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Rituale des Rausches

Zuschauen, offen sein für die Weltsicht der Studienteilnehmer, Theorien vorläufig zurückstellen – das prägt die Haltung der Wissenschaftler, die sich im neuen Sonderforschungsbereich "Ritualdynamik" mit dem Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen beschäftigen. Henrik Jungaberle und Rolf Verres beschreiben das ambitionierte Projekt, dessen zentrale Frage ist: Welche Bedeutung haben Rituale für den kontrollierten Gebrauch psychoaktiver Substanzen? Eine andere Frage lautet: Welche Faktoren sind entscheidend dafür, dass Drogenkonsum manche Menschen in Verelendung führt, während andere beim Genuss- oder Gelegenheitskonsum bleiben? Die vielschichtigen Untersuchungen dienen dazu, neue Präventionsstrategien zu finden, – die desto viel versprechender sind, je weniger die Gesellschaft Rauscherlebnisse ausgrenzt, sondern kultiviert.

Ein Wettbewerb der Medizinischen Fakultät Heidelberg, ausgeschrieben im Jahr 1827, war der Anlass. Ein Jahr darauf hatten die beiden Heidelberger Studenten Ludwig Reimann und Wilhelm Posselt erstmals den Wirkstoff Nikotin isoliert. Die Tabakpflanzen, die sie dazu benötigten, stammten von kurpfälzischen Feldern, wo sie im milden Klima reichhaltig wuchsen. Die Isolierung des Tabaks war nicht das erste Ergebnis Heidelberger Drogenforschung. Und es sollte auch nicht das letzte bleiben.

Die Kulturgeschichte des Tabaks ist typisch für die Kulturgeschichte vieler psychoaktiver Substanzen: Sie reicht vom ritualisiert eingenommenen Sakrament bis hin zur weitgehend automatisierten Genusshandlung mit Risiken und Nebenwirkungen. Noch heute gilt der Tabak einigen Völkern des Amazonas als Religions- und Arzneipflanze; im Laufe der Zeit wurde sie jedoch zunehmend zu einem Ökonomie- und Finanzrohstoff. Während die erstgenannten Eigenschaften in unserer Gesellschaft keine Rolle spielen, trägt das staatliche Interesse an den jährlichen 12,1 Milliarden Euro Einnahmen an Tabaksteuer in Deutschland erheblich dazu bei, die damit verbundenen sozialen und medizinischen Probleme – rund 111 000 tabakbedingte Todesfälle pro Jahr – aufrecht zu erhalten.

Die Geschichte der Heidelberger Drogenforschung setzte sich nach Reimann und Posselt in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit Wissenschaftlern wie Willy Mayer-Gross und Kurt Beringer fort. Sie begannen "sublime Untersuchungen" mit Kokain, Tee, Kaffee, Morphium und Meskalin. Der Meskalinrausch galt Beringer als Mittel, um pathologische Bewusstseinphänomene zu analysieren. Sogar sinnesphysiologische und psychologische Experimente mit Banisterin wurden damals bereits durchgeführt, einem Bestandteil des Amazonas-Halluzinogens Ayahuasca. Dessen Gebrauch zählt auch zu den Themen der seit Sommer 2002 in der Heidelberger Medizinpsychologie laufenden Studie zur "Ritualdynamik und Salutogenese beim Gebrauch und Missbrauch psychoaktiver Substanzen" (RISA-Studie).

Neben den Laboruntersuchungen psychoaktiver Substanzen sind solche Disziplinen besonders interessant, die den sozialen und kulturellen Raum erforschen, in dem sich Drogenkonsum abspielt. Auch die politischen und juristischen Rahmenbedingungen des Drogenkonsums gehören zum Umfeld der Präventivmedizin.

Aus medizinischer Sicht ist die in die Jahre gekommene Kampagne "Keine Macht den Drogen" nicht wegen ihrer oft thematisierten Doppelmoral zu kritisieren, sondern wegen ihrer eingeschränkten präventiven Wirksamkeit. Dennoch offenbart der Sinnspruch deutlich das tiefere Ziel jeder Schulung im Umgang mit psychoaktiven Substanzen: die persönliche Steuerungskompetenz nicht an eine pharmakologische Substanz zu verlieren.

Neben dem Drogenelend existiert eine Kultur des Rausches. Millionen von Menschen konsumieren berauschende Substanzen, erhoffen sich davon positive Effekte und haben sie vielfach auch erfahren. Dass diese Hoffnung für viele in noch größere Lebensschwierigkeiten und medizinische Probleme führt, hält die meisten Menschen nicht davon ab, mit Hilfe pflanzlicher oder pharmakologischer Stimuli Rausch, Ekstase und Betäubung zu suchen – aber auch "Bewusstseinserweiterung", Erkenntnis und religiöse Erfahrung.

Die Motive und Verläufe des Drogenkonsums von Jugendlichen und Erwachsenen sind heute vielfältiger als in den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Auch die Unterschiede der unter dem Stichwort "Droge" behandelten Substanzgruppen sind enorm, ein Umstand, dem die öffentliche und ein Teil der wissenschaftlichen Debatte noch nicht gerecht wird.

Man mag sich fragen, was nun Rituale mit diesem Thema zu tun haben. Unter welchen Umständen kann Drogenkonsum als Ritual betrachtet werden? Der im Sommer 2002 in Heidelberg eingerichtete Sonderforschungsbereich 619 "Ritualdynamik – soziokulturelle und historische Prozesse im Kulturvergleich" will Rituale in so verschiedenen Lebenswelten wie der griechischen Antike, bei taiwanesischen Ureinwohnergruppen oder im Internet erforschen. Als medizinisch-psychologisches Projekt will unsere Studie die Gebrauchsmuster von Drogen prospektiv beschreiben. Neben einer kulturwissenschaftlichen Zielsetzung sollen dabei auch die Sozialtechniken beim Umgang mit psychoaktiven Substanzen hinsichtlich ihrer Gefahren oder eines möglichen kontrollierten Umgangs mit Drogen beurteilt werden. Es geht darum, Grundlagen zu erweitern, um die Suchtprävention zu verbessern. Als Droge gilt uns dabei jede Substanz, die eine wahrnehmungs- und erlebensverändernde Wirkung hat.

Wissenschaftlich macht es keinen Sinn, zwischen legalen und illegalen Drogen zu unterscheiden. Die epidemiologischen Daten weisen Alkohol und Nikotin noch immer als die gesellschaftlich relevantesten und für den Steuerzahler teuersten Substanzen aus. Sie sind neben Medikamenten die verbreitetsten Einstiegsdrogen. So wurden für das Jahr 2000 bundesweit rund 42 000 Tote im Zusammenhang mit Alkoholmissbrauch verzeichnet. Dieser Zahl stehen 1 835 Menschen gegenüber, deren Tod auf illegale Substanzen zurückgeführt wird – ein Großteil dieser Todesfälle wiederum geht auf Kosten des Opiatmissbrauchs. So genannte illegale psychoaktive Substanzen konsumieren regelmäßig etwa drei Millionen Menschen- die Dunkelziffer ist uneinschätzbar hoch. Allein Ecstasy haben etwa vier Millionen Deutsche mindestens einmal in ihrem Leben konsumiert.

Diese Menschen tauchen weder alle in psychiatrischen Kliniken auf, noch ist für alle ein Behandlungsbedarf zu vermuten. Statt viele Gesunde infolge unserer diagnostischen Routinen allmählich in Kranke umzuwandeln, wäre es wohl nützlicher, bei jenen zur Ausbildung weniger schädlicher Gebrauchsstrukturen beizutragen, die von Abstinenz nicht zu überzeugen sind. Die psychologisch interessante Kernfrage lautet: Was suchen Menschen, die psychoaktive Substanzen einnehmen, und wie lässt sich ein Unterschied zwischen Erfüllung und Ersatzbefriedigung definieren?

Wissenschaftliche Strategien bietet die so genannte salutogenetische Forschung. Deren Augenmerk gilt sowohl genetischen als auch in der Lerngeschichte des Einzelnen ausgebildeten Ressourcen und Kompetenzen, die Menschen befähigen, mit Risiken möglichst bewusst umzugehen und Selbstschädigung zu vermeiden. Eine zentrale Frage lautet: Warum führt Drogenkonsum manche Menschen in persönliche und soziale Verelendung, während andere Gelegenheitskonsumenten bleiben oder Phasen missbräuchlichen Verhaltens selbstständig überwinden, um zu Abstinenz oder Feierkonsum zurückzukehren?

Aus medizinischer Sicht ist es sehr aufschlussreich, sich sowohl den individuellen Lebenskompetenzen als auch den Unterschieden in den "sozialen Technologien" zuzuwenden, die etwa zwischen dem Konsum von Alkohol und der Partydroge Ecstasy hervorstechen. Dies führt zu Kriterien, um kontrollierte, riskante, missbräuchliche und abhängige Gebrauchsmuster besser voneinander abzugrenzen.

Rituale werden in der Studie nicht als archaische, irrationale und vorwissenschaftliche Phänomene betrachtet, sondern als soziale Techniken, mit denen sich Menschen eine gemeinsame Wert- und Zielwelt zugänglich und gegenwärtig machen.

Über Körpersprache, soziale Dramaturgie und Symbolik vermittelt sich in Ritualen ein gegenseitiges Verständnis für Regeln, Normen, Kerngeschichten und Deutungen. Rituale sind soziale Räume, die mehr oder weniger dynamisch oder stabilisierend für die Identität Einzelner und von Gruppen sind. Dies gilt für eine christliche Eucharistiefeier ebenso wie für substanzbezogene Rituale, in denen Menschen Rausch und Ekstase oder auch nur Heiterkeit miteinander teilen wollen.

Abhängiger Drogenkonsum zeigt sich dabei auch als Produkt dysfunktionaler Rituale oder eben als schwach ritualisiertes Gebrauchsmuster. Die Studie untersucht in ihren sechs Forschungsfeldern einerseits "klassische" Rituale, wie sie sich etwa in jenen europäischen Gruppen zeigen, die das südamerikanische Halluzinogen Ayahuasca für Heilung und religiöse Vertiefung benutzen. Immer häufiger werden dazu auch außereuropäische Schamanen eingeladen, die Symbole, Gesten, Abläufe und Gesänge aus ihren Kulturen mit der hiesigen Lebenswelt in Einklang zu bringen versuchen. Andererseits untersuchen wir vergleichend auch die erstaunlich regel- und symbolgeleiteten "Drogenevents" von Jugendlichen, die sich einer eigenen, von außen nicht immer zugänglichen Zeichenwelt bedienen. Beispiele sind Piercings und Tattoos als "zweite Haut", eigene Musikstile, am Jahreszeitenwechsel orientierte Feste in der Natur oder in "Industrietempeln". Hier wie dort sind sehr verschiedene Normen und Normierungen, explizite Riten und ritualisierte Verhaltensweisen beobachtbar.

Kulturgeschichtlich gesehen wurden zahlreiche der heute noch gängigen psychoaktiven Substanzen in religiösen und schamanischen Riten eingesetzt: das Haschisch bei den Skythen, hochprozentiger Alkohol und Amanita muscaria (Fliegenpilze) bei einigen schamanischen Heilern Sibiriens, psilocybinhaltige Pilze in der Kultur der Azteken, Ayahuasca bei indianischen Gruppen des Amazonas und vermutlich LSD-ähnliche Mutterkornalkaloide im griechischen Demeterkult in Eleusis. Über missbräuchliche oder abhängige Gebrauchsweisen in solchen soziokulturell oft homogenen Gemeinschaften gibt es kaum Berichte.

Zahlreich sind diese jedoch in Situationen gesellschaftlichen und persönlichen Umbruchs, vor allem in der Moderne. Als Beispiel gelten die diversen Epidemien der Trunksucht im Europa der Industrialisierung, die Äther-Welle im Berlin der zwanziger Jahre und natürlich die massenhafte globale Verbreitung illegaler psychoaktiver Substanzen während der sozialen und politischen Brüche der sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Drogenpolitik und mithin die einschlägige Präventivmedizin ist noch immer ein Kind dieser zwei Jahrzehnte. Damals begann, was als "Krieg gegen die Drogen" von den Vereinigten Staaten aus in eine beispiellose globale Vereinheitlichung von Arznei- und Betäubungsmittelbestimmungen, juristischer und pädagogischer Maßnahmen mündete.

Und dennoch: Der Konsum auch illegaler psychoaktiver Substanzen ist heute auf einem Niveau, das jenes der siebziger Jahre weit überschreitet. Die Gesellschaften widersetzen sich weltweit den Bemühungen, Rauschmittel zu verknappen und zu entziehen. Vor diesem globalen Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich junge und erwachsene Menschen mit Erfindungsreichtum der Parole "Keine Macht den Drogen" entgegenstellen und stattdessen mit "Keine Nacht ohne Drogen" oder "Keine Macht den Doofen" provozieren. Gesellschaftliche Doppelmoral, die das Drogenproblem einseitig einer jüngeren Generation zuschreibt, scheint nicht zu funktionieren. Präventionskampagnen haben sich demzufolge nicht an eine Altersgruppe zu richten, sondern an alle. Die durch das alterstypische Risikoverhalten besonders gefährdeten Gruppen benötigen zusätzlich besondere Strategien. Auch die gezielte Ansprache von Männern und Frauen mit ihren verschiedenen Gebrauchsmustern hat sich als wirksam erwiesen.

Rausch und Risikoverhalten gehören zusammen und werden im letzten Jahrzehnt vom Markt durch mediale Trends bestärkt, die Risikolust im Namen von Freiheit und Abenteuer geradezu einfordern. Aber ist dies das ganze Bild? Das Lesen und Verstehen von Trends in sozialen Enklaven und an den Rändern der Gesellschaft gehört zwar mit zu einem Präventionskonzept, das bereit ist, Schadensbegrenzung – "Harm-Reduction" oder "Safer-Use" – neben das Abstinenzziel zu setzen. Darüber hinaus gilt es jedoch bis in die Lehrpläne hinein zu akzeptieren, dass viele Menschen Grenzerfahrungen und das "Außer-sich-sein" (Ek-stasis) suchen und sich durch psychologische, physiologische oder pharmakologische Techniken schon immer zugänglich gemacht haben. Hier ist für mehr Realitätsbezug und weniger Schwarzweiß-Malerei zu plädieren.

Rauscherlebnisse zu kultivieren, statt sie auszugrenzen, dürfte ein Elementarinteresse aufgeklärter Gesellschaften sein. Denn es ist langfristig nicht sehr intelligent, ungewollt stetig wiederkehrende Sequenzen drogenbezogener Protestkulturen zu fördern. Auch für die Präventivmedizin der Zukunft dürfte etwa die Substitution von Drogen durch nicht-pharmakologische Stimuli ein viel versprechendes Konzept sein. Es sei beispielhaft auf die vielfältigen Möglichkeiten der Musiktherapie verwiesen, außergewöhnliche Bewusstseinzustände auszulösen, die sich von Drogenwirkungen kaum unterscheiden.

Die Studie will nicht nur Rituale beschreiben, sondern auch Fallgeschichten, die den individuellen und gleichwohl typischen Umgang mit psychoaktiven Substanzen im Längsschnitt bis zu zehn Jahre zeigen sollen – Episoden von Krisen, Lebensumbrüchen, aber auch die Phasen gelingenden Lebens mit eingeschlossen. Dazu nutzen wir Fragebögen, Interviews, Gruppendiskussionen, teilnehmende Beobachtung und Filmaufnahmen (siehe auch: www.risa-uni-hd.de). Wir verfügen zwar über eine Fülle psychiatrischen Wissens über pathologische Verläufe, wissen jedoch noch nicht genug über kontrollierte oder nur episodisch missbräuchliche Verläufe und über das in der Regel gelingende Ausstiegs- und Übergangsverhalten von Konsumenten illegaler Drogen Mitte zwanzig. Wir wissen auch wenig über jene Konsumenten psychoaktiver Substanzen, die sich inspiriert von therapeutischen und religiösen Praktiken und fern von typischen Drogenmilieus eigene, spirituell oder durch Sinnsuche motivierte Umgangsformen schaffen. Oftmals etablieren sich diese auch durch Ritualtransfer aus traditionellen Kulturen: Außereuropäische Schamanen oder Heiler werden eingeladen und die christlichen Traditionen mystischer Welterfahrung ignoriert oder synkretistisch integriert.

Wir wissen wenig über jene funktionalen Rituale, die in kleinen und größeren Gruppen den Konsum illegaler Substanzen in ähnlicher Weise regulieren helfen, wie dies beim Alkohol überwiegend der Fall ist, beispielsweise in der Form von Toasts und der Kultivierung des Weines. Denn es wäre natürlich illusionär, die Zahl der Alkoholtoten und -abhängigen nicht neben jene Millionen Alkoholkonsumenten zu stellen, die ihren Konsum gut kontrollieren können. Dasselbe gilt für Medikamente und für viele illegale Substanzen. Schon einige Studien aus den siebziger Jahren beschreiben Rituale als werte- und regelschaffende soziale Räume, die das Gefahrenpotenzial psychoaktiver Substanzen mindern. Gehen diese Regeln und Normen verloren – man bedenke an dieser Stelle die auch in der PISA-Debatte verzeichnete, wachsende soziale Inkompetenz in unseren Schulen – so greifen Menschen in abträglicher Weise zu Sucht erzeugenden Mitteln, ohne genug darüber zu wissen.

Unsere ersten Streifzüge durch den "sozialen Dschungel" zeigen eine viel differenziertere "Drogenwelt", als dies in Berichten aus den siebziger Jahren zum Ausdruck kommt. Der Konsum illegaler Drogen darf nicht mehr schablonenhaft als Nebenprodukt sozialer Deklassierung oder als reine Protestkultur verkannt werden. Wir beobachten eine gewissermaßen emanzipierte Wildnis, die sich der rechtlichen Beschränkungen bewusst ist, sich aber auch selbstbewusst illegaler Drogen bedient. Kokainkonsum im bürgerlichen Milieu Münchens existiert ebenso selbstverständlich wie die phasenweise leistungssteigernde Selbstmedikation von Studenten oder der Konsum von Amphetaminen in Managerkreisen, durch die man sich Dauerleistung erhofft. Gerdes hatte Anfang der siebziger Jahre die "Suche nach Gegenwart" als Ausdruck eines Protestes gegen die als bedrohlich wahrgenommene marktwirtschaftliche Erwachsenenkultur verzeichnet. Heute treffen wir neben jenem Impuls gegen die "veloziferische" Beschleunigung (Goethe) und Komplexität unserer Alltagswelt also auf eine Fülle feiner Unterschiede und widersprüchlicher sozialer Praktiken.

Diese treten gelegentlich im Gewand eines Affekts gegen Wissenschaft, Theorie und Marktwirtschaft mit gegenaufklärerischem Gestus auf. Teils tragen sie das Zeichen der sozialen Selbstzerstörung – man denke nur an die hochaktuellen exzessiven Trinkrituale russlanddeutscher Einwanderer. Gelegentlich sehen wir auch das Streben nach Schnell-Erleuchtung im Gewand vereinfachter psychotherapeutischer Vorstellungen – zeitgeistig neben der schnellen Liebe, dem schnellen Geld, dem schnellen Beziehungswechsel. Zu beobachten ist aber auch die sorgfältig gestaltete, diskrete Zeremonie, von der uns Menschen berichten, dass sie zu einer nachhaltigen und fruchtbaren Persönlichkeitsentwicklung geführt habe. Unsere Haltung am Anfang der langfristig angelegten, methodenintegrativen Studie ist schlicht: Zuschauen, offen sein für die Weltsicht unserer Studienteilnehmer, Theorien vorläufig zurückstellen. Oder, um nochmals mit Goethe zu sprechen: "Theorien sind gewöhnlich Übereilungen des ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gerne los sein möchte."

Und was sucht die Medizin in diesem "sozialen Dschungel"? Sie fahndet nach funktionierenden selbstorganisierenden Prozessen, welche die Gesundheit von Menschen auch bei Grenzerfahrungen erhalten helfen. Kurz: Sie sucht nach Werkzeugen für erfolgreiche Präventionsstrategien.

Autoren:
Dr. Henrik Jungaberle und Prof. Dr. Rolf Verres,
Abteilung Medizinische Psychologie der Psychosomatischen Universitätsklinik,
Bergheimer Straße 20, 69115 Heidelberg,
Tel (0 62 21) 56 81 47
e-mail: henrik_jungaberle@med.uni-heidelberg.de
Projektinformationen:ww.risa.uni-hd.de (Sonderforschungsbereich 619 Ritualdynamik: www.ritualdynamik.uni-hd.de)

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