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Meinung

Geist ohne Wissenschaft?

Prof. Dr. Tonio Hölscher vom Institut für Altertumswissenschaften
Prof. Dr. Tonio Hölscher vom Institut für Altertumswissenschaften meint, dass Geisteswissenschaften kein überflüssiger Luxus sind, sondern eine zentrale Voraussetzung für die Überlebensfähigkeit der Gesellschaft.
Foto : privat

Wie viel Geisteswissenschaften können wir uns noch "leisten"? Das Ostinato dieser Frage, über dem Basso continuo sinkender Wirtschafts- und steigender Arbeitslosenzahlen, wird von der Wissenschaftspolitik zunehmend entschlossen mit dramatischen Kursänderungen beantwortet: Stärkung der "nutzbringenden" Forschung – und drastische Kürzungen in den Geisteswissenschaften, die bei dem Ernst der Lage doch Bereitschaft zu verzichten und Verständnis dafür aufbringen müssen, dass Prioritäten in "anwendungsrelevanten" Bereichen gesetzt werden.

Wer so denkt und plant, scheint den Ernst der Lage noch nicht wirklich begriffen zu haben. Denn die viel beschworenen Aporien und Sackgassen, in denen die Gesellschaft sich heute findet, liegen überall an den Schnittstellen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Man kann die Frage darum nur umdrehen: Wie viel Verzicht und Atrophie in den Geisteswissenschaften können wir uns leisten?

Eine Gesellschaft, die lebensfähig bleiben will, braucht vitale und zeitgemäße Diskurse über die Grundfragen des Menschen: über Leben und Tod, Körper und Seele, Gemeinschaft und Individuum, Jugend und Alter, Geschlechter und Lebensstufen, Religion und Macht, Liebe und Trauer, Natur und Umwelt, Identität und Fremdheit, Lebenskultur, Literatur und Kunst. Wenn solche Diskurse aussetzen, droht eine kollektive Orientierungslosigkeit, deren Sanierung auf die Dauer von dieser Gesellschaft sehr konkret mit großen Summen bezahlt werden muss – für Psychologen oder Polizisten.

Wo die Politik noch im Zweifel ist, hat die Wissenschaft bereits Konsequenzen gezogen: Die internationale Wende der Geisteswissenschaften zu Grundfragen der Kultur und Anthropologie in der letzten Generation stellt Fragen in den Vordergrund, die heute im Zentrum der gesellschaftlichen Umbrüche stehen. Deutschland kann es sich schwerlich leisten, in diesem weltweiten "cultural turn" zurückzubleiben.

Es geht nicht um schöne kulturelle Arabesken zu den harten Realitäten des Lebens. Die Medizin macht es nötig, Leben und Tod neu zu bestimmen. Die wirtschaftliche Entwicklung erfordert, Arbeit, Existenzminimum und Menschenwürde neu festzulegen. Die Menschenrechte bedürfen einer Klärung zwischen gemeinsamen anthropologischen Prämissen und divergierenden kulturellen Vorgaben. Selbst in der Forschung bleibt die "Exzellenz", die heute der höchste Maßstab ist, ein wertneutraler Parameter, solange nicht geklärt ist, wie weit sie zum Heil oder zum Unheil der Menschen eingesetzt wird. Alles muss neu definiert werden: Letzten Endes geht es um ein zeitgemäßes pluralistisches Menschenbild, das in einem breiten und immer wieder neu ansetzenden Diskurs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, Rechtswissenschaften und Theologie ausgehandelt werden muss. Die systematischen Disziplinen der Philosophie, Soziologie, Psychologie stehen dabei in vorderster Reihe. Dies ist weit entfernt von schöngeistigem Luxus: Es ist die erste Voraussetzung für einen tragfähigen Konsens in zentralen Fragen der Gesellschaft.

Die immense Beschleunigung der Veränderungen lässt Prognosen über die Folgen gegenwärtiger Weichenstellungen zunehmend ungewiss erscheinen. Umso mehr sind Welt- und Lebenserfahrungen nötig. Die Diskussionen um die sozialen und ethischen Fragen der Gegenwart leiden vor allem daran, dass sie allzu oft im Kreis der eigenen Vorstellungen befangen bleiben. Der einzige Erfahrungsraum, der uns zur Verfügung steht, um Fragen der Gegenwart unter den Bedingungen einer anderen Lebenswirklichkeit durchzuspielen, ist die Geschichte. Es ist ein grundsätzliches Missverständnis, wenn Geschichte als Belastung und Einschränkung der Gegenwart durch die Vorgaben der Vergangenheit empfunden wird. Recht betrachtet, ist Geschichte ein Raum der Freiheit: frei von den Strukturen und Prämissen der eigenen Vorstellungen, frei für die Erfahrungen und Vorstellungen anderer Gesellschaften, voller Impulse für produktive Phantasie für die Gegenwart, je weiter ausgelegt, desto reicher. In diesem Sinn kann Geschichte ein vorzügliches Rüstzeug für die Zukunft sein: Es wäre ein geradezu fahrlässiger Irrtum, wenn man meinte, auf Geschichtswissenschaften verzichten zu können.

Die gesellschaftliche Lebenswelt stellt sich aus heutiger Sicht als ein Konstrukt von kulturellen Optionen und Bedeutungen dar, in denen der Mensch sich einrichtet. Dies ist eine Einsicht, die die Literatur- und Kunstwissenschaften in besonders prägnanter Weise vermitteln. Sofern gesellschaftliches Leben Kommunikation in Texten und Bildern, verbalen und visuellen Botschaften ist, die ihrerseits wieder auf physischer Wahrnehmung beruhen, sind diese Disziplinen aus der Bemühung um ein zeitgemäßes, geistes- und naturwissenschaftliches Menschenbild nicht herauszulösen.

Die Globalisierung der Welt schafft heute einen immensen Bedarf an interkultureller Kompetenz. In dieser Situation sind die Wissenschaften von außereuropäischen Kulturen in hohem Maß lebensnotwendig. Der Krieg im Irak hat zur Genüge vor Augen geführt, zu welchen Katastrophen das Unverständnis fremder Kulturen und Religionen führen muss. Dabei ist es nicht mit der Kenntnis materieller Machtmittel getan, denn die fremden Partner tun uns nicht den Gefallen, sich wie wir auf Politik, Wirtschaft, Technik und Militärpotenzial zu beschränken, sondern gewinnen ihre unvorhergesehene Kraft aus ihrer Geschichte, Kultur und Religion. Und der Bedarf gilt gewiss nicht nur einer kulturpolitischen Feuerwehr in Situationen politischer Brandfälle. Nötig ist eine konstruktive wissenschaftliche Basis für den Aufbau einer globalen Ordnung, die auf kompetentem Verstehen der fremden Kulturen begründet ist.

Dies ist in hohem Maß "anwendungsrelevant". Dafür aber bedarf es breit gelagerter gesellschaftlicher Diskurse. Eine heilsame Erfindung der Technik, eine Neuerung der Medizin, eine Entdeckung der Naturwissenschaft kann an einem einzigen Ort gemacht werden und wird doch die Verbreitung überall erreichen, wo sie gebraucht wird. Einsichten der Geisteswissenschaften und daraus erwachsende kulturelle Einstellungen dagegen bedürfen der Überzeugung in dichter Kommunikation. Geisteswissenschaften entfalten ihre gesellschaftliche Wirkung in vermittelnder Präsenz. In der oft favorisierten professionellen Konzentration in wenigen Geistesfabriken können sie ihren Auftrag nur begrenzt erfüllen. Die begonnene Vereinigung von Europa und die noch zu schaffende neue Ordnung der Welt werden ohne ein gesellschaftlich begründetes kulturelles Fundament zum Scheitern verurteilt sein. Um dies politisch zu gestalten, bedarf es einer Weitsicht, die über den Rhythmus von Wahlperioden hinausreicht. Wenn Wissenschaftspolitik nicht kurzfristige Renditen, sondern längerfristige mentale Lebensfähigkeit zum Ziel hat, dann sind breit gelagerte Geistes- und Kulturwissenschaften eine Investition, auf die wir nicht verzichten dürfen.

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