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Rituale einst und heute – neue Publikationen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs Ritualdynamik

12. Februar 2007

Zwei neue Publikationen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs 619 ‚Ritualdynamik' erschienen. Rituale in der Vergangenheit, in der Gegenwart – und in den Grenzgebieten unserer Gesellschaft. Interessante Einblicke in ein alltägliches Phänomen, das uns oft nicht bewusst ist.


Es gibt sie in der Bundesliga und in der Schule, in der Familie wie in der Religion – obgleich man sie oft gar nicht wahrnimmt. Und doch begleiten uns Rituale Tag für Tag – heute, in der Vergangenheit und mit Sicherheit auch in der Zukunft. Denn ohne öffentliche Rituale wäre das Zusammenleben in allen Kulturen und Epochen schlicht undenkbar, auch wenn manche Handlungen – wie die Schultüte des ABC-Schützen – weit weniger martialisch daherkommen als beispielsweise der öffentlich inszenierte Tod in einigen nepalesischen Dorf- oder Ortsgemeinschaften, wo Verstorbene am Flussufer verbrannt werden.

In Heidelberg befasst sich nun schon seit einigen Jahren ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Rektorat der Ruprecht-Karls-Universität geförderter Sonderforschungsbereich mit dem interessanten Themenkomplex. Der ‚SFB 619 – Ritualdynamik' umfasst inzwischen rund ein Dutzend kultur- und sozialwissenschaftlicher Fächer aus verschiedenen Fakultäten, wobei die Früchte der wissenschaftlichen Arbeit mit diversen Publikationen in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Zwei jüngst erschienene Titel seien hier kurz vorgestellt, um die Bandbreite des Forschungsbereichs ein wenig zu verdeutlichen.

 Die Welt der Rituale  

So gewährt ‚Die Welt der Rituale' einen besonders guten Einblick in die Hintergründe und Eigenarten unterschiedlichster ritueller Handlungen von der Antike bis in die Gegenwart. Die zehn Autoren des lesenswerten Bandes stammen aus verschiedenen Fächern der Kultur- und Sozialwissenschaften, und geben folglich ein sehr breit angelegtes Bild von dem, was Rituale in den verschiedenen Gesellschaften zu leisten vermögen. Die oft illustren Beispiele gehen dabei auch auf die Entstehung einzelner Rituale ein, sowie auf die Veränderungen, die sich zwangsläufig ergeben.

Dass dem Leser hier zuweilen auch aus heutiger Sicht leicht makaber erscheinende Traditionen begegnen, liegt auf der Hand – die Opferziege in Delphi, die den Kopf nicht schütteln wollte um ihrer eigenen Tötung zuzustimmen ist hier ein ebenso gutes Beispiel wie das von Stefan Weinfurter vorgestellte mittelalterliche Ritual des ‚Hundetragens', das der Führungsschicht des Reiches erstmals in ottonischer Zeit verordnet wurde, um nach einer Verfehlung wieder die Gunst des Herrschers zu erlangen.

"Der Hund wurde offenbar als Symbol der Treue verstanden, und mit dem Hund nahm man die Treue wieder auf sich. (...) Damit war das Hundetragen eine verhältnismäßig ehrenvolle Strafe", schreibt Stefan Weinfurter vom Historischen Seminar Heidelberg über die eigenartig erscheinende Rechtstradition, die im Laufe der Zeit jedoch immer negativer besetzt war, bis sich das einstige Versöhnungs- in ein Strafritual zu wandeln begann, und damit sogar "in die Nähe der Todesstrafe gerückt" werden konnte, "ohne daß sich die äußeren Formen zu ändern brauchten."

Dabei sind Rituale aber auch in den Grenzregionen menschlichen Daseins zu finden, wie bei der Lektüre des Titels ‚Rituale erneuern. Ritualdynamik und Grenzerfahrung aus interdisziplinärer Perspektive' deutlich wird, das sich den im Wandel befindlichen sozialen Formen unserer Gesellschaft widmet. Immerhin wird in privaten wie öffentlichen Bereichen und Einrichtungen mit Kulturtransfer, der Neuerfindung oder Veränderung von Ritualen experimentiert – was eine überraschende Dynamik demonstriert, die so gar nichts mit dem starr-zwanghaften zu tun hat, wie man es sonst von Ritualen erwarten würde.

Der interdisziplinär angelegte Band bietet dabei nicht nur theoretische oder empirische Zugänge zur aktuellen Debatte um Dynamik und Wirksamkeit von Ritualen, sondern auch sehr lebendige Einblicke in die Abgründe menschlichen Daseins, das sich vielleicht im Drogentaumel verlieren kann, sich dessen ungeachtet aber immer noch ganz eigenen Ritualen unterwirft. Sehr anschaulich geschildert wird dies im Beitrag des Münchner Liedermachers Konstantin Wecker, der nicht nur für seine zahllosen sozial- und gesellschaftskritischen Texte bekannt ist, sondern Mitte der neunziger Jahre auch mit seiner Drogenkarriere Aufsehen erregte. Über diese nun berichtet er mit eingänglichen Worten, deren reflektorische Tiefe den Leser mit hineinreißt in die Sorgen und Ängste eines von Base oder Crack abhängigen Menschen. Wie sehr sich dabei ein erschreckender Zweispalt hatte auftun können zwischen seinen Liedern und seinem Leben – das scheint Wecker selbst am meisten überrascht zu haben.

 Rituale erneuern  

Das Buch ‚Rituale erneuern' stellt folglich nicht nur einen Austausch von Wissenschaftlern und Praktikern dar, sondern bietet auch einen lebensnahen Diskurs, der sich vor allem gesundheits- und gesellschaftspolitischen Themen widmet, sowie der Frage, ob sich hier neue, flexiblere Ritualräume und Ritualstrukturen finden lassen, oder ob mit der ‚Demokratisierung' des Rituellen dessen eigentlicher Kern zerfällt.

Beide hier vorgestellten Titel bieten dem Leser somit einen ebenso profunden wie anspruchsvollen Zugang zu Geschichte wie Gegenwart verschiedenster Rituale – und das auch jenseits der Durchschnittsgesellschaft. Denn das europäische Mittelalter, die antiken Kulturen des Mittelmeerraums oder der indische Subkontinent kommen dabei ebenso zur Sprache wie die gesellschaftlichen Grenzbereiche der Gegenwart. Zudem stacheln beide Bücher die Neugier an, und machen Lust, mehr erfahren zu wollen über ein noch lange nicht abgearbeitetes Gebiet des Sonderforschungsbereichs 619 an der Universität Heidelberg.

Weitere Informationen zum Sonderforschungsbereich 619 sind abrufbar unter: http://www.ritualdynamik.uni-hd.de


Claus Ambos, Stephan Hotz, Gerald Schwedler, Stefan Weinfurter (Hrsg.): Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 2. unveränderte Auflage, 276 Seiten mit 11 s/w Abb. und 3 s/w Kt., gebunden, ISBN-10: 3-534-18701-6; ISBN-13: 978-3-534-18701-0, 49,90 Euro

Henrik Jungaberle, Rolf Verres, Fletcher DuBois (Hrsg.): Rituale erneuern. Ritualdynamik und Grenzerfahrung aus interdisziplinärer Perspektive. Erschienen in der Buchreihe: Psyche und Gesellschaft, Psychosozialverlag Gießen, 397 Seiten, Broschur, ISBN-10: 3-89806-544-8; ISBN-13: 978-3-89806-544-3, 34 Euro

Heiko P. Wacker



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