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Meinungen

Arzneimitteltherapie im Alter: Ungenutzte Chancen

Prof. Martin Wehling, Direktor des Instituts für Pharmakologie, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, äußert sich zu den Chancen und Risiken der Gerontopharmakologie.

Prof. Martin Wehling, Direktor des Instituts für Pharmakologie, Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, äußert sich zu den Chancen und Risiken der Gerontopharmakologie.

In den Industrienationen sind alte Menschen die am stärksten anwachsende Bevölkerungsgruppe. Alte Menschen leiden häufig an chronischen Krankheiten, die oft der Grund für eine lebensbegleitende Arzneimitteltherapie sind. Jeder über 60-Jährige wird in Deutschland durchschnittlich mit drei Arzneimitteln dauerhaft therapiert. Menschen, die älter als 60 Jahre alt sind, machen 22 Prozent der Bevölkerung aus – verbrauchen aber 54 Prozent der Arzneimittel und sind damit um den Faktor 2,4 überrepräsentiert. Insgesamt werden in Deutschland alljährlich Arzneimittel im Wert von nahezu 20 Milliarden Euro verkauft. Diese Zahlen zeigen zweierlei: Die große Bedeutung der Arzneimitteltherapie allgemein – und die Zuspitzung der Probleme im Alter.

Eines dieser Probleme ist, dass unerwünschte Nebenwirkungen im Alter häufiger auftreten. Dazu kommt es, weil eine Fülle von altersbedingten Faktoren netzwerkartig ineinander greifen, etwa Organfunktionsstörungen, Polypharmazie oder mangelnde Therapietreue der Patienten. Von Arzneimitteln ausgelöste Symptome sind ein häufiger – wenn nicht sogar der häufigste Grund – für Krankenhauseinweisungen in der Geriatrie. Problematisch ist, dass diese arzneimittelinduzierten Symptome als neue Erkrankungen fehlinterpretiert und zu einer Ausweitung der Medikation führen können.

Eine Reihe von Medikamenten wird zur Anwendung beim alten Patienten als ungeeignet beurteilt beziehungsweise erfordern besondere Vorsicht. Dazu zählen beispielsweise langwirksame Benzodiazepine und bestimmte Antidepressiva. Empfehlungen zur Anwendung von Arzneimitteln bei alten Menschen können im praktischen Alltag eine Entscheidungshilfe sein. Grundsätzlich beruhen aber Einschränkungen in der geriatrischen Arzneimitteltherapie nicht a priori auf dem Alter, sondern vor allem auf begleitenden Umständen wie veränderte Organfunktion, Morbidität oder Therapietreue. Wenn Zahlen genannt werden, nach denen in Deutschland jährlich bis zu 20 000 Patienten "an Pharmaka" sterben, sieben Prozent aller Todesfälle in mehr oder weniger kausalem Zusammenhang mit der Einnahme von Medikamenten stehen und bis zu 25 Prozent aller Krankenhausaufnahmen von Arzneimittelnebenwirkungen zumindest mitverursacht sind, dann zeigt dies die Komplexität der Anwendung mit ihren unerfreulichen Folgen.

Viele der Nebenwirkungen – bis zu 50 Prozent – wären vermeidbar. Die vermutlich wirksamste Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, ist die Aus-, Weiter- und Fortbildung von Ärzten. Doch genau daran mangelt es. Nach eigenen Schätzungen macht die pharmakotherapeutische Ausbildung im Curriculum des Medizinstudiums nur sechs bis zehn Prozent aus. Das ist eine massive Mangelversorgung.

Ein therapeutischer Nihilismus, den derart negative Darstellungen entstehen lassen könnten, ist indes völlig unberechtigt: Die mit modernen Arzneimitteln erreichbaren Erfolge waren noch nie so groß und eindrucksvoll, so gut belegt und vielseitig wie heute. Nichtsdestotrotz erschüttern immer wieder tragische Vorkommnisse das Vertrauen in die Sicherheit von Arzneimitteln: So wurde unlängst für ein cholesterinsenkendes Medikament, ein so genanntes Statin, eine Häufung von gravierenden, teilweise tödlichen Nebenwirkungen beschrieben. Daraufhin wurde der Einsatz von anderen, langjährig an vielen Millionen Patienten bewährten Statinen gerügt. Eine Verunsicherung der Ärzte und Patienten war die Folge. In der emotional geführten Diskussion wurde allerdings übersehen, welche großen Fortschritte mit der Einführung dieser Substanzgruppe in die cholesterinsenkende Therapie erzielt worden waren – besonders für geriatrische Patienten. Eine einfache Zahlenabschätzung zeigt, dass diese Substanzen höchstens bei 1:100 000 Behandlungsjahren eine tödliche Nebenwirkung auslösen, wahrscheinlich nur in einer Frequenz von 1:1 Million. Eine große Studie zeigte, dass genau mit dieser Therapie in der Sekundärprävention – also nach Herzinfarkt oder bei sicheren Zeichen einer koronaren Herzerkrankung – auf 100 000 Behandlungsjahre 700 Patientenleben zu retten sind. Eine derartig günstige Risiko-Nutzen-Relation kann sonst fast keine Intervention der gesamten Medizin aufweisen – nicht einmal eine einfache Blinddarmoperation.

Bei konsequenter Anwendung dieser Erkenntnisse könnten in Deutschland 100 000 Todesfälle pro Jahr verhindert werden. Die Umsetzung von Empfehlungen auf der Basis solider Daten findet jedoch leider gerade bei alten Patienten nicht statt. Wie eine eigene Studie ergab, war der Zielwert der cholesterinsenkenden Therapie bei schon bestehender koronarer Herzkrankheit lediglich bei vier Prozent der Patienten erreicht – die Mehrzahl der Patienten nahm am medizinischen Fortschritt nicht oder nur teilweise teil. Ähnlich bedenklich stimmende Zahlen gibt es für die Umsetzung von Therapieempfehlungen oder Leitlinien für alle häufigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und den Diabetes mellitus. Die Särge nichtgeretteter Patienten könnte man auf eine Länge von über 200 Kilometern aneinander reihen. Dies entspricht der Strecke von Frankfurt nach Düsseldorf.

Dass es notwendig ist, einen der größten Versorgungsskandale in derart drastischer Weise zu verdeutlichen, ist ein beklemmender Ausdruck für die Sprachlosigkeit, die Ignoranz oder einfach die Hilflosigkeit der verantwortlichen Stellen. Denn ohne dieses krasse Veranschaulichen scheint der für eine Veränderung erforderliche Druck nicht zu entstehen. Nur stete Aufklärungsarbeit, Appelle an alle beteiligten Personen – vor allem an die Politiker – aber auch an die Patienten, ihre Rechte einzufordern, können hier etwas bewirken.

Dass dies Geld kostet, ist sicher ein großes Problem. Es sollte jedoch möglich sein, vorhandene Mittel für diesen ethischen Zweck umzuverteilen. Viel Geld ließe sich beispielsweise einsparen und für bessere Zwecke verwenden, verzichtete man auf die vielen unwirksamen, aber nebenwirkungsträchtigen Medikamente. Noch größer ist das Einsparpotenzial, reduzierte man gerade die im Herz-Kreislaufbereich oft überbordende Diagnostik. In unserem Gesundheitssystem werden etwa 80 Prozent der zur Verfügung stehenden Gelder für die Diagnose von Erkrankungen und nur 20 Prozent für die Therapie ausgegeben. Letztere ist aber der eigentliche Grund, das System in Anspruch zu nehmen. Hier ist ein Umdenken dringend erforderlich. Die Arzneimitteltherapie des älteren Patienten ist sicher eine Herausforderung. Bei beherrschbaren Risiken bietet sie aber große Chancen für ein nicht nur längeres, sondern auch ein aktives, von Krankheiten unbeschwertes Leben. Diese Chancen bleiben leider oft ungenutzt.

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