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Bestrafen und erinnern – oder amnestieren und schweigen?

Das Bild des Holocaust-Täters in der deutschen Rechtsprechung nach 1945 ist das Thema eines neuen, von der Volkswagenstiftung geförderten Forschungsprojektes am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Edgar Wolfrum erläutert eindrücklich, wie sich das Täterbild seit dem Untergang des "Dritten Reiches" wandelte, von welchen Determinanten es beeinflusst wurde – und er schildert, warum die Forschung heute so manche Rechtsprechung schlichtweg als Skandalon auffasst.

Titel-Illustration
Grafik : Jan Neuffer

Wie werden Diktaturen überwunden und Zivilgesellschaften aufgerichtet? Was geschieht mit den Tätern der Diktatur, kommt es zu einer Wiedergutmachung an den Opfern? Bestrafung und Erinnerung – oder Amnestie und Beschweigen? In der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre dachten viele so, wie es Elie Wiesel, der Friedensnobelpreisträger, einmal in einer gespenstischen Szene vorhergesehen hat: Er beschrieb, wie in einer osteuropäischen Stadt die Bevölkerung, Frauen, Männer, Kinder, zu ihrer Ermordung in den Wald getrieben wurde. Schließlich, so Wiesel, war da ein letzter junger Mann, ein Talmud-Schüler, der noch lebte. Die Mörder schossen auf ihn, aber er fiel nicht. Da näherte sich ihm ein NS-Offizier und fragte ihn: "Warum stirbst Du nicht?" Und er antwortete: "Ich kann nicht sterben, ich bin der letzte; ich bin der letzte Überlebende." Der Offizier erwiderte in einem Anfall von Zorn und Grausamkeit: "Du Idiot. Die Leute wollen die Wahrheit gar nicht wissen; sie werden Dir nicht glauben."

Bis heute ist die strafrechtliche Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht abgeschlossen, Zeitgeschichte ragt somit in ihrer Relevanz bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Gegen mehr als 100 000 Personen sind bisher in Deutschland Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, dabei sind die großen Prozesse wie der Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 oder der Majdanek-Prozess – der zeitlich längste Prozess in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, der bis 1982 dauerte – nur die Spitze eines Eisberges. Allerdings sind lediglich 6 495 Personen rechtskräftig verurteilt worden – eine Prozentzahl von 6,4. Besonders auffällig ist die Relation zwischen Täterschaft und Beihilfe; vorwiegend als Gehilfen wurden Angeklagte verurteilt. Man könnte überspitzt formulieren: Ein Täter, nämlich Hitler, und 60 Millionen Gehilfen. Wie ist die Strafverfolgungsbilanz zu werten? War sie ein Erfolg, wie man in den 60er Jahren glaubte? Oder war sie, wie Bundesjustizminister Edzard Schmidt-Jorzig (FDP) 1996 meinte, "kein Ruhmesblatt für die bundesdeutsche Justiz"? Wo sind die Gründe für die offensichtlichen Defizite zu suchen? Fehlte der Wille und die Bereitschaft in der Bundesrepublik, Naziverbrechen gründlich zu verfolgen?

Jedenfalls: Die nach dem Untergang des "Dritten Reiches" gezeigte Bereitschaft zur schonungslosen Aufdeckung, Verfolgung und Bestrafung der NS-Verbrechen flaute zu Beginn der 50er Jahre ab und so entstand der Eindruck, dass sich die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden am Rande einer "Justizverweigerung" bewegten. Das änderte sich mit der Einrichtung der "Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" in Ludwigsburg im Jahre 1958. Auch müssen die Rahmenbedingungen beachtet werden: der Kalte Krieg, der Korea-Krieg, die Wiederbewaffnung.

Die Strafverfolgung der NS-Verbrechen vollzog sich in einem tendenziell auf Verdrängung und Schuldabwehr ausgerichteten gesellschaftlichen Klima, in dem oft die Solidarität mit den Tätern stärker ausgeprägt war als die mit den Opfern. Das änderte sich in den folgenden Jahrzehnten entscheidend.

In vermutlich keinem anderen Bereich ist das allgemeine zeitgeschichtliche Bewusstsein mehr durch die Rechtsprechung mitgeprägt worden als im Bereich des Bildes der NS-Täter. Rechtsprechung zu NS-Verbrechen fand nie in einem unpolitischen Raum statt und spielte sich nie nach abstrakten Regeln ab. Vielmehr gehen wir in unserem Forschungsprojekt davon aus, dass die Rechtsprechung sowohl Ausdruck gesellschaftlicher Meinungen und gesellschaftlichen Wandels ist als auch vorherrschende öffentliche Geschichtsbilder mitzuprägen vermag.

Unser Forschungsprojekt ist somit an der Schnittstelle von Justiz und Gesellschaft angesiedelt und tangiert gleichermaßen Problemstellungen der Rechts- wie der Geschichtswissenschaft. Dass die Zeitgeschichte sich bisher dem Forschungsgegenstand der strafrechtlichen Aufarbeitung der NS-Verbrechen weitgehend verschlossen hat, liegt vor allem an den Problemen, sich in juristische Sichtweisen hineinzuversetzen und die Rechtsfiguren – im deutschen Strafrecht beispielsweise die Unterscheidung der Beteiligungsformen "Täterschaft" beziehungsweise "Mittäterschaft" und die beiden Teilnahmeformen der "Anstiftung" und der "Beihilfe" – nachzuvollziehen.

Atomisierung des Geschehens

Allgemein gesagt lauern in Gerichtsverfahren große Probleme: Der Modus der Gerichtsverhandlung begünstigt eine Personalisierung des Nationalsozialismus; Fritz Bauer, der bedeutende hessische Generalstaatsanwalt, der den Auschwitz-Prozess in Gang brachte, sprach von der "Atomisierung und Parzellierung" des kollektiven Geschehens, das damit "entschärft" und "privatisiert" worden sei.

Untersucht werden die allgemeinen juristischen Prinzipien der Konstruktion des Bildes der Holocaust-Täter in der Tradition der deutschen Rechtsprechung sowohl im Unterschied zur früheren alliierten, stark durch die angelsächsische Rechtstradition geprägten Rechtsprechung der unmittelbaren Nachkriegszeit als auch zur späteren außerdeutschen Rechtsprechung – besonders: Israel, Kanada und die USA. Neben einer inhaltsanalytischen Aufarbeitung von Gerichtsurteilen auf den unterschiedlichen Ebenen der Rechtsprechung – die meisten Akten lagern in der "Zentralen Stelle" in Ludwigsburg – geht es um die Analyse der vorbewussten außernormativen Einstellungen und spezifischen Menschenbilder. Angesichts der dominanten Rekrutierung der Nachkriegsjuristen aus dem Richterkorps des "Dritten Reiches" dürfte dies eine wesentliche Rolle gespielt haben.

Aufgabe eines Strafrichters in einem demokratischen Rechtsstaat ist es, die empirischen Sachverhalte zu prüfen, die normativen, vom Gesetzgeber formulierten Tatbestände zu interpretieren und auf diese Weise die Schuld der Angeklagten zu beurteilen. Diesen steht allen gleichermaßen das Recht zu, dass das Gericht ihren Fall individuell behandelt, ihr subjektives Wissen und Wollen um die Verwirklichung der Tat abwägt. Stereotypisierungen widersprechen einem rechtsstaatlichen Verfahren. Man wird sie daher in Urteilstexten auch nicht ausformuliert finden. Gleichzeitig aber leben Richter nicht außerhalb der Gesellschaft, in der Annahmen über Verbrechen und Verbrecher in Umlauf sind, von sehr vielen Menschen geteilt werden und so ihre Wirkungsmacht entfalten. Das betrifft etwa Annahmen über den sozialen Status der Täter – ist er hoch oder niedrig? Auch Annahmen über generationsspezifische oder geschlechterspezifische Typisierungen ragen in Täterbilder hinein.

Der in § 211 Strafgesetzbuch definierte Tatbestand des "Mordes" gliedert sich nach den Teilnahmeformen der "Täterschaft" und der "Beihilfe". Bei der strafrechtlichen Würdigung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mussten die Gerichte abwägen, welche der beiden Figuren bei einer Verurteilung anzuwenden sei. Die Abgrenzung konnte durch Anwenden der objektiven und subjektiven Teilnahmelehre vorgenommen werden. Obwohl die subjektive Teilnahmelehre umstritten war, setzte sie sich im Laufe der 50er Jahre bei den Verfahren zur Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen durch. Die Konsequenzen waren weitreichend. Folge der subjektiven Teilnahmelehre war, dass bei der rechtlichen Würdigung und der anschließenden Strafzumessung sich ein großer Ermessensspielraum auftat.

Irrationale Gefühlsjurisprudenz

Der Richter musste nämlich die "innere Haltung" des Angeklagten zur Tatzeit ermitteln. Diese lag jedoch im Bereich eines kaum verifizierbaren tatrichterlichen Ermessens. Richter mussten vor allem darüber befinden, ob Angeklagte einen Tötungsbefehl innerlich billigend als "eigene" oder innerlich ablehnend als "fremde" Tat ausgeführt hatten. Richterliches "Urteilen" bedeutet also in erster Linie "Werten".

Dieses Werten wird durch persönliche und soziale, institutionelle und politische Determinanten beeinflusst. So entschieden Richter häufig intuitiv und aufgrund ihrer Lebens- und Berufserfahrung. Der Göttinger Strafrechtler Claus Roxin kritisierte deshalb bereits 1963 die subjektive Teilnahmelehre heftig. Seiner Meinung nach entzog sich die Prüfung, ob jemand die Tat als eigene oder fremde wolle, der "objektiven Norm" und führe zu einer "irrationalen richterlichen Gefühlsjurisprudenz, in welcher den Richtern mehr oder weniger überprüfbare individuelle Wertungen zugestanden werden".

An einem Beispiel wird das deutlich: Verbrechen von Frauen rufen oft besondere Bestürzung und besonderes Unverständnis hervor, da sie konventionellen Vorstellungen eines vermeintlich friedfertigen und fürsorglichen weiblichen Wesens entgegenstehen. Die an Frauen gestellten höheren moralischen Anforderungen waren oft der Grund, ihnen Gewalttätigkeit stärker anzulasten als Männern; ihnen wird ein Versagen hinsichtlich ihrer vermeintlich weiblichen "Bestimmung" vorgeworfen.

Diabolisieren und exterritorialisieren

Es muss nach verschiedenen Tätergruppen unterschieden werden. Man kann sie in acht Kategorien gliedern: in Euthanasie, Schreibtischverbrechen, Kriegsverbrechen, Massenvernichtungsverbrechen durch Einsatzgruppen, Massenvernichtungsverbrechen in Lagern, NS-Gewaltverbrechen in Lagern und Denunziation. Diese acht Kategorien lassen sich wiederum vier Großverbrechen zuordnen: der Vernichtung des europäischen Judentums (Massenvernichtungsverbrechen in Lagern, durch Einsatzgruppen, Schreibtischverbrechen), die Euthanasie, der Vernichtungskrieg (Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen in Lagern), die Justizverbrechen (richterliche Todesurteile, Denunziationen).

Charakteristisch ist ein Wandel des gesellschaftlichen Täterbildes von 1945 bis heute: Im früheren Täterdiskurs der 50er Jahre begegnet uns eine Distanzgewinnung zu den NS-Tätern durch Exterritorialisierung und Diabolisierung; die Täter – damit waren allein Hitler, Göring, Himmler und Heydrich gemeint – wurden aus der Gesellschaft herausinterpretiert und diese somit entlastet. Dies war nicht zuletzt – unbeabsichtigte – Folge der Nürnberger Prozesse von 1945/46.

Als die Alliierten gleich nach Kriegsende damit begannen, deutschen Kriegs- und NS-Verbrechern den Prozess zu machen, ging es nicht allein um die Ahndung von Verletzungen des Völker-, Kriegs- und Strafrechts sowie die Verurteilung von Vergehen bisher unbekannter Art und Dimension, der "crimes against humanity" – schlecht ins Deutsche übersetzt als Verbrechen gegen die "Menschlichkeit". Es ging auch darum, das zeigt sich insbesondere am Hauptkriegsverbrecherprozess vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg, als Sieger den Besiegten trotz allem einen fairen Prozess zu machen und in Deutschland rechtsstaatliche Prinzipien wieder zur Geltung zu bringen. Und tatsächlich waren 1945 manche Deutsche überrascht, dass man den Angeklagten Verteidiger zur Seite stellte, dass die ehemaligen NS-Größen vor Gericht ausführlich zu Wort kommen konnten, dass die Anklage sich die "Mühe" machte, ihnen die Vergehen, derer man sie beschuldigte, individuell nachzuweisen, und dass die Richter schließlich zu durchaus unterschiedlichen Urteilen gelangten, ja sogar zu drei Freisprüchen.

Wie wurde über Nürnberg in den Medien berichtet? Zumeist wurden die Angeklagten als Spießer und biedere Familienväter beschrieben, in dem Sinne, wie es Hannah Arendt im Jahre 1944 getan hat, als sie meinte, der Familienvater sei der große Verbrecher des Jahrhunderts. In der Neuen Zeitung, einer amerikanischen Lizenzzeitung, vom Dezember 1945 stand: "Wer sie so vor sich sieht, auf der hölzernen Anklagebank – Hermann Göring, der wie ein arbeitsloser Chauffeur wirkt; Arthur Seyß-Inquart, der einem durchgefallenen Studenten ähnelt; Fritz Sauckel, der wie ein diebischer Trambahnschaffner aussieht – der versucht vergebens, sich die Zwanzig als Herren Deutschlands oder der Welt vorzustellen, er kann sie nicht anders sehen als eine ertappte Bande von Straßenjungen, die eine Zeit lang in gestohlenen Anzügen umherliefen und die Passanten belästigten."

Eine längerfristige Folge dieser Prozesse mit Blick auf die Täterbilder war das, was man die "Viktimisierungsfalle" nennen kann. In den 1950er Jahren externalisierte man in Westdeutschland die Verbrechen und den Holocaust als Werke Hitlers beziehungsweise der SS und fundierte den Mythos von der deutschen Wehrmacht als Inbegriff zeitloser Soldatentugenden; die Deutschen erschienen hierbei als passiv Duldende, als Leidende und Opfer einer skrupellosen Führung.

Seit dem Beginn der 60er Jahre wurden die Bundesbürger von der Geschichte des "Dritten Reiches" mit Vehemenz eingeholt. Die Verjährungsdebatten des Deutschen Bundestages, begleitet von spektakulären NS-Prozessen – vor allem dem Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961, dem Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965, dem Krumey-Hunsche-Prozess 1964, dann die Prozesse zu Belzec 1965, Treblinka 1964/65 und Sobibor 1965/66 – konfrontierten die bundesdeutsche Öffentlichkeit erstmals in großem Ausmaß mit den Verbrechen des "Dritten Reiches". Die Zeit des kollektiven Beschweigens der Schuld war unweigerlich vorbei; die Diskussion über die NS-Zeit und die Verantwortung der deutschen Gesellschaft an den Verbrechen erreichte eine neue Qualität.

Im Jahr 1961 stand der administrative Organisator der Judendeportationen in die Vernichtungslager, Adolf Eichmann, in Jerusalem vor Gericht, nachdem er zuvor vom israelischen Geheimdienst in Argentinien aufgespürt worden war. Bei 95 Prozent der Bundesdeutschen fand der Prozess gegen den "Schreibtischtäter" Eichmann Aufmerksamkeit, was kaum überraschen konnte angesichts der Vielzahl von Artikeln und Berichten.

Banalität des Bösen

Alle großen deutschen Zeitungen hatten eigens Korrespondenten nach Jerusalem geschickt, die minutiös über den Ablauf, aber auch über moralische Aspekte des Prozesses berichteten. Zum ersten Mal sendete das Fernsehen Bilder eines solchen Prozesses, ein Vorgang, der die ohnehin vorhandene Wirkung noch verstärkt haben dürfte. Fast überall wurde besonders die mediokre "Normalität" Eichmanns in den Mittelpunkt gerückt, der als gehorsamer Bürokrat am Schreibtisch den Massenmord an den europäischen Juden organisiert, aber im Grunde keine eigenen Interessen verfolgt habe. Hier saß offenbar keine grausame Bestie, kein NS-Dämon oder ein pathologischer Mörder auf der Anklagebank, sondern ein mechanisches Glied einer perfekt funktionierenden Vernichtungsmaschinerie. Hannah Arendt sprach mit Blick auf Eichmann von der "Banalität des Bösen" und prägte damit für lange Zeit das Bild der Holocaust-Täter in Öffentlichkeit und Wissenschaft. Allerdings schlug ihr auch heftige Kritik entgegen, denn viele meinten, sie habe mit dieser Zuschreibung Eichmann verharmlost oder sogar die Opfer verhöhnt, und tatsächlich scheint sie den gealterten, seinen Machtpositionen verlustig gegangenen Eichmann unterschätzt zu haben; sie ließ sich ein Stück weit von seiner Selbstinszenierung täuschen. Arendts Täterbild implizierte, dass in der modernen Welt potenziell alle Menschen zu "Eichmännern", zu Massenmördern in einem anonymen Getriebe werden konnten, ohne dass sie sich den Folgen ihres Tuns bewusst wären. Problematisch an diesem an sich zutreffenden Gedanken war jedoch, dass damit der Holocaust zu einem Automatismus ohne Menschen geriet, dass Einblicke in die Praxis der Gewalt verhindert und Fragen nach Motiven, Interessen, politischen Sozialisationen und sozialen Herkünften der NS-Täter, die nur als Marionetten des Systems erschienen, nahezu völlig ausgeblendet wurden. Deutete man indessen den Holocaust als eine Reihe aufeinander folgender Schritte, die wiederum auf Initiative unzähliger Entscheidungsträger ergriffen wurden, und bezog man auch das Leid und die Ängste der Opfer mit ein, dann hatte, so Arendts Kritiker Raul Hilberg, dieses "Böse" nichts "Banales".

Die Strafverfahren wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen hatten seit den 60er Jahren ein anderes Gesicht als zuvor. Während sich bis dahin 43 Prozent der Verfahren mit Verbrechen aus der Endphase des Krieges 1945 und nur rund 15 Prozent mit Massenvernichtungsverbrechen befasst hatten, waren nun fast 60 Prozent der Verfahren mit dem zuletzt genannten Verbrechenskomplex beschäftigt. Damit stieg auch der Anteil von Verfahren wegen Verbrechen mit jüdischen Opfern von vormals 29 auf 76 Prozent. Ebenso verschoben sich die Nationalität der Opfer von vorwiegend deutsch auf überwiegend nicht-deutsch sowie die Tatorte, die in den Verfahren seit 1966 zu 83 Prozent im Ausland, besonders in Polen (41 Prozent) und in der Sowjetunion (31 Prozent) lagen. Schließlich gab es auch auf der Täterseite Veränderungen: Es stieg die Zahl der Verfahren gegen Angehörige von Einsatzgruppen und vor allem gegen das Personal von Konzentrations-, Vernichtungs- und Zwangsarbeiterlagern sowie gegen Mitglieder der Polizei. Für fast die Hälfte aller Angeklagten endeten die Verfahren – meist wegen der Beweisschwierigkeiten – ohne Strafe; bis 1966 wurden 5,5 Prozent der Angeklagten zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt, im darauf folgenden Zeitraum bis 1987 waren es 13 Prozent.

Die Frage nach dem Sinn und Zweck von Strafe ist immer ein Politikum. In der Bundesrepublik lässt sich nach 1949 ein Trend zum allmählichen Abbau des Vergeltungs- und Sühnestrafrechts feststellen; stattdessen erhielten Abschreckung und Prävention die Oberhand. Für die Prozesse hatte dies weitreichende Folgen. Häufig lassen sich nämlich Gerichte zu gesellschaftspolitischen Aussagen hinreißen wie: "Das Strafmaß kann geringer ausfallen, da unser Volk schon hinreichend abgeschreckt ist." Solche Argumentationsfiguren gehören zu den häufigsten Milderungsgründen.

Erst in jüngster Zeit ist die Forschung auf dem Weg zu den "ordinary men"; der Blick hat sich auf neue Tätergruppen hin erweitert, man entschlüsselt individuelle Tatmotive und unterscheidet etwa Weltanschauungstäter, utilitaristisch motivierte Täter, kriminelle Exzesstäter oder traditionelle Befehlsempfänger.

Heute ein Skandolon: die "Gehilfen-Juridikatur"

Je länger die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner Verbrechen dauerte, desto mehr klafften die Bereiche: Rechtsprechung auf der einen Seite und öffentlicher Umgang sowie wissenschaftliche Erkenntnisse über den Nationalsozialismus auf der anderen Seite weit auseinander. Die Rechtsprechung hatte seit den 60er Jahren ein Schuldmodell zementiert – die "Gehilfen-Juridikatur" – das eine adäquate Ahndung nahezu unmöglich machte. Bei den KZ-Prozessen sind die Angeklagten von den Gerichten vornehmlich unter Beihilfe zum Mord eingeordnet worden. Die Begründung lief so: Tötungen in Gaskammern waren Mord; die Täter waren: Hitler, Göring, Himmler, Heydrich. Die Angeklagten hätten dazu Beihilfe geleistet. Ob die Tat als Beihilfe oder Mittäterschaft zu werten war, war nur anhand subjektiver Kriterien zu entscheiden: Das bedeutet, dass Täter derjenige war, der seinen Tatbeitrag mit dem Täterwillen (animus auctoris), Gehilfe derjenige war, der seinen Tatbeitrag mit Gehilfenwillen (animus socii) leistete. Um diese Frage zu entscheiden, beschäftigen sich die Gerichte mit der Tatherrschaft, der inneren Einstellung zum Tatgeschehen, dem eigenen Interesse, dem Umfang der eigenen Tatbestandsverwirklichung. Diese Gehilfen-Juridikatur erkennt die Forschung heute als Skandalon. Demgegenüber wurde die Öffentlichkeit immer sensibler, und so tat sich eine Schere auf zwischen Rechtsprechung und Rechtsempfinden, die bis in unsere Tage hinein fortbesteht.

Autor:
Prof. Dr. Edgar Wolfrum
Historisches Seminar, Zeitgeschichte
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Telefon: (0 62 21) 54 22 75
e-mail: edgar.wolfrum@urz.uni-heidelberg.de

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