Siegel der Universität Heidelberg
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In silico veritas?

Klimaforscher tun es, Physiker und Ingenieure ebenso – nur die Biologen haben sich bislang noch nicht so recht an Computersimulationen herangetraut. Und das mit gutem Grund, waren doch die komplexen Prozesse der Natur mit theoretischen Modellen am Bildschirm kaum nachzuahmen. Die modernen Methoden der Computersimulation machen es heute jedoch möglich, biologische Prozesse nicht mehr bloß "in vivo" oder "in vitro", sondern auch "in silico" – am Computer – zu erforschen und dadurch zu verstehen, wie lebende Systeme in ihrer Gesamtheit funktionieren. Heiko Wacker sprach mit dem Mathematiker Willi Jäger vom Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen über die Aufgaben und Ziele von "BIOMS", dem jüngst in Heidelberg gegründeten ersten deutschen Zentrum für "Modellierung und Simulation in den Biowissenschaften".

Für Klimaforscher, Kernphysiker oder Automobilingenieure gehört die "Forschung in silico" – die Simulation natürlicher Vorgänge im Computer – schon lange zum wissenschaftlichen Alltag. Denn mit theoretischen Modellen lassen sich die verschiedensten Prozesse unter immer neuen Rahmenbedingungen am Bildschirm simulieren, von den Wetterphänomenen bis hin zum Crashverhalten eines Fahrzeugs. Für Biologen hingegen ist diese Arbeitsweise noch recht neu. "Hier kann man zu Recht von einem großen Nachholbedarf reden", erklärt Professor Willi Jäger vom Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Universität Heidelberg. "Gleichwohl kann man davon ausgehen, dass Heidelberg in den nächsten Jahren nicht nur den Rückstand aufholen, sondern ganz im Gegenteil eine führende Position auf diesem Forschungsgebiet einnehmen wird." Was sich nach Science-Fiction anhört, hat einen ernsthaften Hintergrund: Anfang 2004 wurde in der Neckarstadt "BIOMS" gegründet, das erste deutsche "Center for Modelling and Simulation in the Biosciences", ein "Zentrum für Modellierung und Simulation in den Biowissenschaften".

Eine durchaus logische Entscheidung übrigens, ist doch Heidelberg schon lange ein international herausragender Standort, für die Biowissenschaften ebenso wie für das wissenschaftliche Rechnen. So lag es nahe, die beiden Felder zu verknüpfen, um die Möglichkeiten der Computersimulationen einzusetzen, um biologische Systeme zu erforschen. "Dank dieser Methoden müssen komplexe biologische Prozesse nicht mehr ‚in vivo' – also am lebenden Organismus – oder ‚in vitro' – im Reagenzglas – , sondern auch ‚in silico' – am Computer – erforscht werden", fasst Willi Jäger die Grundidee von BIOMS zusammen. "Bislang war nämlich die Biologie im Gegensatz zur Chemie oder Physik vor allem eine stark beobachtende, qualitativ beschreibende Wissenschaft. So liegen viele experimentelle Daten vor, beispielsweise zu Vorgängen innerhalb einer Zelle, die nur darauf warten, in einer theoretischen Behandlung bearbeitet zu werden", erklärt der im Institut für Angewandte Mathematik und im IWR tätige Ordinarius. "Wir wollen also biologische Sachverhalte – bleiben wir ruhig beim Exempel einer Zelle – modellieren und am Computer simulieren. Auf diese Weise können wir in Computerexperimenten die Prozesse bei unterschiedlichen Bedingungen studieren. Später dann kann man anhand tatsächlicher Experimente zwischen Simulation und Wirklichkeit vergleichen, um die Ergebnisse zu verifizieren."

Das ist ein wichtiger Fortschritt angesichts der Flut biologischer Daten, die mit Hilfe moderner Techniken der Biophysik, der Biochemie und natürlich der Informationsverarbeitung in den letzten Jahrzehnten angehäuft wurden. Insbesondere die Molekularbiologie hat mit ihrer Forschung Informationen über die molekularen biologischen Bausteine und Strukturen geliefert, und riesige Datenbanken mit ihnen gefüllt, die helfen sollen, Funktionen und Prozesse möglichst auch quantitativ zu begreifen. Um jedoch zu verstehen, wie lebende Systeme funktionieren, braucht es mathematische Modelle, die diese beschreiben. Dabei ist es wichtig, biologische Systeme, beispielsweise eine Zelle, als Gesamtsystem zu sehen. Es genügt nicht, lediglich die vielen Einzelprozesse in einer lebenden Zelle aufzuklären. Entscheidend für das Verhalten des Gesamtsystems ist die Wechselwirkung zwischen diesen Prozessen. Die Analyse und Simulation eines Modells helfen hier grundlegend, das gesamte System zu verstehen. Als Beispiel für die unterschiedlichen Probleme, die mit der neuen Technik gelöst werden sollen, nennt Professor Jäger die Frage, wie Blutstammzellen den für sie vorgesehenen Platz im Knochenmark finden – und wie sich aus ihnen differenzierte Zellen entwickeln.

An BIOMS beteiligt sind die Universität Heidelberg – mit dem Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) und dem Zentrum für Molekulare Biologie (ZMBH) –, das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), das EMBL, das Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung sowie das Forschungsinstitut EML-Research der Klaus-Tschira-Stiftung. Die Finanzierung sichern die Klaus-Tschira-Stiftung sowie das Land Baden-Württemberg. Beide Partner steuern jeweils 2,5 Millionen Euro bei. Weitere 2,5 Millionen Euro werden von der Universität und den beteiligten Forschungsinstituten erbracht. "Damit ist die Finanzierung auf fünf Jahre gesichert", freut sich Willi Jäger, der BIOMS von der ersten Minute an begleitet hat.

"Derzeit werden mit den Geldern drei Nachwuchsgruppen finanziert, die am EMBL, am DKFZ sowie am IWR tätig sind", erklärt Willi Jäger, der BIOMS gleichwohl nicht als reines "Nachwuchsprojekt" im herkömmlichen Sinn verstanden wissen möchte. "BIOMS ist ein echtes Forschungsprojekt. Zwar haben wir vor allem jüngere Wissenschaftler für die einzelnen Gruppen ausgewählt, doch liegt dies einzig im Charakter des Forschungsvorhabens begründet. Wir entschieden uns recht früh gegen die direkte Unterstützung etablierter Forschungsgruppen – und für den Neuaufbau mit jungen, hoch qualifizierten Leuten, die sich harten Auswahlkriterien unterwerfen müssen. Immerhin verfügen die Nachwuchsgruppen über einen Etat von rund 250 000 Euro im Jahr, was ungefähr auf dem Niveau des renommierten BioFuture-Preises des Bundesministeriums für Bildung und Forschung liegt. "Eine solche Summe setzt ein entsprechendes wissenschaftliches Niveau zwangsläufig voraus", versichert Willi Jäger, der sich schon darauf freut, wenn die Nachwuchsgruppen und weitere geförderte Postdoktoranden – insgesamt handelt es sich um rund 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – im kommenden Jahr in ein neues Gebäude einziehen können.

Gemeint ist das gerade im Bau befindliche "Bioquant-Gebäude" im Neuenheimer Feld, das auf einer Nutzfläche von rund 5 000 Quadratmetern Wissenschaftler unter einem Dach vereinen soll, die auf dem Gebiet der quantitativen Analyse molekularer und zellulärer Biosysteme arbeiten. "Als wir uns im Frühjahr 2005 trafen, um über die ‚Kunst am Bau' zu entscheiden, war das Gebäude bereits auf vier Stockwerke angewachsen", berichtet Willi Jäger vom guten Fortgang der Arbeiten am später einmal sieben Etagen hohen Institut. Dessen Architektur folgt übrigens ganz der Funktion, sollen doch im neuen Gebäude sowohl Experimente wie auch die Forschung an der Modellierung und Simulation Platz finden. Zudem kommen das gute Raumangebot sowie die Atmosphäre fächerübergreifenden Gesprächen zugute. Das Kellergeschoss ist voll und ganz dem "Blick in die Zelle" gewidmet. "Hier werden insbesondere Hochleistungsmikroskope untergebracht, mit denen Prozesse und Strukturen in lebenden Zellen untersucht werden können. Das ist wichtig, weil wir ja vor allem die Natur verstehen und nicht eine wirklichkeitsfremde Illusion im Computer erzeugen wollen. Permanente Vergleiche mit der Realität sind deshalb unabdingbar. Uns geht es nicht um simulierte Spielereien mit virtuellen Zellen, sondern um das tatsächliche Verstehen biologischer Prozesse", betont Willi Jäger.

Das Bioquant-Gebäude wird nicht nur die rein biowissenschaftlichen Bereiche beherbergen, sondern durch seine besondere Struktur eine regelrechte Symbiose der Disziplinen ermöglichen. "Die Planung sieht vor, auf jedem Stockwerk einen theoretisch-mathematischen und einen experimentellen Teil zu vereinen. Zudem sind jeweils zwei Stockwerke zu einer Einheit zusammengefasst, was die Kommunikation zwischen den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fördern soll", erklärt der vom Geist der Interdisziplinarität schwärmende "Bauherr" das Prinzip. "So wird es bei den dort durchgeführten Projekten stets zu einer Koppelung – eben zu einer Interaktion – kommen. Denn von den im Experiment gewonnenen Erkenntnissen profitieren umgehend auch Simulation und Modellierung. Und umgekehrt ergeben sich hieraus wieder neue Ansätze für weitere Experimente. So entsteht ein Kreislauf wechselseitiger Denkanstöße, was letzten Endes für eine bessere Forschung sorgt", ist sich Willi Jäger sicher. Voraussetzung hierfür ist eine entsprechende Auswahl der Projekte und Experimente, für die bislang rund 70 Vorschläge vorliegen. Als Beispiel sei die Untersuchung so genannter Biomolekularer Maschinen genannt, die eine zentrale Rolle in den Prozessen einer Zelle spielen. Ihren Namen tragen sie, weil sie wie Maschinen in einer Fabrik funktionieren. Die funktionale Beschreibung sowie die spezielle Dynamik dieser Maschinen wird die Wissenschaftler im Bioquant-Gebäude in absehbarer Zeit als eines der zentralen Themen beschäftigen.

Das Gebäude wird darüber hinaus auch fest in das "Bioquant-Netzwerk" eingebunden sein, das bereits mit seiner Arbeit begonnen hat – und maßgeblich für den Erfolg von Bioquant verantwortlich sein wird. "Das erste Symposium des Netzwerks fand bereits statt. Es sollte vor allem die Interaktion zwischen den Wissenschaften innerhalb Heidelbergs voranbringen, was sehr gut geklappt hat", fasst Willi Jäger die ersten Erfolge des Netzwerks zusammen. "Auf diesen Erfolgen wollen wir aufbauen, indem wir beispielsweise einige der bislang vorliegenden Projekt- und Experimentvorschläge außerhalb des eigentlichen Bioquant-Gebäudes, aber innerhalb des Netzwerks realisieren. Dadurch sind wir nicht auf die Ressourcen eines einzigen Instituts beschränkt, sondern können sehr flexibel auf die Bedürfnisse eines bestimmten Vorhabens eingehen. Das wird einer der zentralen Vorteile des Standorts Heidelberg sein", resümiert Professor Jäger. "Allerdings", schränkt er ein, "wollen wir trotz der großen Flexibilität verhindern, dass die Forschungsideen divergieren." Stattdessen soll das Bioquant-Netzwerk eine Plattform für eine überschaubare Anzahl ausgewogener, fokussierter Projekte sein, die sich allesamt innerhalb eines fest umrissenen Rahmens bewegen.

Dass solche Pläne – und die bisherigen Erfolge – auch international große Beachtung finden, versteht sich von selbst. "Ich glaube, dass wir mit unserer Initiative an der Spitze einer immer stärker spürbaren Bewegung stehen werden, die die biologischen Prozesse von ihrer Systemseite her verstehen will. Es geht ja letzten Endes darum, die Biologie mit Hilfe von quantitativen Methoden anderer Forschungsdisziplinen wie der Mathematik und des wissenschaftlichen Rechnens voranzubringen." Dass hierbei das Interdisziplinäre Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen schon jetzt eine Spitzenstellung einnimmt, ist ein großer Vorteil für BIOMS, das integrierter Teil von Bioquant ist, und durch experimentelle Partner ergänzt wird. "Das IWR ist ein weltweiter Vorreiter der Methoden und der Technologien, wie sie in der Simulation und Modellierung biologischer Vorgänge benötigt werden. Das wird BIOMS zum Vorteil gereichen, und auch wir können von den Erkenntnissen anderer Forschungsrichtungen profitieren. Natürlich erhoffe ich mir dadurch neue Impulse und Ideen für das IWR", erklärt Willi Jäger, der die Zielsetzung von BIOMS und Bioquant prägnant formuliert: "Wir wollen an die Spitze der internationalen Forschung. Und das schon sehr bald. Zwar existieren wir erst seit gut einem Jahr. Doch wir haben schon jetzt weltweit gehörig für Aufsehen gesorgt."

"Aus unserer Sicht darf das gerne so weitergehen", meint Willi Jäger. Das glaubt man dem engagierten Mathematiker gerne – immerhin spricht das bisher Geleistete schon jetzt für sich. Die wirklich großen Schritte stehen noch bevor. Sie sind zu erwarten, sobald die Forschungsarbeiten im neuen Gebäude begonnen haben. Die Vorzeichen für BIOMS und Bioquant sind mehr als günstig – und das ist keine simulierte Vorhersage, sondern eine realistische Einschätzung.

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