Universität Heidelberg
Schulgasse 6, 69117 Heidelberg
E-mail: kv3@ix.urz.uni-heidelberg.de

Prof. Dr. Dorothea Redepenning
Musikwissenschaftliches Seminar, Universität Heidelberg
Augustinergasse 7, 69117 Heidelberg
E-mail: dorothea.redepenning@urz.uni-heidelberg.de

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