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Schall und Rauch

"Ut pictura poesis" – unter diesem Horaz-Motto wurde immer wieder nach der Vergleichbarkeit, ja Gemeinsamkeit von Malerei und Literatur gefragt. Arnold Rothe, Ordinarius für Romanische Philologie, geht dieser Frage erneut nach und betrachtet das Verhältnis von Malerei und Literatur am Beispiel des Pariser Bahnhofes Saint-Lazare – und seiner Darstellung durch Claude Monet und Émile Zola.

"Ut pictura poesis" – Anlass, dieser Frage erneut nachzugehen, war das Zusammentreffen zweier kultureller Ereignisse, der Stuttgarter Ausstellung "Monet und der Impressionismus", und des vor allem in Frankreich begangenen 100. Todestages von Émile Zola. In Deutschland ist dieser Autor weit mehr durch den Dreyfus-Prozess und sein mutiges Auftreten für den Angeklagten bekannt als durch seinen monumentalen Romanzyklus "Les Rougon-Macquart". Zola hat die Literatur auf die Höhe der Zeit – sprich der Wissenschaften – bringen wollen und dabei den Empirismus zu seiner Methode und den Determinismus zu seiner Theorie erhoben. In Anlehnung an den Physiologen Claude Bernard betrieb er Dokumentation, Recherche und – bereits den Fotoapparat in der Hand – Beobachtung vor Ort. Wie für den Positivisten Hippolyte Taine war für ihn die Determiniertheit des Menschen noch eine erbbiologische. Um deren Wirken darstellen zu können, musste er eine Familie – die Rougon-Macquarts – über mehrere Generationen begleiten. Hierfür bot sich die Form des Zyklenromans an.

Plakativ gibt sich die biologische Komponente schon in Titeln wie "La Bête humaine" zu erkennen – "Das menschliche Tier", "Das Tier im Menschen". So heißt der Romanteil, der sich am ehesten für einen Vergleich mit Claude Monet eignet. Publiziert im Jahr 1890, spielt der Roman schon 1869/70, am Vorabend des deutsch-französischen Krieges, und zwar im Eisenbahnermilieu, das somit literarisch hoffähig gemacht wurde. Der Anfang des Romans führt uns zur Gare Saint-Lazare, einem der noch heute betriebenen Pariser Kopfbahnhöfe, erbaut Mitte des 19. Jahrhunderts unter Napoleon III. Östlich des Areals der Gare Saint-Lazare befindet sich Roubaud, ein Eisenbahner, im fünften Stock eines Gebäudes am Impasse d'Amsterdam. Was er von hier aus sieht und was minuziös beschrieben wird, lässt sich exakt auf dem realen Stadtplan verfolgen: links der Bahnhof von hinten mit den Hallen und ihren verglasten Bögen, die bis zur Gleisanlage reichen, gegenüber die Gleisanlage selbst und dahinter die Rue de Rome. Rechts steht der Pont de l'Europe, ein sternförmiges Meisterwerk der Industriearchitektur des Second Empire, den Geländeeinschnitt der Gleisanlage überbrückend, die sich jenseits im Tunnel unter dem Boulevard des Batignolles verliert.

Schon dreizehn Jahre früher, 1876/77, hat Monet den Bahnhof gemalt und ihm gleich einen ganzen Zyklus gewidmet. Als Verfechter der Plein-Air-Malerei stellte er mit Genehmigung und tatkräftiger Unterstützung der Direktion seine Staffelei mitten im Getriebe des Bahnhofs auf. Ein Bild zeigt den Pont de l'Europe (siehe Seite 34) mit seiner Stahlkonstruktion und den steinernen Stützpfeilern, darunter die Gleisanlagen, dahinter und darüber die Rue de Rome, also das, was auch Zolas Eisenbahner vor sich sah, nur von einem niedrigeren Standort aus. Auf einem anderen Bild geht der Blick in die entgegengesetzte Richtung, von einer Position unterhalb der Brücke zum Gebäude am Impasse d'Amsterdam, der Bleibe des Eisenbahners. Mit einem leichten Schwenk nach rechts nimmt Monet auf einem dritten Bild zwei Bahnhofshallen ins Visier. Zola scheint mit ihm also den topographischen Ausschnitt und ein Stück weit den Standort zu teilen. Es gibt aber auch Bilder ohne derart genaue Entsprechungen im Roman, zwei Blicke aus dem Bahnhofsinnern auf den Pont de l'Europe, einmal mit dem Gebäude des Impasse rechts, einmal mit der Rue de Rome links (siehe Seite 35).

Wie anders ein derartiges Milieu auch gemalt werden konnte, zeigt das Bild von Karl Karger, entstanden im Jahr 1875, just also aus derselben Zeit (Seite 37). Es stellt den Wiener Nordwestbahnhof dar. Vor dem Hintergrund des biederen Genrebilds wird Monets revolutionäre Leistung derart augenfällig, dass sie kaum noch erklärt werden muss: die Entdeckung der Atmosphäre eines Bahnhofs in den Zeiten der Dampfmaschine (Seite 35). Zu sehen sind die dunklen Massen von Lokomotive rechts und Waggons links im Kontrast zum Filigran der Eisenarchitektur; Bahnhofshallen und alle sonstigen Gebäude sind von Dampf eingenebelt. In zerfasernden Fetzen reicht er bis zum Hallendach oder bildet fast materielle Kugeln, die sich in Schlotnähe zu Trauben vereinigen. Im Innenraum beleuchtet das Tageslicht den Qualm von oben und gibt ihm Volumen, draußen löst sich der Dampf vor diesigem Hintergrund in bloße Helle auf. Das Licht wird vielfältig reflektiert, auf den Schienen, in einer Wasserlache, an den Flanken der Lok, an den Innenseiten des Hallendachs. Abgesehen vom unteren Fünftel ist das Bild im wahrsten Sinne des Wortes in blauen Dunst getaucht. Umso auffälliger die Ausnahmen: das gelbe Signal in der Bildmitte, die weißen Scheinwerfer der Lokomotive, das Rot einer Lampe an der Stoßstange sowie das der Gesichter.

Das Bild suggeriert Veränderung und Bewegung. Dabei ist, wie auf jedem herkömmlichen Gemälde, selbstverständlich alles fixiert. Was hier aber fixiert wird, ist nicht eine Dauer. Es handelt sich um einen unwiederholbaren Augenblick, es ist kein Zustand, sondern etwas Transitorisches. Dieser Eindruck entsteht durch malerische Mittel wie das Verwischen der Konturen, das der Stabilität widerstrebt, durch die Kreisform der Dampfwolken, die an das Rad erinnert – in unserer Kultur Symbol der Bewegung -, und durch die Schlangenlinien der Gleise. Zum andern appelliert das Bild an unser lebensweltliches Vorwissen: Mit Dampf assoziieren wir Leichtigkeit, Beweglichkeit und Verflüchtigung; für unsere Vorväter war die Eisenbahn der Inbegriff von Mobilität und einer bisher ungeahnten Geschwindigkeit. Monet vertraut diesen Konnotationen jedoch nicht – er geht auf Nummer Sicher: Rechts zeigt er eine Lok von vorne, links einen Zug von hinten – rechts also die Ankunft und links die Abfahrt, mithin das Ende und den Anfang einer Bewegung. Insgesamt stellt er weder einen bloßen Sachverhalt noch eine Handlung dar, sondern etwas dazwischen, ein Geschehen. Dessen Protagonist ist nicht die Eisenbahn, Triumph von Technik und Fortschritt. Dazu fehlen die Details. Und auch nicht deren Schöpfer, den Menschen. Er ist Statist oder sogar schon anonyme Masse. Protagonist ist vielmehr der Dampf, der technisch betrachtet nicht mehr als eine lästige Begleiterscheinung ist. Als solche hat man ihn nur allzu gerne eskamotiert; Monet aber braucht ihn, als Reflektor des Lichts und als Indikator des Transitorischen. Er betont nicht das, was das Gedächtnis weiß oder der Verstand durchschaut, sondern das, was das Auge registriert.

Damit zurück zu Zola. In sechs voneinander unabhängigen Sequenzen beschreibt er im ersten Kapitel das Bahnhofsgeschehen, häufiger und ausführlicher als man es von einem Romancier, der eigentlich eine Geschichte erzählen will, erwarten würde. Und jedes Mal evoziert er Licht, Farbe, Dampf, Kontrast und Veränderung, "jenes jähe Aufrollen des Horizonts, der sich an diesem Nachmittag Mitte Februar unter dem Himmel mit seinem feuchten und lauen, sonnendurchblitzten Grau noch mehr zu weiten scheint. Gegenüber verschwimmen in diesem Strahlengestiebe die hingehauchten Häuser der Rue de Rome".

Wie viel Phantasie Zola darauf verwandte, der Flüchtigkeit der Erscheinungen gerecht zu werden, merkt man, wenn man das Vokabular von dieser und von anderen Stellen des ersten Kapitels zu Wortfeldern umgruppiert:

Dampf: "Nebel – dünner Strahl – Flockengebilde – wie Schneeflaum" und dem gegenüber "Rauch -, Qualm -, Rußwolken -, Rauchwölkchen, -schleier und -schwaden".

Farben: "Grüne, gelbe, weiße Lichter – blassvioletter Nebel – grauer Himmel – schwarze Unermesslichkeit – rotes Dreieck – kupferrote Sonnenscheibe".

Licht: "Bleiches Tageslicht – starke weiße Helligkeit – Strahlengestiebe" und dem gegenüber: "Schattensee – angestaute Finsternis".

Lichtreflexe: "Verblasster Lichtschimmer der Fassaden – letzter Widerschein von Tageslicht" in den Scheiben – "schwacher Widerschein der Gasbeleuchtung" in der Bahnhofshalle.

Übergänge: "Verschwimmen – verfließen – verfliegen – verbleichen – verfinstern – erlöschen", "Der Rauchschleier zerriss – Lichter tauchten auf", "quellendes Weiß – zunehmendes Dunkel".

Bewegungen: "Qualmwirbel – wirbelnde Wogen" – eine "Qualmwolke, die ganz langsam kerzengerade in die ruhige Luft aufstieg – Nun sah er dieses quellende Weiß die Brücke überfluten". Die Schienen, die ja eigentlich starr sind, "verzweigten sich, liefen in einen Fächer auseinander, dessen metallene Stangen sich in den Bahnhofshallen verloren".

Wie Monet frequentierte auch Zola für seine Fahrten zum Wohnsitz flussabwärts regelmäßig die Gare Saint-Lazare. Für seinen Roman machte er sich vor Ort Notizen, registrierte die Lichteffekte und hob als besonderes Charakteristikum "les fumées" hervor. Er brauchte Monets Vorlagen also nicht. Trotzdem fällt es uns schwer anzunehmen, der literarische Entdecker des Bahnhofs habe sich nicht vom malerischen inspirieren lassen – in der Topographie und erst recht in der Lichtregie.

Zola kannte Monet persönlich, war von Manet portraitiert worden und hatte 1886 einen Impressionisten zum Helden seines Romans "L'Oeuvre" gemacht. Als Journalist und Kunstkritiker hatte er die Impressionisten gegen Anfeindungen verteidigt. Im Jahr 1880 notierte Zola: "In der freien Natur ( en plein air) ist das Licht nicht mehr einheitlich, und mannigfache Einflüsse vervielfältigen und verändern dann radikal das Aussehen der Dinge und der Lebewesen. Diese Erkundung des Lichts in dessen Tausenden von De- und Rekompositionen ist das, was man mehr oder weniger unzutreffend als Impressionismus bezeichnet hat, weil ein Bild nunmehr zu einem Augenblickseindruck (impression d'un moment) wird, wie man ihn vor der Natur empfindet."

Von dieser Natur hatte Zola schon 1877 gesagt, der Impressionismus untersuche sie nicht in ihren Details, sondern in ihrer Gesamtheit; auf hundert Schritt Entfernung erkenne man von einer Person weder Augen noch Nase. Zola hat den Impressionismus hier also regelrecht definiert. Im selben Jahr konnte er tatsächlich den Bahnhofszyklus von Monet in Augenschein nehmen, und wie uns fiel ihm dasselbe auf, "das Überschäumen des Qualms". Und wenn Zola die Künstler zur Entdeckung der "Poésie des gares" auffordert, dann dürfte er das auch an die eigene Adresse gerichtet haben.

Vieles spricht also dafür, dass Zola sich von den Bahnhofsgemälden hat beeinflussen lassen und sein Blick für das Malerische jedweden Sujets durch die Impressionisten sensibilisiert wurde. "Man sah", "nun sah er", "aufblickend gewahrte er" – immer wieder wird am Romananfang die optische Wahrnehmung hervorgehoben. Und wenn es etwa heißt, das Auge tauche in etwas hinein, dann darf man sich an den nach unten gleitenden Blick erinnern, mit dem die Impressionisten von einem Balkon aus das Treiben auf den Boulevards zu erfassen versuchten.

Inspiration, Sensibilisierung, Einfluss: Unsere Wortwahl könnte den Eindruck erwecken, als habe der Schriftsteller gegenüber dem Maler in einem Abhängigkeitsverhältnis gestanden. Dazu kommt es aber nur, wenn schon eine entsprechende Disposition vorliegt. In Zolas Fall ist sie durch den Sensualismus bedingt, die Basis seines Empirismus. Es muss dem Schriftsteller so vorgekommen sein, als hätten die Maler intuitiv erfasst, was er sich intellektuell erarbeitet hat. Die Maler waren für den Schriftsteller dann nur Katalysatoren, die mithalfen, seine Theorie auch literarisch umzusetzen. Jenseits von Einfluss und Abhängigkeit scheint hier wie dort derselbe Zeitgeist gewirkt zu haben.

Schon den Altersgenossen war das aufgefallen, beispielsweise einem Literaturkritiker, der schon im Jahr 1879 einen "Impressionisme littéraire" diagnostizierte. Er konnte sich dabei auf Zola berufen, der von sich behauptet hatte, er habe die Impressionisten nicht nur unterstützt, sondern sie in Literatur übersetzt. Diese Übersetzung wäre unvollständig geblieben, hätte Zola von Monet nur den Ausschnitt und die Lichteffekte der Gare Saint-Lazare übernommen – also die Gegenstände – und nicht auch die malerische Sehweise nachvollzogen, mit genuin sprachlichen Mitteln, wie das Debussy mit musikalischen Mitteln tun sollte. In der Tat hat sich Zola – das ist das eigentlich Interessante – in einem Stil versucht, den man impressionistisch zu nennen pflegt. Eigentümlichkeiten dieses Stils, den es gewiss auch schon vorher gab, sind in "La Bête humaine" etwa die folgenden:

Gestus des Zeigens: "Dieses quellende Weiß, dieser Schattensee, dieses Strahlengestiebe".

Nennung der (optischen) Wirkung und nicht der Ursache: "Grüne Lichter waren angegangen, ein paar Laternen tanzten in Bodenhöhe" (Lichter gingen damals aber noch nicht von alleine an, sie wurden angezündet, und Laternen tanzten nicht selber, sie folgten der Bewegung ihrer Träger).

Nennung der Wirkung vor der Ursache: "Eine starke weiße Helligkeit war da, die Laterne der Lokomotive des Zuges nach Dieppe" (Zunächst wird also das Licht genannt und erst dann die Lichtquelle. Die ist zunächst nur eine Laterne, dann diejenige einer Lok und schließlich einer bestimmten, nämlich des Zugs nach Dieppe).

Nennung der Erscheinung vor dem Erscheinenden: "Das war (...) wirr mit undurchdringlichen Massen bestückt, den einsamen Lokomotiven und Wagen" (Zunächst herrscht bloßes Durcheinander, dann zeichnen sich schwarze Massen ab, und schließlich lassen sich diese als Zugteile identifizieren).

Nennung der Handlung vor dem Handlungsträger: "Eine dicke Wolke (...), durch die große schwarze Schwaden zogen" (Worauf es ankommt, verrät hier erst das Original: "Une nuée, dans laquelle passaient de grandes fumées noires" Zunächst sieht man nur eine Bewegung und erst dann, was sich da bewegt. Der getreuen Wiedergabe dieses Wahrnehmungsvorgangs wird sogar die französische Wortstellung – erst das Subjekt, dann das Prädikat – geopfert).

Zumeist geht Zola also vom ersten Eindruck aus, von etwas, was bei einer bloßen Sachinformation überflüssig wäre. Die Mehrzahl der Beispiele zeichnet einen kognitiven Prozess nach, der mit der sinnlichen Wahrnehmung beginnt und mit dem intellektuellen Erkennen und Wiedererkennen endet. Wenn hier ein Unterschied zwischen Zola und Monet bestehen bleibt, so ist es der Unterschied zwischen den Medien: Die Etappen eines kognitiven Prozesses können vom Schriftsteller in ein zeitliches Nacheinander, vom Maler nur in ein räumliches Nebeneinander gebracht werden. Dort Sukzessivität, hier Simultaneität. Wenn auch die Malerei ein zeitliches Nacheinander kennt, dann nur in ihrer Betrachtung. Von der Produktion wird es in die Rezeption verlagert. Der Unterschied zwischen Monet und Zola ist aber nicht nur medienspezifisch, er ist auch text- und autorenspezifisch. Wo es der eine bei Andeutung und Umrisshaftigkeit belässt, treibt der andere das Erkennen und Wiedererkennen sehr weit: Dass der Zug unseres dritten Beispiels nach Dieppe fährt, ist der Lokomotive nicht anzusehen – das muss man wissen. Es ist der textinterne Betrachter, der das weiß, der Eisenbahner mit dem Fahrplan im Kopf. Zola notiert eben nicht bloß Augenblickseindrücke, er erzählt eine Geschichte, und da müssen Gegenstände und Träger der Handlung identifizierbar sein. Dass der besagte Zug nach Dieppe fährt, ist allerdings völlig handlungsirrelevant. Die narrative Notwendigkeit wird hier vom positivistischen Exaktheitsideal des Autors überrundet. Dieses wird durch die Fachterminologie regelrecht zur Schau gestellt – durch "Rangierlok, Zylinderventil, Regler, Volldampf, Drehscheibe, Stellwerk" – sowie durch manche Anglizismen, die erst im 19. Jahrhundert mit den Sachen selbst von der führenden Industrienation entlehnt worden waren: "rail, wagon, tender, tunnel". Kein Wunder, dass Zola schon 1880 am Impressionismus die bloße Skizzenhaftigkeit beanstandete.

Wie erinnerlich, hat Zola sich an der Wissenschaft der 60er Jahre, seiner Jugend, orientiert. Um 1890, der Entstehungszeit der "Bête humaine", kam aber manch bisherige Gewissheit abhanden. So wurde die Materie entmaterialisiert: Sie setzte sich jetzt aus unzähligen winzigen Atomen zusammen, die ihrerseits aus noch winzigeren und zudem beweglichen Elektronen bestanden. Die Materie war nur noch eine Seinsweise der Energie und in andere Seinsweisen wie Wärme, Licht, Elektrizität überführbar. Sie verlor also ihre konstitutive Stabilität und sogar ihre Autonomie. Gleichzeitig entwickelte Bergson seine Bewusstseinsphilosophie: Die wahre Natur, in permanentem Wandel begriffen, ist nur intuitiv zugänglich, über die "données immédiates de la conscience" – so ein bekannter Buchtitel – und nicht über die lebenspraktischen Konstrukte unseres Intellekts. Mehr als Zola scheint also Monet dem wissenschaftlichen Denken der Zeit entsprochen und es sogar antizipiert zu haben. Dabei hatte der frühe Impressionismus noch keine Theorie entwickelt und noch keinen Kontakt mit der Naturwissenschaft gesucht. Das Einzige, was es handfest an Gemeinsamkeit gab, waren Unmittelbarkeit und Unvoreingenommenheit der Beobachtung.

Indes, durchaus im impressionistischen Sinne hat der Schriftsteller noch einen anderen medialen Unterschied zu bewältigen versucht: Die Malerei liefert den optischen Eindruck ganz unmittelbar, die Sprache hingegen nur mittelbar, über unser Vorstellungsvermögen. Es gibt aber auch andere sinnliche Reize, die akustischen Reize etwa, die die Malerei lediglich mittelbar, die Sprache aber, weil selbst akustisch, unmittelbar wiedergeben kann. Zola profitiert hiervon, er benennt die Bahnhofsgeräusche nicht nur bei jeder Gelegenheit, er reproduziert sie auch:

"Les coups de sifflet, les sons de trompes" ("Die Stöße der Pfeife, die Töne der Signalhörner").

"des respirations géantes, haletantes de fièvre, des coups de sifflet pareils à des cris aigus" ("gewaltige, fieberkeuchende Atemzüge, Pfiffe gleich gellenden Schreien").

Zweiertakt, Kontrast der Vokale, Stimmlosigkeit der Konsonanten, Lautwiederholungen, sogar Reime – wir hören das Stampfen, Fauchen, Tuten und Schrillen. Zola wählt die Wörter eben so aus, dass sie klanglich wiedergeben, was sie inhaltlich aussagen. Dem vorhandenen Wortmaterial verpflichtet, folgt er dabei der traditionellen, schon aus antiker Dichtung und Rhetorik bekannten Lautmalerei beziehungsweise Onomatopoie. Er verzichtet auf Wortneuschöpfungen, die eine noch authentischere Wiedergabe ermöglicht hätten, auf Wortneuschöpfungen, wie sie dem Betrachter in Großbuchstaben aus den Panels der Comics entgegenspringen: "BUMM! – PAFF! – CHINNG". Insofern kann man bei Zola nicht uneingeschränkt von einem akustischen Impressionismus sprechen. Bemerkenswert ist aber, dass man anlässlich eines Romans und nicht bloß eines Gedichts überhaupt von ihm sprechen kann.

Damit zurück zum optischen Impressionismus und speziell zu den Farben. Denn hier tut sich ein weiterer, wiederum individueller Unterschied zwischen Monet und Zola auf. Beim einen herrscht das Blau vor. Beim anderen dominieren Schwarz, Weiß und Rot. Zum Teil mag das daher rühren, dass auf den Gemälden die Tageszeit indifferent ist, der Romananfang aber nachmittags und abends spielt. Indes, neben dem optischen Wert besitzen Farben, meist von der jeweiligen Kultur festgelegt, auch einen Symbolwert. Ob der tatsächlich auch abgerufen wird, verrät die Literatur explizit, über den sprachlichen Kontext, die Malerei nur implizit, über Sujet, Stimmung und Gestaltung. Nicht nur das Rot des Signals, auch Schwarz und sogar Weiß bedeuten bei Zola Gefahr, Bedrohung, eine tödliche Bedrohung: "Wie ein ausgebreitetes gespenstisches Leichentuch stieg eine Wetterwolke empor" – "Von dem ganzen Zug waren nur, blutig wie offene Wunden, die drei Schlusslichter zu sehen, dieses rote Dreieck. Einige Sekunden konnte man ihn noch im schwarzen Schauer der Nacht verfolgen". Diese Farbsymbolik, reichlich konventionell, ist allgegenwärtig und wird gegen Ende des Kapitels überdeutlich. Wir haben es zwar mit Beschreibungen zu tun, aber mit Beschreibungen im Dienste einer Romanhandlung: Die Symbolik intensiviert sich erst, als Roubaud, der Eisenbahner, erfahren hat, dass seine Frau in ihrer Jugend von ihrem Vormund missbraucht worden ist, und als er beschließt, den Rivalen auf der bevorstehenden Zugfahrt mit einem Messer zu töten. Erst jetzt bekommt auch sein Name einen Sinn: Dessen vorderer Teil erinnert an "roux", "rot", wie die Farbe seiner Haare. Sein Vorhaben läutet das Thema des gesamten Romans ein, den Mordtrieb, der fast alle befällt, der also nicht mehr ein individualgenetisches, sondern – siehe Titel – ein phylogenetisches Erbe ist. Entsprechend folgerichtig, ja unerbittlich läuft die weitere Handlung ab. Zola treibt den von Balzac inaugurierten Romantypus damit auf die Spitze.

Mit seiner Symbolik wollte er möglicherweise nur ein poetisches Gegengewicht zu seiner wissenschaftlichen Nüchternheit schaffen. Eine solche Poetisierung würde die Konventionalität seiner Romankonzeption bestätigen. Wie dem auch sei, die Symbolik ist folgenreich. In "La Bête humain" hat sie gleich mehrere Funktionen, sie skizziert den Charakter einer Figur, sie reflektiert deren Verfassung, und sie weist voraus. Bedingung hierfür ist die Entsprechung von Wesen und Erscheinung, innerer und äußerer Stimmung, Gegenwart und Zukunft. Der Mensch lebt also in einer Ordnung, gewiss einer negativen Ordnung, aber doch einer Ordnung. Es gibt auch eine Ordnungsmacht. Sie gleicht mehr dem antiken Schicksal als der naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit. Bei Zola herrscht also noch nicht die "prästabilierte Disharmonie", die Hugo Friedrich bei Flaubert ausmacht, und die "transzendentale Obdachlosigkeit", die Georg Lukács dem Romanhelden schlechthin bescheinigt, ist noch nicht so weit fortgeschritten. In der Malerei Monets weisen die Farben nicht über sich hinaus. Ansonsten waltet auch hier durchaus eine Ordnung. Dem Bahnhofsbild (Seite 35) gibt das Dreieck des Dachs – geradezu der Giebel eines antiken Tempels – ein hohes Maß an Symmetrie. Und auf dem Brückenbild (Seite 34) schneiden sich alle Diagonalen in der von den Pfeilern markierten Mittelsenkrechten. Die Konvention eines solchen Bildaufbaus kontrastiert mit der Innovation des Rests.

Unser Fazit: Zola und Monet kommen sich in der Gare Saint-Lazare sehr nahe. Das zeigt nicht nur die Objektauswahl, sondern auch der Stil und – wie gerade beschrieben – der Gegensatz zwischen Stil und Struktur. Die Differenzen wiegen demgegenüber nicht schwer. Sie sind vermeidbar oder unvermeidbar, das heißt akzidentell oder essentiell, und berühren damit das grundsätzliche Verhältnis von Literatur und Malerei. Zu den medienspezifischen und damit unvermeidbaren Abweichungen der einen von der anderen gehört die Mittelbarkeit des optischen Eindrucks. Zola versucht allerdings, sie durch die Unmittelbarkeit des akustischen Eindrucks zu kompensieren. Auch dass in der Literatur nicht simultan, sondern sukzessiv perzipiert wird, ergibt sich aus dem Medium und ist unumgänglich. Dass die Identifikation des Perzipierten sehr weit getrieben wird, folgt aber aus den spezifischen Bedürfnissen des gewählten Romantyps. Hinzu kommt der individuelle, wissenschaftliche Anspruch des Autors. Einen weiteren, ebenfalls akzidentellen Unterschied liefert Zolas Farbsymbolik und die von ihr transportierte Ganzheitsvision nebst deren Pessimismus. Die verbleibende Nähe zu Monet erwächst weder aus bloßer Koinzidenz noch aus bloßer Abhängigkeit, sondern aus produktiver Anverwandlung. Dass hier einmal die Literatur der Malerei nacheifert und nicht umgekehrt, ist ein Sonderfall. Gewiss gab es im 19. Jahrhundert die so genannte "transposition de l'art"; sie wurde aber mehr in der Lyrik gepflegt als im Roman. Wo sich die Wege trennen, kommt es zu dem Paradox, dass der wissenschaftlich ambitionierte Zola dem zeitgenössischen Wissenschaftsverständnis ferner zu stehen scheint als der unwissenschaftliche Monet. Der Zeitgeist ist also nicht so homogen wie anfänglich angenommen. Auch hier gilt das Wort von der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.

Autor:
Prof. Dr. Arnold Rothe
Neuphilologische Fakultät, Bergheimer Straße 129, 69115 Heidelberg
Telefon (0 62 21) 2 97 29, e-mail: arnold.rothe@urz.uni-heidelberg.de

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