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"Dass bewahrt sei ein durchs Dunkel getragenes Zeichen"

Wissenschaftler aus aller Welt trafen sich kürzlich in Heidelberg, um zu diskutieren, wie die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik dort wahrgenommen wurde, wo sie ihre meisten Opfer forderte: in Osteuropa. Wie ging man dort mit dieser Erfahrung um? Frank Grüner vom Seminar für Osteuropäische Geschichte und Urs Heftrich vom Slavischen Institut berichten von einem heiklen Thema und seiner Verarbeitung in Literatur, Film, Kunst und Musik.

Imre Kertész

Imre Kertész


Imre Kertész berichtet in einem seiner Romane von einem seltsamen Gesellschaftsspiel: Die Anwesenden werden aufgefordert zu sagen, in welchen Gefängnissen oder Konzentrationslagern sie eingesperrt waren. Daraufhin, schildert Kertész, begannen die Namen "wie kraftlose, vereinzelte Tropfen aus einer vorübergezogenen Wolke" zu fallen: Mauthausen, Donbogen, Sibirien, Ravensbrück, Buchenwald. "Auschwitz, sagt schließlich jemand im bescheidenen, aber selbstsicheren Tonfall des Siegers, und die Gesellschaft nickte. Unschlagbar, so quittierte auch der Hausherr mit einem halb neidischen, halb übelnehmenden, aber zu guter Letzt doch anerkennenden Lächeln."

In seinen Essays sucht Kertész selbst die Ursachen dafür, warum Auschwitz im europäischen Bewusstsein zu dem wurde, was es ist: zum universalen Gleichnis für das, was Menschen einander antun können. Er findet vor allem zwei Gründe. Erstens die "Einfachheit" des Gleichnisses. Im Gegensatz zu den Millionen Menschen, die Stalin nach Sibirien deportieren ließ – darunter auch viele gläubige Kommunisten #150;, befand sich unter den nach Auschwitz Verschleppten gewiss kaum ein Anhänger der politischen Bewegung, die diesen Terror organisierte. Kertész schreibt dazu: "In Auschwitz verschwimmt die Grenze zwischen Gut und Böse keinen einzigen Augenblick." Der zweite Grund, den Kertész anführt, besteht in dem, was er die "Abgeschlossenheit" von Auschwitz nennt: "Auschwitz hat eine völlig offengelegte, eben deshalb geschlossene und inzwischen unantastbare Struktur". Es steht "vor uns wie ein sorgfältig präparier- ter Ausgrabungsfund, eine in allen Einzelheiten bekannte, abgeschlossene Geschichte, für die wir zu Recht das Präteritum verwenden." Über Letzteres könnte man streiten – erst recht, wenn man näher betrachtet, wie dasjenige, wofür der Name "Auschwitz" steht, dort wahrgenommen wurde, wo Auschwitz liegt: in Osteuropa.


Keine Region hat unter dem Rassen- und Vernichtungswahn der Nationalsozialisten furchtbarer gelitten als Osteuropa. Wie ging man dort mit dieser Erfahrung um? Diese Frage verdichtet sich rasch zu der spezielleren nach dem Umgang der sozialistischen Diktatur mit dem Holocaust. Von dieser Diktatur wurde es, um erneut Imre Kertész zu zitieren, überhaupt "nicht gern gesehen, wenn der Holocaust erwähnt wurde, und da sie es nicht gern sah, hat sie solche Stimmen auch sozusagen restlos zum Schweigen gebracht." Der Holocaust war in Osteuropa ein heikles Thema. Und er ist es noch, müsste man ergänzen. Die Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik birgt dort bis heute erhebliches Konfliktpotenzial.

Die Objektserie

Die Objektserie "Lego Concentration Camp" des polnischen Künstlers Zbigniew Libera von 1996 steht für neue Möglichkeiten einer künstlerischen Thematisierung des Holocaust innerhalb der Generation der Nachgeborenen. Im ersten Augenblick schockierend, fordert die Serie den Betrachter zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den im Erinnerungsdiskurs entstandenen und kanonisierten Floskeln, Formen und Bildern sowie mit der erzieherischen Verwertung des Holocaust heraus.


So ruft das separate Gedenken an die jüdischen Opfer unter Teilen der nichtjüdischen Bevölkerung in den Ländern Osteuropas immer wieder Unmut hervor. Ein häufiger Vorwurf an die Adresse der Juden lautet, dass die jüdischen Leiden einseitig hervorgehoben und die nichtjüdischen Opfer des Faschismus vernachlässigt würden. Zahlreiche Auseinandersetzungen und Missverständnisse zwischen Juden, Roma und anderen verfolgten Minderheiten auf der einen Seite und der Mehrheitsbevölkerung in den betreffenden Staaten auf der anderen Seite wurzeln in einer solchen "Rivalität des Leidens". Man denke nur an die Debatte über das im Sommer 1941 verübte Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Jedwabne, die der amerikanische Historiker Jan Tomasz Gross mit seinem Buch "Nachbarn" im Jahr 2000 anstieß. Gross stellt mit seiner provokanten These, die gesamte Bevölkerung der ostpolnischen Stadt Jedwabne sei direkt oder indirekt an der Ermordung der Juden beteiligt gewesen, das bisherige Selbstverständnis der Polen als Opfervolk in Frage.

Josef Capek (1887-1945)

Der tschechische Avantgardist Josef Capek (1887-1945) warnte in expressiven Bildern vor der nationalsozialistischen Aggression. Nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei musste er im KZ für die SS Alpenglühen malen. Er starb in Bergen-Belsen wenige Tage vor Kriegsende.

Josef Capek (1887-1945)

Solche Diskussionen in den postsozialistischen Gesellschaften machen deutlich, wie äußerst sensibel gerade die Auseinandersetzung mit der lange unter Verschluss gehaltenen eigenen Vergangenheit ist. Nach wie vor fällt besonders der Mehrheitsbevölkerung in den jeweiligen Ländern eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der gewohnten, vom Mythos des antifaschistischen Heldentums überlagerten Interpretation der jüngsten Geschichte schwer. Von der offiziellen Erinnerungspolitik abweichende eigenständige Gedächtnisdiskurse, wie sie zeitweise etwa unter der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion oder in Polen existierten, waren unerwünscht und wurden nicht selten als "nationalistisch" verfolgt. Auf dem Weg zu einer pluralistischen Gedächtniskultur Dahinter wird das Bemühen der sozialistischen Regimes nach 1945 erkennbar, eine tragfähige Ideologie für das sozialistische Lager und zugleich eine Abgrenzung gegenüber dem Westen zu schaffen, indem man die Leistungen des eigenen Volkes im Zweiten Weltkrieg als heldenhaften Widerstand gegen den Faschismus glorifizierte. Wer da die Kollaboration von Teilen der Bevölkerung mit den deutschen Truppen oder deren Beteiligung an den Verbrechen des Holocaust nicht schleunigst vergessen wollte, störte dieses hehre Bild. Erst das allmähliche Abrücken von einer staatlich monopolisierten Erinnerungspolitik nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat in Osteuropa in den vergangenen Jahren den Weg zu einer pluralistischeren Gedächtniskultur gebahnt.

In der Tat liegt es nahe, die beschriebenen Denk- und Verhaltensmuster als Erbe der Tabuisierung des Themas durch die sozialistischen Regimes in Osteuropa zu verstehen. Doch wie genau lässt sich eben diese Erinnerungspolitik, die eher eine Politik des Verschweigens war, inhaltlich fassen? Wo liegen ihre Ursachen? Welche Motive hatten die jeweiligen Staats- und Parteiführungen in Osteuropa, die historischen Tatsachen zu verschleiern? Wie hat sich ihre Politik auf die Gesellschaft ausgewirkt? Welche alternativen Gedächtnisdiskurse gab es und welche Ausdrucksformen fanden sie? Und mit welchen wissenschaftlichen Instrumenten lässt sich die spezifische Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in den verschiedenen Kulturen Osteuropas am besten greifen? Das sind nur einige wenige Fragen, die deutlich machen, dass sich hier ein riesiges Forschungsfeld öffnet, dessen eigentliche Dimension zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht überschaubar ist.

Wie massiv die offizielle, ideologische Optik jahrzehntelang den Blick nicht nur auf die Verfolgung und Ermordung der Juden, sondern auch anderer ethnischer Gruppen in Osteuropa verstellt hat, wurde bislang kaum ernsthaft erforscht. Erste Studien lassen erahnen, dass sich mit der Untersuchung der NS-Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa ein breiter Zugang zum Verständnis verschiedenster historischer und kultureller Phänomene der Gesellschaften Osteuropas eröffnet. Initiiert vom Lehrstuhl für slavische Literaturwissenschaft und in enger Kooperation mit der Osteuropäischen Geschichte arbeiten seit dem Jahr 2001 in der Universität Heidelberg Wissenschaftler verschiedener geisteswissenschaftlicher Disziplinen gemeinsam an der Erkundung dieser Thematik. Auf dem von der Fritz Thyssen-Stiftung und der Stiftung Universität Heidelberg finanzierten Symposium über "Die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik: Formen künstlerischer Erinnerung in Osteuropa – Literatur, Film, Kunst und Musik", das Ende 2003 im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattfand, wurden erste Ergebnisse vorgestellt. Die international besetzte Tagung mit Teilnehmern aus Russland, Polen, Tschechien, Israel, Kanada und den Vereinigten Staaten widmete sich den vielfältigen Formen und Inhalten sozialen und historischen Gedächtnisses, wie sie von den 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis zur Gegenwart Eingang in die Kulturen Osteuropas fanden. Das Spektrum der Untersuchungsgegenstände reichte von der Belletristik, Publizistik, Film, Musik über die bildenden Künste bis zu diversen Medien und Orten öffentlichen Gedenkens wie Museen, Gedenkstätten und Mahnmale. Im Zentrum standen vor allem folgende Fragen: Welche Aspekte der nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik werden überhaupt dargestellt? Welche ästhetischen Ausdrucksmittel kommen dabei zum Einsatz? Und welche Inhalte erweisen sich aus Sicht von Regime und Gesellschaft als umstritten oder tabu?

Auch eine Reihe Heidelberger Wissenschaftler stellten ihre Forschungsergebnisse vor: Es wurde deutlich, in welchem Maß die Diktaturen in Osteuropa beim Umgang mit der Holocaust-Thematik das Gedächtnis der jüdischen Opfer sowie anderer Opfergruppen des NS-Terrors den herrschenden Dogmen unterordneten. Die offizielle Sprache des stalinistischen Regimes offenbart eine unverkennbare Tendenz zur Ethnisierung der sowjetischen Ideologie und Politik, die sich während des Zweiten Weltkrieges beispielsweise in der Hervorhebung der historischen Bedeutung und Verdienste von Russen, Ukrainern und Weißrussen auf Kosten der nichtslawischen Minderheiten manifestierte (Heinz-Dietrich Löwe, Heidelberg). Die Analyse sowjetischer Antinazifilme zeigt, wie eng über einen Zeitraum von fast fünfzig Jahren das künstlerische Schaffen mit der jeweils gültigen politischen Doktrin verflochten war. Tristes Fazit: Die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten wurde im sowjetischen Kino nur in raren Ausnahmefällen thematisiert (Brigitte Flickinger, Heidelberg).

Die bewusste Ausblendung historischer Fakten prägt auch das musikalische Schaffen der Zeit. So schlugen zahlreiche Kompositionen der 40er Jahre einen ausgesprochen pathetischen Ton an und heroisierten Krieg, Sowjetarmee, Volk und Führer. Der konkrete Feind sowie die spezifischen Opfer der deutschen Aggressions- und Vernichtungspolitik blieben demgegenüber unerwähnt (Dorothea Redepenning, Heidelberg). Andere künstlerische Medien erwiesen sich hingegen als weniger staatlich lenkbar und brachten trotz des enormen politischen Drucks Alternativen zum offiziellen Erinnerungsdiskurs hervor. Bei russischen Dichtern wie Boris Slutzkij und Alexander Galitsch führte die Erfahrung von Ausgrenzung und Stigmatisierung als kritische Intellektuelle und Angehörige der jüdischen Nation zu einer Besinnung auf die eigene Herkunft und zur Identifikation mit dem Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert (Christoph Garstka, Katja Lebedewa, Heidelberg).

Geradezu symbolhafte Bedeutung kommt in diesem Kontext der künstlerischen Erinnerung an die Ereignisse von Babij Jar zu. In der am Stadtrand von Kiew gelegenen Schlucht Babij Jar verübten deutsche Spezialeinheiten am 29. und 30. September 1941 eine Massenexekution: 33 771 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden allein in diesen zwei Tagen umgebracht. Dass Babij Jar trotz vehementer Versuche des sowjetischen Regimes, die antisemitische Motivation dieser Untat zu unterschlagen, einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft einnehmen konnte, ist das Verdienst einiger kritischer Künstler, die in ihren Werken über Jahrzehnte hinweg an die jüdische Tragödie erinnerten und damit das Regime immer wieder von neuem herausforderten (Frank Grüner, Heidelberg). Auch Ilja Ehrenburg wäre hier zu nennen, der Mitverfasser des lange unterdrückten "Schwarzbuches" und leidenschaftlich hassende Ankläger deutscher Kriegsverbrechen (Horst-Jürgen Gerigk, Heidelberg). Das Bestreben der offiziellen Nachkriegspolitik war es also, die spezifischen Tragödien der vom NS-Terror gezielt ausersehenen Opfergruppen wie Juden, Sinti und Roma zum Verschwinden zu bringen, indem man sie im Mythos von einem uniformen "friedlichen Sowjetvolk" als Opfer deutscher Aggression aufgehen ließ. Bei den Leidtragenden hat dies verständliche Verbitterung hervorgerufen und zu jener "Opferrivalität" geführt, die Kertész als makabres Gesellschaftsspiel inszeniert. Gerade in Polen ist dieses Thema seit den 40er Jahren bis heute präsent, wie etwa die Analyse der Filme Wanda Jakubowskas und Aleksander Fords (Christine Müller, Heidelberg), aber auch noch die Erfahrung mit der Einrichtung einer ständigen Ausstellung zum Völkermord an den Sinti und Roma in Auschwitz lehrt (Silvio Peritore, Frank Reuter, Heidelberg).

Bis heute ungelöst bleibt – der Berliner Mahnmalstreit hat es jüngst wieder vor Augen geführt – die Frage nach einem angemessenen Ausdruck für das Gedenken an eines der größten Menschheitsverbrechen. Dabei zeigt gerade das osteuropäische Beispiel, dass man nach Auschwitz Gedichte nicht allein schreiben kann, sondern geradezu muss. Schon während der Terror wütete, halfen Gedichte den Betroffenen, moralisch zu überleben; und so ist es nur eine scheinbare Paradoxie, dass etwa für die Tschechen die Zeit der deutschen Besatzung zu einer Blütezeit ihrer Lyrik wurde (Urs Heftrich, Heidelberg). Vielleicht vermag just die Dichtung dem Unvorstellbaren sogar am überzeugendsten gerecht zu werden, wenn sie etwa – wie im Werk des tschechischen Autors Jirí Weil – in den Mechanismen der antiken Tragödie ein Erklärungsmuster für das Räderwerk der Vernichtung findet (Bettina Kaibach, Heidelberg/Bonn). Und nicht zuletzt bietet sie eine Chance, sich zwischen Deutschland und Osteuropa über das Geschehene zu verständigen. Exemplarisch mag dafür die Weise stehen, wie der polnische Dichter Tadeusz Róz·ewicz die berühmte "Todesfuge" Paul Celans aufgreift und in sein eigenes Werk einbaut (Henrieke Stahl, Heidelberg/Trier) – "dass bewahrt sei ein durchs Dunkel getragenes Zeichen".

Autoren:
Frank Grüner,
Seminar für Osteuropäische Geschichte, Grabengasse 3-5, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 24 75,
e-mail: frank.gruener@urz.uni-heidelberg.de

Prof. Dr. Urs Heftrich,
Slavisches Institut, Schulgasse 6, 69117 Heidelberg,
Telefon (0 62 21) 54 26 28,
e-mail: urs.heftrich@urz.uni-heidelberg.de
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