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Die Anstandsdamen der Proteine

Der französische Begriff "Chaperon" bezeichnet Anstandsdamen, die darauf aufpassen, dass unverheiratete Mädchen keinen Unfug treiben. In der Molekularbiologie sind damit Proteine gemeint, die anderen Proteinen beim Heranreifen helfen, unerwünschte Kontakte unterbinden und Fehler korrigieren. Molekulare Chaperone ordnen die Welt der Proteine, sie sind gewissermaßen Geburtshelfer, Kontrolleure und Ärzte und damit grundlegend für sämtliche Zellprozesse sowie übergeordnete Vorgänge wie Altern und Evolution. Darüber hinaus sind sie bedeutend für das Entstehen von Krankheiten wie Krebs, Infektionen und Herzinfarkt. Bernd Bukau vom Zentrum für Molekulare Biologie beschreibt die Aufgaben der Chaperone und erklärt, auf welche Weise sie ihre behütende Funktion erfüllen.

Proteine werden von hochmolekularen Proteinfabriken, den Ribosomen, hergestellt. Die biosynthetische Leistung der Ribosomen im Innern der Zellen besteht in der chemischen Verknüpfung – der Ausbildung von Peptidbindungen – von zwanzig verschiedenen Aminosäurebausteinen zu einer linearen Polypeptidkette, die sich typischerweise aus mehreren hundert Aminosäuren zusammensetzt. Die Ribosomen führen die Synthese Schritt für Schritt durch, indem sie an einem Ende der Polypeptidkette beginnen und Aminosäure für Aminosäure verknüpfen, bis das andere Ende der Kette erreicht ist.

Die Reihenfolge der Bausteine einer Polypeptidkette ist die Primärsequenz. Sie wird durch die genetische Information des kodierenden Gens festgelegt und ist für jede Proteinspezies eine andere. Diese Vielfalt der Aminosäureketten bestimmt die Verschiedenheit der Proteine und befähigt beispielsweise Insulin zur Blutzuckerregulation und Hämoglobin zum Sauerstofftransport. Damit ein Protein seine biologische Aktivität entwickeln kann, muss die Aminosäurekette allerdings erst zu einer dreidimensionalen Struktur "gefaltet" werden. Die Faltung stellt die Reifung des Proteins dar und ist ein faszinierend komplexer Vorgang, der Generationen von Forschern beschäftigt hat. Er beruht auf Wechselwirkungen zwischen den Aminosäuren einer Polypeptidkette, die sich innerhalb von Sekunden bis Minuten ausbilden. Hierbei werden die hydrophoben (Wasser abweisenden) Aminosäuren, die sich nicht gut mit dem wässrigen Milieu der Zelle mischen, im Inneren der Proteinstruktur verborgen.

In gefalteten Proteinen existieren vorwiegend zwei Sekundärstrukturen, Alpha-Helices und Beta-Faltblätter, die in vielfältiger Weise miteinander kombiniert und mit Schleifen ("loops") verbunden werden und dadurch dreidimensionale Struktureinheiten, die so genannten Faltungsdomänen, mit typischerweise 100 bis 200 Aminosäuren ausbilden. Viele Proteine bestehen aus mehreren Faltungsdomänen, die miteinander wechselwirken und dadurch eine übergeordnete Tertiärstruktur bilden. Die Komplexität der Proteine ist sogar noch höher, da die Ausbildung einer funktionsfähigen Entität oftmals die geordnete Zusammenlagerung mehrerer gefalteter Proteine der gleichen oder verschiedener Spezies in eine Quartärstruktur voraussetzt.

Die wachsende Polypeptidkette wird kontinuierlich vom Ort ihres Entstehens im Innern des Ribosoms durch einen engen Tunnel an die Oberfläche dieser molekularen Maschine geschleust. Hier beginnt nun die Faltung des Proteins. Dies ist ein komplexer Vorgang, der in hohem Maße anfällig für Fehler ist und zur Bildung von "missgefalteten" Proteinen führen kann, die nicht funktionell und bisweilen sogar toxisch sind. Eine Proteinmissfaltung kann aber auch bereits existierende, native Proteine betreffen und ist damit ein viel generelleres Problem für Zellen. So können Proteine missfalten, wenn Zellen Stress, etwa einer Hitzebehandlung, ausgesetzt sind. Oder wenn Proteine durch Mutationen, zum Beispiel bei Erkrankungen wie Krebs oder zystischer Fibrose (einer erblichen Stoffwechselkrankheit; der Gendefekt führt dazu, dass ein Membranprotein, das für die normale Schleimproduktion wichtig ist, fehlt oder in seiner Funktion beeinträchtigt ist) destabilisiert werden. Schließlich können auch langfristige Veränderungen der Proteine stattfinden, beispielsweise beim Aß-Protein der Alzheimer Plaques oder bei Prionen.

Missgefaltete Proteine unterscheiden sich von korrekt gefalteten, "nativen" Proteinen oftmals darin, dass hydrophobe Aminosäuren vom Inneren des Proteins an die Oberfläche gelangen und unerwünschte hydrophobe Wechselwirkungen mit anderen Proteinen (meist der gleichen Spezies) eingehen. Dieser Vorgang der "Proteinaggregation" wird erleichtert durch die Tatsache, dass Proteine derart eng in der Zelle zusammengepackt vorliegen (circa 200 bis 300 Gramm pro Liter Zellvolumen), dass es zu einem "macromolecular crowding" kommt – einer Platzenge, die es mit sich bringt, dass Proteine ständig miteinander kollidieren.

Die Proteinaggregation reflektiert somit Faltungsprobleme von Proteinen und äußert sich in vielfältiger Weise: Eiweiß aggregiert, wenn man ein Ei kocht; biotechnologisch hergestellte Proteine bilden "inclusion bodies" in ihren Wirtszellen; viele neurodegenerative Erkrankungen gehen mit der Ausbildung von Proteinaggregaten, den Amyloidfibrillen, einher; Missfaltung und Aggregation von Proteinen tragen wesentlich zur Alterung von Zellen und dem Absterben unter Stress bei.

Um diesen Problemen zu entgegnen, besitzen Zellen ein Arsenal von molekularen Chaperonen, die rund zehn Prozent der gesamten Proteine der Zelle ausmachen. Chaperone binden und schützen die neu synthetisierten Proteine, bis sie ihre native dreidimensionale Struktur erhalten haben. Sie verhindern unerwünschte Proteinaggregationen, indem sie exponierte hydrophobe Bereiche abschirmen, und vermögen in aktiver Weise die native Faltung von Proteinen zu assistieren. Sie sind sogar in der Lage, bereits aggregierte Proteine wieder aufzulösen und in den nativen Zustand zurückzufalten. Meine Arbeitsgruppe konnte in den letzten Jahren einige Arbeitsweisen der molekularer Chaperone aufklären.

Das erste Chaperon, das in Bakterien mit neu synthetisierten Proteinen Kontakt aufnimmt und schon während ihrer Biosynthese bei der Faltung hilft, ist das Ribosomen-assoziierte Protein "Triggerfaktor". Er sitzt direkt am Tunnelausgang des Ribosoms und nimmt die Polypeptidketten in Empfang. Der Triggerfaktor wurde in unserem Labor als Chaperon für neusynthetisierte Proteine entdeckt und seine Bedeutung für die Faltung bestimmt. Wie er den Proteinen jedoch konkret bei der Faltung hilft, war zunächst unbekannt. Im Jahr 2004 konnte in Zusammenarbeit mit Nenad Ban (ETH Zürich) und Elke Deuerling (Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg) die Atomstruktur des Triggerfaktors im Komplex mit dem Ribosom aufgeklärt werden: Der Triggerfaktor wölbt sich über den Tunnelausgang des Ribosoms und bildet eine hydrophobe Höhle, in welche die aus dem Ribosom herauswachsende Aminosäurekette aufgenommen wird. Wir vermuten, dass in dieser Höhle die ersten Faltungsschritte eines Proteins stattfinden. Die Faltung des Proteins könnte durch hydrophobe Wechselwirkungen solange verzögert werden, bis die Aminosäurekette aufgrund der weiterlaufenden Synthese eine Länge erreicht hat, die es erlaubt, eine stabile Faltungsdomäne auszubilden. Die biochemischen Eigenschaften des Höhleninneren ermöglichen dadurch eine Faltung einzelner Domänen des "neugeborenen" Proteins in geschützter Umgebung. Möglicherweise wird das Protein erst aus der Höhle entlassen, wenn die Faltung erfolgt ist, wobei die molekularen Details dieses Faltungsprozesses noch weitgehend unklar sind. Auch ist noch unklar, wie die ersten Faltungsschritte am Ribosom in evolutionär höher entwickelten Zellen vonstatten gehen. Höhere Zellen besitzen zwar keinen Triggerfaktor, dafür aber mehrere andere Ribosomen-assoziierte Chaperone, denen bislang jedoch noch keine konkreten Funktionen bei der Faltung von Proteinen zugeordnet werden konnten.

Für viele neusynthetisierte Proteine reichen die Faltungen am Ribosom nicht aus, um die native Raumstruktur zu erlangen. Weitere Hilfestellungen erbringen Mitglieder der Hitzeschockproteinfamilien 70 (Hsp70) und 60 (Hsp60), die zusammen mit dem Triggerfaktor ein kooperierendes Chaperon-Netzwerk bilden.

Namensgebend für die Hsp70- und Hsp60-Proteine war der Befund, dass sie nicht nur für die Faltung neusynthetisierter Proteine wichtig sind, sondern auch als zentrale Komponenten des zellulären Reparatursystems für missgefaltete Proteine fungieren und daher essentiell für das Überleben von Zellen unter Stressbedingungen sind. Ein Teil der Überlebensstrategie von Zellen, die Stress ausgesetzt sind, ist die Synthese von Hsp70 und Hsp60 im Rahmen einer so genannten "Hitzeschockantwort".

Hsp70- und Hsp60-Chaperone benötigen die Energie von ATP, der zellulären "Energiewährung", um in kontrollierter Weise an ihre Substrate – die sich faltenden und missgefalteten Proteine – zu binden und sie danach wieder für die weitere Faltung freizugeben. Beide Chaperone binden an oberflächliche hydrophobe Bereiche der Proteine, jedoch auf äußerst unterschiedliche Weise.

Unsere Untersuchungen ergaben, dass Hsp70-Chaperone eine kleine Bindetasche für nur vier bis fünf Aminosäuren einer Polypeptidkette besitzen, deren einziges Merkmal die Anreicherung von hydrophoben Aminosäuren und das Fehlen negativ geladener Aminosäuren ist. Sobald ein solch hydrophober Abschnitt (Sequenz) an der Oberfläche eines Proteins exponiert ist, kann Hsp70 an ihn binden, damit das Protein vor Aggregation schützen und weitere Schritte für die Faltung vorbereiten. Dieser Erkennungsmodus einer kurzen hydrophoben Sequenz an der Oberfläche eines Proteins stellt daher eine molekulare Definition der Zelle für Missfaltung dar. Für die Bindung muss Hsp70 ATP (Adenosintriphosphat) zu ADP (Adenosindiphosphat) umwandeln (hydrolisieren), wodurch die offene Bindetasche geschlossen und das Substrat im Innern eingeschlossen wird. Dieser kritische Schritt des Bindezyklus benötigt einen Kofaktor, das "DnaJ-Co-Chaperon". Es koppelt die Substratbindung mit der Hydrolyse von ATP und dirigiert damit Hsp70 zu seinen Substraten. Der Bindezyklus ist abgeschlossen, wenn ein weiteres Co-Chaperon, GrpE, dafür sorgt, dass Hsp70 gebundenes ADP wieder entlässt. Auf diese Weise wird Platz geschaffen für ein neues ATP-Molekül, das die Bindetasche öffnet und das Substrat aus seiner Umklammerung durch das Chaperon befreit.

Hsp60-Chaperone (auch GroEL genannt) bilden komplexe Strukturen aus 14 Untereinheiten, die sich zu einem Ring mit einer zentralen Öffnung, einer Art Kammer, zusammenfinden. Untersuchungen verschiedener Arbeitsgruppen zeigten, dass die Proteinsubstrate im Innern der Kammer binden und dort über mehrere hydrophobe Bindestellen festgehalten werden. Sobald ein Proteinsubstrat gebunden ist, bindet das GroES-Co-Chaperon über dem gebundenen Substrat und verschließt die Kammer wie ein Deckel. Das Substrat wird danach in einer ATP-regulierten Weise von seinen Bindestellen innerhalb der Kammer abgelöst und kann nun in der geschützten Kammer falten – sozusagen in unendlicher Verdünnung fernab jeglicher Aggregationsprobleme. Getrieben durch den ATP-Hydrolyse-Zyklus von GroEL öffnet sich der GroES-Deckel nach etwa 15 Sekunden und entlässt das Proteinsubstrat in die wässrige Lösung der Zelle. Sollte das Proteinsubstrat es in dieser Zeitspanne nicht schaffen, in die native Struktur zu falten, kann dieser Chaperon-Bindezyklus wiederholt werden.

Die Hauptstrategie des zellulären Qualitätsmanagements von bereits existierenden Proteinen ist zu verhindern, dass durch die vorübergehende Bindung der missgefalteten Proteine an Hsp70-Chaperone Proteinaggregationen entstehen – ähnlich wie für neusynthetisierte Proteine beschrieben. Die Interaktion mit Hsp70 erlaubt eine anschließende Rückfaltung in die native Struktur oder ein Weiterreichen des Substrates an Hsp60 (GroEL), das die Rückfaltung ebenfalls bewirken kann. Obgleich dieses Chaperon-Duo sehr effizient arbeitet, ist es insbesondere nach starker Stresseinwirkung überfordert, beispielsweise nach einer massiven Erhöhung der Zelltemperatur auf 45 °C oder der biotechnischen Produktion großer Proteinmengen in Bakterien. In der Konsequenz treten Proteinaggregate auf.

Bis vor wenigen Jahren nahm man an, dass die Aggregation von Proteinen nicht mehr rückgängig zu machen ist. Erst kürzlich konnte gezeigt werden, dass in Hefezellen ein Chaperonsystem existiert, das aus zwei Komponenten besteht und imstande ist, Proteinaggregate wieder aufzulösen. Unsere eigenen Untersuchungen führten zur Identifizierung eines bakteriellen Chaperonsystems, das die gleiche Funktion hat. Es besteht aus dem ClpB-Chaperon, das mit seinen sechs Untereinheiten einen Ring mit einer zentralen Pore bildet, und aus Hsp70 mit seinem DnaJ-Co-Chaperon. Die Zusammenarbeit beider Chaperone ist essentiell für die Auflösung des Proteinaggregats: Die aggregierten Proteine müssen zunächst mit dem Hsp70-Chaperon interagieren, was möglicherweise die Aggregatstruktur lockert.

ClpB selbst ist eine faszinierende molekulare Maschine: Sie benutzt die Energie von ATP, um einzelne Polypeptidketten der aggregierten Proteine zu binden und durch die zentrale Pore zu transportieren. Die Polypeptidketten binden zunächst am Eingang der Pore, und zwar an einem der beiden Enden des ClpB-Rings. Anschließend wird die Polypeptidkette durch die Pore transportiert, wobei das Substrat wahrscheinlich komplett entfaltet wird. Wir verstehen die Mechanik dieses Vorganges noch nicht, nehmen aber an, dass die Hydrolyse von ATP die Kraft erzeugt, die erforderlich ist, um das Substrat durch die Pore zu schieben und damit aus dem Aggregat zu zerren. Ist die Polypeptidkette am Ausgang des ClpB-Rings angekommen, kann der Rückfaltungsprozess mithilfe von Hsp70 beginnen. Dieses Bi-Chaperonsystem ist ungeheuer potent: Nahezu alle Proteine, die nach einem Hitzeschock in der Zelle aggregiert sind, können mit ihm wieder aufgelöst werden. Fehlt dieses System, weil die Gene, die Anweisungen für den Bau dieser Proteine tragen, mutiert sind, stirbt die Zelle nach Hitzebehandlung ab.

Die Gesamtheit der molekularen Chaperone, von denen hier nur einige wichtige erwähnt wurden, stellt ein effizientes Qualitätskontrollsystem für Proteine dar. Dieses System wird darüber hinaus von Zellen benutzt, um Dutzende von Signalwegen zu kontrollieren, einschließlich der Signalwege, welche von Zellen als Reaktion auf Umweltveränderungen und Wachstumsfaktoren induziert werden. Hierzu binden Chaperone an Schlüsselproteine der Signalwege – Kinasen und Transkriptionsfaktoren – und verhindern deren Aggregation. Diese Funktion in der Signaltransduktion macht Chaperone besonders wichtig für die Regulation des Zellgeschehens. Schnell wachsende Tumorzellen haben einen höheren Bedarf an Chaperonen, weshalb sie empfindlicher auf Wirksubstanzen reagieren, die sich gegen Chaperone richten. Es besteht derzeit ein reges Interesse der pharmazeutischen Industrie, Substanzen zu entwickeln, die spezifisch für Chaperone sind und sich in einigen Testfällen als wirksam gegen Tumoren erwiesen haben. Es gibt also eine Fülle von Gründen, die Welt der Chaperone weiter zu erforschen und die Vielfalt ihrer Wirkweisen zu verstehen.

Autor:
Prof. Dr. Bernd Bukau
Universität Heidelberg, Zentrum für Molekulare Biologie
Im Neuenheimer Feld 282, 69120 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 54 67 95
E-mail: bukau@zmbh.uni-heidelberg.de

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