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Ein Blick in das Dunkle Universum

Nicht mehr als die Schaumkrone auf den Wellen eines tiefen Ozeans – das ist die Materie, aus der wir Menschen und unsere Welt bestehen, vom Universum aus betrachtet. Nahezu der gesamte Kosmos wird nicht von Protonen, Neutronen und Elektronen, den Bestandteilen "unserer Welt", gebildet, sondern von etwas gänzlich anderem, das sich mysteriös "Dunkle Materie" nennt. Matthias Bartelmann vom Zentrum für Astronomie vermittelt verständlich und spannend, was Dunkle Materie ist und welche raffinierten Methoden die Wissenschaftler anwenden müssen, um sie allmählich zu durchschauen.

Die Art von Materie, aus der wir selbst bestehen und die Welt, wie sie uns unmittelbar umgibt, setzt sich im Wesentlichen aus Protonen, Neutronen und Elektronen zusammen. Wir nennen sie "baryonisch". Im Universum bildet sie aber nicht mehr als die Schaumkronen auf den Wellen eines tiefen Ozeans. Wir wissen heute, dass fast das gesamte Material, aus dem die vielfältigen kosmischen Strukturen bestehen, aus irgend etwas anderem zusammengesetzt ist, was wir Dunkle Materie nennen.

Woher wissen wir das? Vor allem zwei Arten kosmologischer Beobachtungen haben in den letzten Jahren einen wahren Durchbruch unserer Kenntnis vom Universum mit sich gebracht. Die eine Art bildet den gesamten Himmel im Bereich der Mikrowellen ab, also bei Wellenlängen, die Bruchteile von Millimetern bis etwa einen Zentimeter betragen. In diesem Wellenlängenbereich ist es möglich, das Nachleuchten des Urknalls zu sehen, wie es das frühe Universum etwa 400 000 Jahre nach dem Urknall zeigt. Dieses Leuchten ist bemerkenswert intensiv: In jedem Kubikzentimeter Volumen befinden sich etwa 400 Photonen davon.

Das Bemerkenswerte ist, dass diesem Nachleuchten die ersten Spuren der entstehenden Strukturen aufgeprägt wurden, die sich im späteren Verlauf der Entwicklung des Universums herausbildeten. Winzig sind diese Spuren: Sie erreichen nur etwa ein Millionstel der Intensität des gesamten Mikrowellensignals. Dennoch gelang es vor kurzem dem amerikanischen Satelliten "Wilkinson-MAP", diese winzigen Keimzellen der heutigen Strukturen präzise zu messen.

Die zweite Art von Beobachtung, die der Kosmologie zum Durchbruch verholfen hat, ist ein Satz riesiger Weitwinkelaufnahmen unserer kosmischen Nachbarschaft, die mit fünf verschiedenen Farbfiltern aufgenommen wurden und noch werden. Diese Weitwinkelaufnahmen werden, wenn das Experiment abgeschlossen sein wird, knapp ein Viertel des gesamten Himmels abbilden. Der Reichtum dieser Daten ist unermesslich.

Mit den bisher aufgenommenen Daten dieser großen, digitalen Himmelsdurchmusterung, des "Sloan Digital Sky Survey", war es möglich, Strukturen in der Verteilung der Galaxien bis hin zu beträchtlichen Entfernungen von uns zu vermessen. Wir haben also nun ein Bild des Universums aus seiner frühen Jugend und eines aus einem weit entwickelten Stadium. Es war die Kombination von beiden, die es zum ersten Mal in der Geschichte der modernen Kosmologie erlaubte, die wesentlichen Eigenschaften des Universums im Großen zu bestimmen.

Uns beschäftigen hier vor allem drei dieser Eigenschaften: Erstens ist das Universum räumlich flach. Das ist nicht selbstverständlich, weil es ebenso gut wie eine Kugel- oder eine Sattelfläche gekrümmt sein könnte. Damit es flach wird, muss die gesamte Energiedichte im Universum gerade einen bestimmten kritischen Wert annehmen. Wir wissen daraus also, wie groß die gesamte Energiedichte im Universum ist. Zweitens trägt die Materie, aus der die kosmischen Strukturen bestehen, nur etwa 30 Prozent dieser Energiedichte bei. Selbst diese Materie ist uns im Wesentlichen fremd, weil, wie oben gesagt, nur ein kleiner Teil von ihr von der uns vertrauten baryonischen Form ist. Drittens sind die übrigen 70 Prozent der nötigen Energiedichte völlig rätselhaft, weil sie nicht nur von unbekannter Form sind, sondern auch noch für das paradox anmutende Ausdehnungsverhalten des Universums verantwortlich ist. Das Universum dehnt sich aus, aber seine Ausdehnungsgeschwindigkeit nimmt nicht ab, sondern zu. Von der Schwerkraft, wie sie uns intuitiv vertraut ist, würden wir erwarten, dass sie die Ausdehnung des Universums bremst. Offenbar wirkt sie entgegengesetzt und beschleunigt sie. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, der wir ansonsten viel zutrauen, erlaubt das nur, wenn diese Form der Energie einen negativen Druck hat.

Ohne näher darauf einzugehen, worum es sich bei dieser Dunklen Energie und der Dunklen Materie handeln könnte, stellen uns beide vor die Frage, welche Beobachtungen wir anstellen könnten, um mehr über ihre Natur zu lernen. In dieser Beziehung kommt uns ein Effekt zu Hilfe, der direkt aus den innersten Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie folgt.

Diesem Effekt zufolge lenken Massen Licht ab, und zwar so, dass Lichtwege zu den Massen hin gekrümmt werden, als würden sie gläserne Sammellinsen durchlaufen. Man spricht vom Gravitationslinseneffekt. Er ist differentiell, das heißt, zwei Lichtstrahlen, die sich in nur wenig verschiedene Richtungen ausbreiten, werden im Allgemeinen etwas verschieden abgelenkt, wodurch Quellen verzerrt werden, die wir durch solche Gravitationslinsen sehen. Ein Optiker würde Gravitationslinsen als astigmatisch bezeichnen. Sie sind als abbildende optische Systeme recht ungeeignet, auch wegen ihrer enorm langen Brennweiten.

Genau auf diesen Astigmatismus legen wir aber großen Wert, denn durch ihn verraten sich die Gravitationslinsen, die ansonsten weitestgehend dunkel sind, weil sie zum überwiegenden Teil aus Dunkler Materie bestehen. Im fernen Universum stehen junge Galaxien so dicht, dass man etwa 40 von ihnen in einer Quadratbogenminute findet. Auf der Fläche des Vollmondes stehen etwa 20 000 von ihnen. Diese fernen, zahllosen Galaxien bilden eine Art kosmische Tapete, einen winzig klein gemusterten Hintergrund. Zwischen diesem Hintergrund und uns liegen die vielfältigen kosmischen Strukturen, die ihren astigmatischen Gravitationslinseneffekt auf die kosmische Tapete zeichnen. Wir sehen demzufolge ein verzerrtes Bild der Tapete und können aus der Art und dem Ausmaß der Verzerrung schließen, wie die Dunkle Materie verteilt ist, obwohl sie ansonsten fast völlig unsichtbar ist.

Man kann sich das etwa so vorstellen, als würde man durch eine strukturierte Glasscheibe in ein abendliches Wohnzimmer blicken. Die Lichter darin bilden ein vielfältiges Fleckenmuster auf der Scheibe, anhand dessen man rekonstruieren kann, wie sich die Dicke der Glasscheibe ändert.

Der Gravitationslinseneffekt großer kosmischer Strukturen ist sehr schwach. Er verändert die Bilder der weit entfernten Galaxien nur um wenige Prozent. Da es aber so unglaublich viele von ihnen gibt, können wir dennoch auch diesen schwachen Effekt verlässlich messen. Der erste Durchbruch gelang im Jahr 2000, als zunächst vier Gruppen in kurzem Abstand voneinander berichteten, es sei ihnen die Messung des schwachen Gravitationslinseneffekts kosmischer Strukturen gelungen. Die Messungen waren mit verschiedenen Teleskopen und verschiedenen Kameras unter verschiedenen Bedingungen aufgenommen und mit verschiedenen Methoden ausgewertet worden, ergaben aber ein einheitliches Bild. Ohne Frage waren die ersten Messungen des Linseneffekts ganz großer Strukturen aus Dunkler Materie gelungen. Seitdem werden solche Beobachtungen beinahe schon routiniert vorgenommen. Dieses Gebiet entwickelt sich mit beeindruckender Geschwindigkeit.

Die starke Variante des Gravitationslinseneffekts führt zu selteneren, aber wesentlich spektakuläreren Beobachtungen. In etwa jedem vierten Galaxienhaufen findet man stark verzerrte, bogenförmige Gebilde, so genannte Arcs, bei denen es sich um Bilder weit entfernter Galaxien handelt, die durch die Lichtablenkung im Schwerefeld der Galaxienhaufen derart extrem auseinander gezogen werden. Es gibt zwei Arten solcher Arcs; solche, die tangential zum Galaxienhaufen liegen, und andere, die radial von seinem Mittelpunkt weg zeigen. Während tangentiale Bögen erlauben, die Gesamtmasse eines Galaxienhaufens zu bestimmen, ermöglichen es die wesentlich näher am Haufenzentrum stehenden radialen Bögen zu messen, wie steil die Dichte der Dunklen Materie vom Zentrum der Galaxienhaufen weg nach außen abfällt. Es wird dergestalt möglich, mithilfe des Gravitationslinseneffekts nicht nur Strukturen aus Dunkler Materie aufzuspüren, sondern auch, die Eigenschaften der Massenverteilung in ihnen zu vermessen.

Soweit das Prinzip. Die Wirklichkeit ist erheblich komplizierter und erfordert wesentlich subtilere Untersuchungen. Warum aber konzentriert man sich dabei auf Galaxienhaufen? Bei ihnen handelt es sich um die größten Gebilde im Universum, die noch durch ihre Schwerkraft zusammengehalten werden. Ihren Namen haben sie von den typischerweise etwa einigen hundert bis tausend Galaxien, die in ihnen versammelt sind. Darüber hinaus enthalten sie ein Plasma, das so heiß ist, dass es im Röntgenbereich leuchtet, aber sie sind im Wesentlichen Ansammlungen Dunkler Materie, denn auch in ihnen ist der Anteil des "normalen", uns vertrauten baryonischen Materials sehr gering.

Als die größten durch ihre Schwerkraft gebundenen kosmischen Strukturen entstehen Galaxienhaufen in der Entwicklung des Universums zuletzt. Sie sind also junge Gebilde, wesentlich jünger als die Galaxien, aus denen sie bestehen. Deswegen sind sie immer noch in teils heftiger Entwicklung begriffen. Ihre Materie ist üblicherweise nicht irgendwie kugelsymmetrisch verteilt, sondern sie sind vielfach strukturiert und unregelmäßig, eben weil sie nach wie vor stürmischen Veränderungen unterworfen sind.

Dies stellt sich als für den starken Gravitationslinseneffekt entscheidend heraus. Bei gleicher Masse, aber unregelmäßiger Form, kann eine Gravitationslinse erheblich stärkere Verzerrungen hervorrufen. Einerseits wird es dadurch wesentlich komplizierter zu bestimmen, wie die Dunkle Materie in Galaxienhaufen verteilt ist, aber andererseits eröffnet sich dadurch eine Möglichkeit, den Entwicklungszustand der Galaxienhaufen mit zu untersuchen. Wie wir sehen werden, entsteht auf diese Weise eine direkte Brücke zur Dunklen Energie.

Worauf gründet sich unser Interesse daran, wie genau die Dunkle Materie in Galaxienhaufen verteilt ist? Theoretische Untersuchungen mithilfe großer Computer sagen vorher, dass die Dichte der Dunklen Materie in Galaxienhaufen auf ganz bestimmte Weise nach außen abfallen sollte: innen flach, außen steil. Wenn es gelänge, diese Vorhersage zu prüfen und entweder zu verwerfen oder zu bestätigen, wären wir der Aufklärung der Natur der Dunklen Materie ein großes Stück näher gekommen. Diesem Ziel ist ein erheblicher Teil des Forschungsprogramms am Institut für Theoretische Astrophysik gewidmet.

Von hier aus spannt sich der Bogen zur Dunklen Energie. Ihr aller Erfahrung Hohn sprechender negativer Druck führt dazu, dass sie das Strukturwachstum im Universum wesentlich beeinflusst. Wir wissen, wie ausgeprägt die Strukturen in unserer kosmischen Nachbarschaft sind. Die Dunkle Energie treibt das Universum, je älter es ist, umso schneller auseinander. Gegen diese beschleunigte Ausdehnung muss die Strukturbildung ankämpfen. Die Dunkle Materie, die schließlich etwa in Galaxien oder Galaxienhaufen landet, wird von den entstehenden Strukturen angezogen, aber durch die allgemeine Ausdehnung des Universums davon weggerissen. Je mehr die Dunkle Energie in den späten Entwicklungsphasen des Universums die Ausdehnung bestimmt, umso früher musste die Strukturbildung einsetzen, um zu solchen Strukturen zu gelangen, wie wir sie heute sehen. Je nachdem, wie sich die Dunkle Energie im Lauf der kosmischen Entwicklung verhalten hat, müssen Strukturen also früher oder später entstanden sein.

Wenn wir in mittlere oder große Entfernungen hinaus beobachten, sehen wir gleichzeitig in die Vergangenheit zurück, weil das Licht wegen seiner endlichen Geschwindigkeit umso länger braucht, uns zu erreichen, je weiter entfernt von uns es auf die Reise ging. Ein Blick in das weit entfernte Universum ist dergestalt auch ein Blick in die Vergangenheit. Wenn wir feststellen können, wie stark entwickelt etwa die kosmischen Strukturen zu dieser Zeit schon waren, können wir darauf schließen, wie sich das Ausdehnungsverhalten des Universums im Lauf der kosmischen Geschichte entwickelt hat. Dadurch werden dann wieder Rückschlüsse auf die Dunkle Energie möglich, ohne dass man sie in irgendeiner Weise direkt hätte wahrnehmen müssen.

Galaxienhaufen durchliefen mutmaßlich gerade zu der Zeit ihre heftigste Entwicklung, als die Dunkle Energie bei der kosmischen Ausdehnung die Regie übernahm. Gerade das macht sie für uns zu derart bevorzugten Objekten: Einerseits haben wir mit dem starken Gravitationslinseneffekt eine Möglichkeit in der Hand, den Entwicklungszustand der Galaxienhaufen sowie die Verteilung der Dunklen Materie in ihnen zu diagnostizieren. Andererseits verschiebt sich die Phase heftigster Entwicklung der Galaxienhaufen je nach der Art der Dunklen Energie zu früheren oder späteren kosmischen Epochen hin. Darauf gründet sich unsere Erwartung, dass es mithilfe des starken Gravitationslinseneffekts gelingen könnte, sowohl die Dunkle Materie als auch die Dunkle Energie näher zu ergründen. Dabei wird auch der schwache Gravitationslinseneffekt eine wesentliche Rolle spielen, denn auch er erlaubt es nachzumessen, in welcher Weise kosmische Strukturen in der jüngeren kosmischen Vergangenheit angewachsen sind.

Wir sind noch nicht so weit. Sehr detaillierte Untersuchungen, von denen die meisten große Computersimulationen brauchen, sind notwendig, um diese Ideen zunächst zu prüfen und sie dann in die Tat und schließlich in Erkenntnis umzusetzen. Es gibt aber eine Reihe erstaunlicher Beobachtungen, die uns beflügeln. So etwa gibt es offenbar schon in so großer Entfernung von uns Galaxienhaufen, die als starke Gravitationslinsen wirken, dass ihre Existenz und ihre Befähigung zum starken Linseneffekt darauf hindeuten, dass die wesentliche Entwicklung der Galaxienhaufenpopulation zu vergleichsweise sehr früher kosmischer Zeit stattfand, was wieder in deutlicher Weise auf die Dunkle Energie verweist. Wir werden sehen, was die nächsten Jahre bringen.

Kosmologische Simulationsrechnungen und die Analyse von Beobachtungsdaten werden Hand in Hand gehen müssen. Die Nähe zu den beobachtenden Astronomen auf dem Königstuhl einerseits und das Interesse der theoretischen Physik andererseits werden uns dabei eine große Hilfe sein.

Jenseits des Gravitationslinseneffekts suchen wir nach weiteren sichtbaren Auswirkungen heftiger Entwicklung in Galaxienhaufen. Dazu gehört, dass Galaxienhaufen von großräumigen Magnetfeldern durchsetzt sind, in denen extrem energiereiche Elektronen Radiostrahlung abgeben. Wenn ein Galaxienhaufen eine heftige Veränderung erfährt, werden sowohl diese Magnetfelder verstärkt und verformt als auch entsprechend energiereiche Elektronen erzeugt. Wir erwarten daher, dass sich mit der Radioemission der Galaxienhaufen ein weiteres diagnostisches Werkzeug zur Analyse ihres Entwicklungszustands anbieten wird. Auch die Röntgenstrahlung, die das heiße Gas in Galaxienhaufen abgibt, wird während bestimmter Entwicklungsphasen der Galaxienhaufen intensiver. Wenn wir den starken und den schwachen Gravitationslinseneffekt mit diesen anderen Beobachtungen bestmöglich kombinieren, sollten wir der Dunklen Materie und der Dunklen Energie allmählich auf die Spur kommen.

Autor:
Prof. Dr. Matthias Bartelmann
Zentrum für Astronomie, Institut für Theoretische Astrophysik
Albert-Überle-Straße 2, 69120 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 54 48 17
e-mail: mbartelmann@ita.uni-heidelberg.de

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