Siegel der Universität Heidelberg
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„Ein jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht“

21. Juli 2007

Dankesrede von Prof. Paul Kirchhof anlässlich der Verleihung der Ludwig Erhard-Medaille in der Alten Aula der Universität Heidelberg

 

Magnifizenz, verehrter, lieber Herr Hommelhoff,
Herr Ministerpräsident Oettinger,
Herr Dr. Barbier,
Herr Oberbürgermeister Dr. Würzner,
Herr Bundestagsabgeordneter Dr. Lamers,
Herr Dekan Prof. Dr. Hess,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

dieser Tag ist ein Geschenk. Wenn in der Aula der ältesten Universität Deutschlands, deren Rang, Sie, verehrter Herr Ministerpräsident, gewürdigt haben, die Ideen Ludwig Erhards gegenwärtig werden, wenn der Ministerpräsident unseres Landes Günther Oettinger über den Dreiklang von Freiheit, Maß und Bindung spricht, auch den Zusammenklang von Familie, Erziehung und Persönlichkeit bewusst macht, dem Kernproblem der Staatsverschuldung seine Abhilfevorschläge und seine Abhilfepläne gegenüberstellt und das Bahnprojekt als baden-württembergisches und europäisches Anliegen einer Strukturpolitik entwickelt; wenn der Rektor der Universität die Einheit von Forschung und Lehre, auch die Bedeutung des Einzelnen für das Gelingen dieser Universität bewusst macht; wenn viele Menschen, die uns fachlich, nachbarschaftlich und persönlich verbunden sind, heute an diesem Fest teilnehmen, so empfinde ich ein Gefühl tiefen Dankes.

Dies gilt zunächst für die Medaille, die durch einen großen Namen – Ludwig Erhard -, damit durch ein Freiheitskonzept des Wirtschaftens geprägt ist. Mein Dank gilt auch der Jury, die ihren Blick in die Wissenschaft gerichtet und dort bei einem Rechtswissenschaftler stehen geblieben ist. Ich danke Herrn Barbier für seinen – nur zu vermutenden, aber hoch angesetzten – Anstoß zu diesem Festakt wie auch für seine Begrüßung. Ich sage Ihnen, Herr Ministerpräsident, herzlichen Dank für Ihre Laudatio, die bewegt, ermutigt, verpflichtet. Manches, von dem, was Sie gesagt haben, würde ich gerne aufnehmen. Doch bewahre ich mir auch in dieser Stunde des Glücks und der Dankbarkeit soviel Lebensklugheit, dass ich weiterhin weiß, die Worte, vom Herrn Ministerpräsidenten gesprochen, verbreiten Glanz, dieselben Worte, von mir aufgenommen, würden bald verwelken. Ein gleicher Dank gilt Ihnen, Magnifizenz, der Sie in Ihrer Allgemeinverantwortlichkeit für alle Mitglieder der Universität sich heute einem Mitglied in besonderer kollegialer Freundschaft und Wertschätzung – und diese ist gegenseitig – gewidmet haben.

So beschränke ich mich darauf, vier Überlegungen dieses Vormittags aufzugreifen: Zunächst ein Wort zum Prinzip der Freiheit, sodann zum Verhältnis von Freiheit und Staatlichkeit, drittens zur ganzheitlich wahrzunehmenden Freiheit, um viertens mit drei persönlichen Bemerkungen zu schließen.

1. Unter den Augen von Pallas Athene, die auf dem Stirngemälde dieser Aula in unsere Universitätsstadt Heidelberg hineinfährt, liegt es nahe, mit den Lehren des Aristoteles über die gerechte Verteilung von Gütern und Rechten zu beginnen. Aristoteles machte diese von einer gewissen Würdigkeit abhängig, die alle Demokraten in der Freiheit sehen, die Oligarchen in Reichtum oder Abstammung, die Aristokraten in der Tugend. Stets sei aber die Eudaimonia (Glückseligkeit) auf Ehre und Ruhm angelegt und angewiesen. Sittlichkeit und Ehrgeiz veranlassten die Bürger, den Staat durch Spenden finanziell auszustatten, insbesondere das Theater und die Flotte – die wichtigsten Aufgaben des damaligen Stadtstaates – durch freiwillige Zuwendungen zu finanzieren und damit die Steuer zu erübrigen.

Dem "guten Leben" könne sich aber – so Aristoteles – nur widmen, wer weder zu arm sei, um sich plagen zu müssen; noch so reich, dass die Sorge um den Reichtum die Zeit frißt, die der Mensch zum guten Leben braucht. So ist alle Produktion auf die Lebensführung, nicht allein auf den Gelderwerb ausgerichtet.

Max Weber sieht demgegenüber das Charakteristische am "kapitalistischen Geist" in einer täglichen Erwerbsanstrengung, für die der Gelderwerb nicht ein Mittel ist, um ein möglichst sorgloses Leben zu führen, sondern die Bewährung vor Gott. Fleiß, Mäßigkeit der Lebensführung, Verlässlichkeit, Redlichkeit, sind Merkmale dieser "protestantischen Ethik". Der Erwerb von Reichtümern ist religiös erwünscht, ihr Genuss hingegen verwerflich. Dieses Verständnis führt zu stetiger Erwerbsanstrengung und gleichzeitiger Sparsamkeit im Konsum, also zur Kapitalbildung und dürfte eine derzeit sehr aktuelle Handlungsmaxime darstellen.

Ludwig Erhard betont demgegenüber, eine soziale Marktwirtschaft lasse den wirtschaftlichen Fortschritt dem Verbraucher zugute kommen. Erwerbsanstrengung und wirtschaftliche Entwicklung sollten sich nicht in höheren Gewinnen, Renten und Pfründen sich niederschlagen, vielmehr seien alle Erfolge an den Konsumenten weiterzugeben. So entsteht "Wohlstand für alle".

Diese Verbraucherverantwortlichkeit kommt der gegenwärtigen Vorstellung von Erwerbsfreiheit und Chancengleichheit sehr entgegen. Allerdings müssen wir diese Freiheit gegenwärtig neu erringen, wenn das Wirtschaftsleben nicht mehr in einem Tausch mit Ware sich ereignet, sondern auf einem Kapitalmarkt, in dem der Mehrwert aus der Entwicklung eines Wertgewinns oder Wertverlusts flüchtig wechselnder Finanz- und Industriebeteiligung erwächst; in dem der Kapitalgeber überhaupt nicht mehr weiß, aus welchen Geschäften seine Rendite erzielt wird, ob seine Kapitalmacht für den Bau eines Krankenhauses oder für die Führung eines Krieges eingesetzt wird; in dem staatliche Unternehmensbeteiligungen den Zugriff mächtiger ausländischer Staatskonzerne auf deutsche Schlüsselindustrien vorbereiten.

Für die fast menschenlose Fabrik, in der nur noch der Computer und der Roboter produzieren, Arbeitnehmer aber kaum noch beteiligt sind, stellt sich die Frage, ob der Kapitalgeber den ganzen Gewinn dieser Fabrikation in Anspruch nehmen darf, so dass die Produkte kaum mehr einen Käufer finden. Wir stehen an einem Wendepunkt, wie ihn Gerhard Hauptmann in "Die Weber" beschrieben hat: "Ein jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht".

Freiheit und Wettbewerb müssen neu errungen werden, wenn die Herrschaft eines Eigentümers über die letzte Meile beim Telefon, über Stromnetze oder Schienen den Marktzugang bestimmt, der Staat deshalb von der Kartellaufsicht zur Regulierung übergeht; wenn die Umweltzerstörung und die Ausgrenzung von produktionsbedingten Umweltlasten aus der betrieblichen Kostenrechnung als Marktversagen verstanden und bei dem G8-Gipfel behandelt worden ist; wenn steuerprivilegierende Staaten als Steueroasen verstanden werden, die Staaten mit Normalsteuer und Normalsteuerzahler also als Wüsten gelten müssen; wenn das gegenwärtige Steuerrecht im Kampf zwischen Kapital und Köpfen einen schonenden Ausgleich, der bisher ein Standortvorteil für Deutschland war, aufs Spiel zu setzen droht.

Auch müssen wir die Frage stellen, ob wir den Appell Ludwig Erhards für eine Kultur des Maßes aufnehmen oder ob wir den Weg der Finanzverfassungsreform 1967/69 nach der Zeit Erhards gehen wollen, die den Staatshaushalt als Instrument der Konjunktursteuerung einsetzen will, außerdem behauptet hat, die Staatsverschuldung finanziere sich selbst.

2. Wenn wird damit nach dem Verhältnis von Freiheit und Staat fragen, halten wir uns nicht lange bei den liberalen Theoretikern auf, die den Staat verdammen ("Unser Feind – der Staat"). Aus der Freiheit wird nur ein rechtlich garantiertes und durchsetzbares Freiheitsrecht, wenn der Staat diese Freiheit gewährleistet und schützt, wenn er auch den Rahmen der Freiheit immer wieder neu bestimmt. Wirtschaftliche Freiheit und Wettbewerb brauchen den staatlich gewährleisteten Frieden, das staatlich gesetzte Vertragsrecht, um Verträge vereinbaren zu können; die staatliche oder europäische Währung, um Preise zu bestimmen und Werte aufzubewahren; die Bildung und Ausbildung der Menschen, um sachkundige Arbeitnehmer und Marktteilnehmer anzutreffen; ein Bau- und Atomrecht, das die technische und die strukturelle Entwicklung anleitet; selbstverständlich auch ein Sozialrecht, das für jedermann gewährleistet, dass er nicht in Freiheit kulturell oder existentiell verhungert.

Auch die Scheu vieler liberaler Theoretiker, um der Offenheit eines Entwicklungsprozesses Werturteile verbindlich zu machen, weicht heute einem Nachdenken über die Werte, die unser Freiheitsprinzip tragen und definieren. Die Würde jedes Menschen ist das Fundament seiner Freiheit; Wert und Würde haben insoweit semantisch denselben Ursprung. Die Gleichheit in der Freiheit ist Bedingung von Markt und Wettbewerb. Das Friedensprinzip, das Konflikte in sprachlicher Auseinandersetzung, nicht durch Gewalt löst, bietet eine Elementarvoraussetzung für die Freiheit. Die Idee individueller Selbstvoraussetzung definiert der Kern des Freiheitsgedankens. Deshalb liegt der sozialen Marktwirtschaft die Bereitschaft zugrunde "für das eigene Schicksal Verantwortung zu tragen und aus dem Streben nach Leistungssteigerung an einem ehrlichen freien Wettbewerb teilzunehmen" (Ludwig Erhard). Die Tugenden dieser sozialen Marktwirtschaft sind Verantwortungsfreude, Nächsten- und Menschenliebe, Verlangen nach Bewährung, Bereitschaft zur Selbstvorsorge.

Deswegen brauchen wir in der Tat, Herr Ministerpräsident, den schlanken, aber starken Staat. Das Verhältnis von Staat und Freiheit erklärt sich in einer Kultur des Maßes. Wie ein notwendiges Medikament, übermäßig eingenommen, zum tödlichen Gift wird, ein in zu geringen Dosen verabreichtes Medikament unwirksam bleibt, so gilt auch für den Staat, dass er Übermaß wie Untermaß zu vermeiden hat. Ich möchte dieses an zwei Beispielen, die Sie Herr Ministerpräsident angesprochen haben, näher erläutern.

a) Für das Gesetz gilt selbstverständlich, dass nur das staatliche Gesetz aus Freiheit ein Freiheitsrecht macht, das Gesetz also Bedingung der Freiheit ist. Wenn uns allerdings eine Normenflut nieder drückt, bedrängt und verengt der Gesetzgeber die Freiheit. Deswegen sollten wir rechtspolitisch erwägen, ob für den jeweiligen Sachbereich – das Privatrecht, das Strafrecht, das Steuerrecht oder das Arbeitsrecht – nur so viele Normen geschaffen werden dürfen, als der zuständige Ministerialbeamte aktiv im Gedächtnis behalten kann.

Sodann sollten in einer vierjährigen Parlamentsperiode jährlich nur eine Kodifikation beschlossen werden, weil der Abgeordnete diese Zeit braucht, um ein neues Gesetz zu verstehen, kritisch zu durchdenken und verbessern zu können. Montesquieu, den Sie Herr Ministerpräsident, als den großen Gelehrten der Gesetzgebung angesprochen haben, hat uns gesagt, wenn Du ein Gesetz ändern willst, tu dieses allenfalls mit zittriger Hand – gemeint ist die Ehrfurcht vor dem Gesetz, nicht eine Zittrigkeit wegen beschleunigter, überschneller Gesetzgebung.

Außerdem ist ein Gedanke zu verallgemeinern, den der Bundesgesetzgeber für die Bürokratiekosten entwickelt hat: Die Einrichtung eines Rates für Gesetzgebung, eines kleinen Gremiums von unbefangenen und unparteilichen Fachleuten, die – jenseits jeder Öffentlichkeitswirkung – den Gesetzgeber beraten, ob eine Norm notwendig ist, wie viele andere Normen eine Neuregelung erübrigen können, ob das Gesetz systematisch und sprachlich sachgerecht gestaltet ist, ob das Verbot der Einzelfallgesetze und der gesetzgeberische Auftrag zur allgemeinen, langfristigen Gestaltung der Zukunft beachtet ist.

b) Zur Staatsverschuldung gebührt Ihren Plänen, Herr Ministerpräsident, Bewunderung und Zustimmung. Ergänzend könnte man erwägen, wie jeder Staatsbedienstete für ein Konzept der Entschuldung und Wirtschaftlichkeit zu gewinnen wäre: Wenn die politische Regel gälte, dass mit jeder steigenden Verschuldung um 1% alle Staatsleistungen – Subventionen, das Beamtengehalt, die Sozialleistung – entsprechend um 1% sinken müsse; bei sinkender Verschuldung um 1% die Staatsleistung um 1/2% steigen dürfe, hätten wir das Verhältnis von Staatsleistung und Finanzierbarkeit wieder bewusst gemacht, vor allem aber die an ihrem Gehalt interessierten Bediensteten nachdrücklich zur Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit veranlasst.

c) Schließlich könnte die Politik im Wahlrecht von dem wirtschaftlichen oder sportlichen Wettbewerb lernen. Am Markt oder im Sport gilt die Selbstverständlichkeit, dass der Beste – mag sein Angebot auch nur geringfügig besser als das der Mitbewerber sein, das sportliche Ziel nur knapp vor den Konkurrenten erreicht worden sein – als Sieger den Auftrag oder die Goldmedaille erhält, die Mitbewerber dementsprechend die Verlierer sind.

Wenn in einem Ruderwettbewerb – dem Zweier ohne Steuermann – zehn Boote ins Rennen gehen, eines um wenige Zentimeter als erstes die Ziellinie passiert, ist dieses Boot der alleinige Sieger. Etwas anderes gilt im Wahlwettbewerb: Auch hier gehen verschiedene Boote ins Rennen. Das erste ist schwarz-gelb angestrichen, das zweite rot-grün. Vorne sitzt jeweils ein kräftiger Ruderer, hinten ein eher schlanker. Weitere fünf Boote nehmen am Wettstreit teil. Nun geht das Boot Nummer 1 knapp – mit 44 Punkten – vor dem Boot Nummer 2 – mit 43 Punkten – durchs Ziel. Die anderen folgen abgeschlagen. Die Rennleitung aber erklärt nicht das Boot 1 zum Sieger, sondern die beiden kräftigen Ruderer, die in Boot 1 und 2 vorne gesessen haben. Das Publikum ist erstaunt und wendet ein, diese beiden Ruderer hätten doch gar nicht in einem gemeinsamen Boot am Wettbewerb teilgenommen, könnten deswegen auch nicht der Sieger dieses Wettbewerbs sein.

Verfassungsrechtlich geht es um das Problem der Unmittelbarkeit. Das Grundgesetz verlangt die unmittelbare Wahl, fordert also, dass das Wahlergebnis allein durch die Stimmabgabe der Wähler in der Wahlkabine bestimmt wird. Tatsächlich aber erklärt der Bewerber mit der höchsten Prozentzahl sich zum Sieger und kündigt an, er werde mit den anderen Wettbewerbsteilnehmern verhandeln, um dann in Koalitionsvereinbarungen den Sieger zu bestimmen. Das ist keine unmittelbare, sondern eine mittelbare Wahl, die dem Verfassungsrecht nicht entspricht.

Deshalb sollte man – für zukünftige Wahlen, selbstverständlich nicht für die Vergangenheit – erwägen, die in einem Wahlwettbewerb konkurrierenden Parteien vor der Wahl zu einer Koalitionsaussage zu verpflichten, damit der Wähler im vorhinein weiß, über welche programmatischen und personellen Alternativen er entscheidet. Die eine Partei wird erklären, sie hoffe allein zu gewinnen, werde aber mit der Partei X koalieren, wenn ihre Stimmen zum Regieren nicht ausreichen. Die andere Partei erklärt, sie gehe von vornherein zusammen mit der Partei Y ins Rennen. Die Dritte kündigt an, sie finde keinen Partner und sei die geborene Oppositionspartei, wolle damit die Oppositionskräfte stärken. Wer nach diesen Koalitionsaussagen dann am Wahlsonntag die meisten Stimmen auf sich vereinigt, z.B. 44%, ist der Wahlsieger. Er erhält 50% der Sitze plus 5, um in dieser Koalition kraftvoll eine Wahlperiode regieren zu können. Die Unmittelbarkeit der Wahl ist gesichert. Allerdings entsteht ein Problem der Gleichheit der Stimmgewichte, das allerdings nicht gravierender sein dürfte, als wir es gegenwärtig von der 5%-Klausel kennen.

3. Ludwig Erhard fordert die ganzheitliche Wahrnehmung aller Freiheiten, begegnet sich also mit dem Freiheitsverständnis, dass Sie, Magnifizenz, für die Universitäten in Anspruch genommen haben. Und Pallas Athene, die weiterhin auf uns herunterschaut, betritt als Schutzgöttin der Weisheit und der Künste unsere Universitätsstadt, erschließt also eine geistige Weite für alle Gärten der Freiheit, die sich uns eröffnen.

Deswegen pflegt die Universität zunächst die Offenheit für alle wissenschaftlichen Fragen und Antworten, Experimente und Denkmodelle. Sie ist aber auch für die Freiheit der Kunst zugänglich, um in einer Formensprache das Schöne zum Ausdruck zu bringen. Sie pflegt die menschliche Begegnung und Bindung, erlebt täglich eine Grunderfahrung menschlichen Lebens: Wer einen anderen anspricht, wirkt ansprechend; wer einen anderen ansieht, vermittelt Ansehen. Ich fühle mich heute in besonderer Weise angesprochen und angesehen.

Wir entfalten die Freiheit zur Ehe und Familie, damit zum Kind, sichern Wirtschaft und Staat in den Kindern eine Zukunft. Außerdem stellt jeder denkende Mensch irgendwann einmal die Sinnfrage, fragt nach dem Ursprung und Ziel seiner Existenz, dem Sinn seines Lebens, sucht den Vorhang zum Jenseits ein wenig beiseite zu schieben. Schließlich bedeutet Freiheit auch die politische Mitverantwortung für unser Gemeinwesen, für unsere Demokratie, insbesondere in der Gegenwart, in der die Politik vor allem wissen und erst auf der Grundlage soliden Wissens auch entscheiden muss.

In dieser freiheitlichen Offenheit ist die Toleranz angelegt, die nicht eine Passivität meint, die sich um die Geschicke anderer nicht kümmert, sondern den intellektuellen Kraftakt fordert, selbstbewusst und sicher für die Würde des anderen einzustehen.

Joseph von Eichendorff sagt beim Aufbruch zur Demokratie auf dem Hambacher Fest: "Keine Verfassung garantiert sich selbst". Eine freiheitliche Verfassung ist auf die Kraft der Menschen zur Freiheit, ihre Bereitschaft zur Anstrengung und Selbstverantwortung, ihre Leistungsbereitschaft und Entdeckerkraft angewiesen.

4. Erlauben Sie mir, meine verehrten Damen und Herren, mit drei persönlichen Bemerkungen zu schließen. Die erste handelt von einem freiheitserheblichen Erlebnis, die zweite von einem in meiner Familie geläufigen Erfahrungssatz, die dritte schließlich enthält ein persönliches Bekenntnis.

a) Als ich am Karlsruher Bismarckgymnasium kurz vor dem Abitur stand, kam ein Studienberater vom Arbeitsamt zu uns und warnte uns – gestützt auf viele Statistiken und Erhebungen – nachdrücklich vor dem Jurastudium. Das Studium der Rechtswissenschaft sei der sichere Weg zur Arbeitslosigkeit. Wir waren 23 Abiturienten, fünf haben sich vom Jurastudium nicht abhalten lassen. Zwei sind heute Professoren, einer ist Richter, einer ist Kulturreferent einer deutschen Großstadt, der fünfte ist Rechtsanwalt geworden, und hat mir jüngst vergnügt gesagt, er verdiene mehr als die anderen vier zusammen. Das Projekt Jura ist also bei allen gelungen.

Was war der Fehler dieses gutwilligen Studienberaters? Er hatte sich ein Wissen angemaßt, dass er nicht haben konnte. Er kannte nicht unsere persönlichen Wünsche und Fähigkeiten, konnte auch für die Zukunft der vor uns liegenden 40 Jahre keine verlässliche Aussage treffen. Meine Mutter hatte mir gesagt, folge deiner Begabung und deiner Neigung. Und sie hatte Recht.

Der zweite Fehler bestand in einem unzulänglichen Freiheitsverständnis. Freiheit ist auch das Recht zur Mittelmäßigkeit, zur Mäßigkeit. Mich besuchte jüngst der Vater eines meiner erfolgreichen Doktoranden und berichtete mir, sein Sohn beabsichtige trotz eines guten Staatsexamens und einer schönen Promotion Profifußballer zu werden. Alle Prognosen sprachen dafür, dass er allenfalls ein mittelmäßiger Fußballspieler sein könne. Der Vater fragte mich nun, was wir unternehmen könnten, um den Sohn von diesem Irrweg abzubringen. Meine Antwort war: Geben Sie Ihrem Sohn das, was schon die erste amerikanische Menschenrechtserklärung verheißt, ein Recht auf Glück: das Recht, sein Glück selbst zu definieren und zu suchen. Er mag dann einige Jahre als Fußballspieler glücklich sein, danach vielleicht auf den Weg zu einem Juristenberuf zurückfinden. Aber ihn gegen seinen Willen auf einen Berufsweg zu drängen, steht uns nicht zu.

b) Diese Freiheitsidee mag auch eine familiäre Erfahrung belegen. Mein Großvater, er war Schreinermeister und Holzschnitzer, sagte uns beim vorweihnachtlichen Schmücken des Tannenbaumes, wir dürften die Zweige des Baumes nur so mit Kugeln und Kerzen behängen, dass die Äste nicht herunter gedrückt würden, sie vielmehr auch nach dem Schmücken in der Lage seien, dass zu tun, was diesem Baum entspräche, nämlich zur Sonne, zum Licht aufzustreben. Wir haben diese Weisung des Großvaters befolgt, weil wir seiner Autorität vertrauten. Erst viel später ist mir bewusst geworden, dass in dieser Aussage eine schöne Freiheitsdefinition angelegt ist: Wie immer du den Menschen veredeln willst, bedränge ihn niemals so, dass es ihn niederdrückt, lasse ihm stets soviel Freiheit, dass er zum Licht, zur Sonne aufstreben kann.

c) Ich möchte schließen mit einem Bekenntnis, von dem alle diejenigen unter Ihnen, die meine Frau und mich sehr gut kennen, längst wissen: Wir sind echte 68er. Das Jahr 1968 ist das Schlüsseljahr für unsere Biographie: Im Jahre 1968 habe ich promoviert, mir also das Tor zum Garten der wissenschaftlichen Freiheit geöffnet, außerdem haben wir 1968 geheiratet, uns also den Garten familiärer Freiheit und familiären Glücks erschlossen.

Auf unserer Hochzeitsreise beschäftigten uns drei Themen: Einmal war mir damals daran gelegen, den Doktortitel führen zu dürfen. Dieses hing aber von der Zustellung der Doktorurkunde durch die Post ab; in diesen Zeiten wurde die Doktorurkunde nicht in einem universitären Festakt überreicht, sondern postalisch zugestellt; deswegen haben wir wiederholt zu Hause angerufen mit der Frage, ob nunmehr das wichtige Dokument vom Briefträger gebracht worden sei.

Sodann haben wir abends Radio gehört, um uns zu vergewissern, was in Prag passiert. Es war die Zeit des Prager Frühlings und die Panzer standen in Prag. Daraus ergaben sich wesentliche Fragen für einen jungen Menschen, der wehrpflichtig war.

Schließlich hatten wir damals schon einen Gedanken an eine berufliche Tätigkeit in der Universität. An den Universitäten in Deutschland allerdings galt nicht die Selbstverständlichkeit, dass Fragen und Auseinandersetzungen allein mit Macht des Wortes und nicht durch Gewalt geklärt werde.

Doch trotz dieser Bedrängnisse im universitären Stil, für das Prinzip des Friedens in der Universität und für den Frieden in Europa waren wir immer von einem grundlegenden Freiheitsvertrauen bestimmt. Wir wussten, was wir konnten und wollten, hatten bisher erfahren, dass Anstrengung sich lohnt, verspürten auch die Gewissheit, dass diese Welt uns die Rahmenbedingungen bieten werde, die wir uns erhofften.

Und so ist es gekommen. In München wie in Heidelberg haben wir wieder akademische Promotionsfeiern, bei denen der Dekan die Urkunden überreicht. Wir können den Prager Frühling heute als Touristen oder als Gastdozenten an der Universität Prag erleben. Die Universität hat wieder den inneren Frieden und die Freiheit gefunden, um einen Festakt wie den heutigen in akademischer Gemeinschaft zu erleben. Für all dieses und insbesondere unser heutiges Fest sage ich: Danke.

Allgemeine Rückfragen von Journalisten bitte an:
Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
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