Wer baute die babylonische Arche? Ein neues Fragment der mesopotamischen Sintfluterzählung aus Assur

Stefan M. Maul, Heidelberg

Nur wenige Jahre, nachdem die assyrisch-babylonische Keilschrift entziffert und die untergegangene semitische Sprache des Alten Mesopotamien soweit erforscht war, daß Abb1kl man akkadische Keilschrifttexte weitgehend verstand, erregten die Ergebnisse assyriologischer Forschungen in einer breiten Öffentlichkeit großes Aufsehen. Im Dezember 1872 stellte der britische Assyriologe G. Smith auf einer Sitzung der Londoner Society of Biblical Archaeology das Bruchstück einer Tontafel vor, das man in der assyrischen Hauptstadt Ninive im Schutt des Palastes des Assyrerkönigs Assurbanipal gefunden hatte. Das Tafelfragment, geschrieben im 7. vorchristlichen Jahrhundert, gehörte zu einer Dichtung, in der in formvollendeter poetischer Sprache die Geschichte von der Sintflut und dem "Überaus-Weisen" erzählt wurde. Dieser hieß in der neu entdeckten keilschriftlichen Fassung nicht Noah, sondern Utnapischtim, aber wie Noah war Utnapischtim der alles vernichtenden Flut mit Hilfe einer Abb2kl nach genauen Vorgaben angefertigten Arche entkommen, in der, auf göttlichen Rat, auch die Tiere das urzeitliche Weltengericht überlebt hatten. Die bis in Einzelheiten gehenden Parallelen zwischen dem neuen "heidnischen" Sintflut-Mythos und der wohlbekannten Noah-Erzählung des ersten Buches der Thora (Gn 6-9), ließen keinen Zweifel daran, daß die Verflechtungen des biblischen mit dem uralten mesopotamischen Gedankengut weitaus enger waren, als man es je zuvor angenommen hatte. Daher entstand sofort ein großes Interesse, den alten orientalischen Mythos zu rekonstruieren, um ihn mit der biblischen Überlieferung vergleichen zu können.

Schon bald hatte man erkannt, daß die von Smith entdeckte keilschriftliche Sintfluterzählung in ein großes Epos eingefügt war, das die Abenteuer und Heldentaten des Königs Gilgamesch schildert. Obgleich bis heute nicht unbeträchtliche Teile des auf zwölf Tafeln aufgeteilten Gilgamesch-Epos unbekannt blieben, gelang es bereits sehr früh, aus Tontafelbruchstücken unterschiedlicher Herkunft den Text der elften Tafel des Epos mit der Sintfluterzählung nahezu lückenlos wiederherzustellen. [1] Abb3kl Der "ferne Utnapischtim" berichtet in dieser Tafel dem Gilgamesch, der rastlos nach dem Geheimnis des ewigen Lebens sucht, wie er als einziger die Sintflut überlebt hatte und von den Göttern entrückt und zu den Unsterblichen gezählt wurde. Lediglich der Wortlaut eines kleinen Abschnittes der Tafel, der nur sechs Zeilen umfaßt (es handelt sich um die Zeilen 49-54 der elften Tafel des Gilgamesch-Epos), konnte bislang nicht rekonstruiert werden. Da jedoch in einem Textvertreter die Zeilenenden dieses Abschnittes erhalten blieben, war klar, daß dort vom Bau der Arche die Rede war.

Bei der Durchsicht der Tontafeln aus Assur im Auftrage der Deutschen Orient-Gesellschaft fand sich jetzt ein kleines, unpubliziertes Tafelfragment, das im Berliner Vorderasiatischen Museum unter der Signatur VAT 11000 aufbewahrt wird und eben die Zeilenanfänge enthält, die für die Wiederherstellung des einzigen noch unbekannten Abschnittes der elften Tafel des Gilgamesch-Epos vonnöten sind.

VAT 11000, die linke untere Ecke einer großen, ursprünglich dreikolumnigen Tafel, wurde - wie die Zeichenformen nahelegen - wohl im 7. Jh. v. Chr. geschrieben. Das einzige weitere bekannt gewordene Tontafelfragment aus Assur, das der elften Tafel des Gilgamesch-Epos zuzuordnen ist, VAT 11087 [2], gehört zu derselben, sehr sorgfältig gefertigten Tafel. Die beigegebene Skizze Abb5kl zeigt, daß ein direkter Zusammenschluß der beiden Fragmente jedoch nicht möglich ist. Der genaue Fundort beider Fragmente kann leider nicht mehr ermittelt werden.

VAT 11000 liefert uns, wie bereits an den spärlichen, zuvor bekannten Resten der Zeilen Gilg. XI, 49-54 ersichtlich war, eine lebhafte Schilderung vom Bau der Arche. Nicht in Heimlichkeit und ganz allein baute Utnapischtim das rettende Schiff, sondern in aller Öffentlichkeit und mit Hilfe des gesamten "Landes" [3], das doch kurz darauf von der Flut vernichtet werden sollte. Freiwillig arbeiteten nicht nur die Zimmerleute und die übrigen Facharbeiter, die auf einer Werft gebraucht werden, sieben Tage lang bis zur Fertigstellung des gewaltigen Schiffes, sondern auch groß und klein, arm und reich eilten zu Hilfe. Einer List des Weisheitsgottes Ea folgend, der Utnapischtim das Geheimnis der bevorstehenden Flut offenbart hatte, hatte der babylonische Noah seinen Mitmenschen die merkwürdige Absicht, Besitz und Reichtum zu lassen, um mit einem gewaltigen Schiff davonzufahren, damit erklärt, daß er den Unwillen Enlils, des Gottes, der in Wahrheit die vernichtende Flut befohlen hatte, auf sich gezogen habe. Nun müsse er sich zu den Wassern, dem Herrschaftsbereich seines Schutzgottes Ea, zurückziehen. Habe er aber erst die Stadt verlassen, so machte Utnapischtim die Menschen glauben, würde der Stadt großer Segen und Überfluß zuteil, den Enlil dann herabregnen ließe. Mit diesen täuschenden Versprechen des Utnapischtim setzt das neue Fragment der elften Tafel des Gilgamesch-Epos ein:



VAT 11000 [4]
Abb4kl
45I 1'il?-[mesch-ra-a e-bu-ra-am-ma]
46I 2'i-na sch[er ku-uk-ki]
47I 3'

i-na li-la-a-ti ú-
[schá-az-na-na-ku-nu-schi schá-mu-ut ki-ba-a-ti]




________________________________________
48I 4'mim-mu-ú sch[e-e-ri i-na na-ma-a-ri]
49I 5'ina bab() A-tar-ha-[sis i-pah-hur ma-a-tum]
50I 6'nagaru(NAGAR) na-schi [pa-as-su]
51I 7'atkupu(AD.KID) na-schi [a-ba-an-schu]
51aI 8'a-ga-si-li-ga-[schu?(Stativ)]
52I 9'schi-bu-ti i-[zab-bi-lu pi-til-ta] [5]
53I10'etluti(GURUSCH.MESCH) i-gu[sch-schu(?)]
54I11'[sch]á-ru-u na-[schi kup-ra]



(Rand)
55II 1'[lap-nu(...) hi-schih-tu ib-la]



etc.


Übersetzung:

45Be[scheren? wird er (= Enlil) euch? Reichtum und auch (gute) Ernte].
46In der Morgenröte [wird er Kuchen],
47in der Abenddämmerung [Schauer von Weizenkörnern auf euch herabregnen lassen].

_______________________________________________________________
48Kaum daß die Mor[genröte zu leuchten beginnt],
49[versammelt das Land sich] im Tore des "Überaus-Weisen" (= Atar-hasis).
50Der Zimmermann hält [sein Beil] bereit.
51Der Rohrflechter hält [seinen Stein] bereit.
51a Seine Axt? [hält (o.ä) der? ...].
52Die alten Männer [bringen Strick herbei].
53Die jungen Männer ei[len herbei und?].
54Der Reiche hält [bereit das Pech].
55[Der Arme brachte, (...) was sonst noch vonnöten ist].


Kommentar:

45 Die als il?-[ gedeuteten Spuren der ersten erhaltenen Zeile des Fragmentes VAT 11000 bilden wohl den Anfang einer Verbalform, die wahrscheinlich wie in Z. 47 mit dem Dativsuffix -kunuschi versehen war. Die wenigen Zeichenspuren reichen jedoch nicht aus, um das hier verwendete Verb zu ermitteln. Die in der Übersetzung vorgeschlagene Ergänzung mit dem Verb "bescheren" fußt somit lediglich auf inhaltlichen und nicht auf philologischen Überlegungen.
49 Atar-hasis, "Überaus-Weiser", ist hier ein Beiname des Utnapischtim.
50 Zu den Zeilen 50ff. vgl. M. Stol, AfO 35 (1988), S. 78.
51a Zu agasiliggu vgl. CAD A/I, S. 148f. (s.v. agasalakku) und AHw S. 16 [dort gedeutet als: "eine Art Band, Reif (z.B. um ein Beil)"] mit Belegen, die zeigen, daß ein agasiliggu ein Gerät oder Werkzeug ist, das aus Bronze gefertigt wurde. Gemeinsam mit Dolchen und Beilen wird es in Urkunden und lexikalischen Texten genannt. Es konnte ein Gewicht von etwa einem Kilogramm haben. Auf einer Tontafel aus dem Britischen Museum, auf der Leberomina verzeichnet sind, findet sich zudem die Skizze einer Lebermarkierung, die "wie ein agasiliggu" aussieht (siehe CT 39, Pl. 12, 9). Anhand der leider nur sehr groben Zeichnung ist es allerdings kaum möglich zu entscheiden, ob als agasiliggu tatsächlich, wie im CAD vorgeschlagen, eine Axt bzw. das Blatt einer Axt bezeichnet wurde. Für diese oder eine ähnliche Deutung spricht freilich der Text LKU n31, in dem ein agasiliggu neben anderen Götterwaffen genannt ist.
53 Die Lesung i-gu[sch-schu(?)] geht zurück auf einen Vorschlag von A. R. George.
54 In einer scharfsinnigen Notiz im AfO 35 (1988), S. 78 hatte M. Stol bereits vermutet, daß in der bisher bekannten Textfassung die Zeichenfolge SAR-ru(-)[ nicht für scherru, "(Klein)kind", sondern für scharû, "Reicher" steht. Diese Vermutung wird durch den hier vorgestellten neuen Textvertreter aus Assur bestätigt.
55 Die Parallelstelle in der altbabylonischen Fassung des Atrachasis-Epos (Tf. III, Kol. II, 14 [dort: la-ap-nu]) zeigt, daß hier nicht dan-nu gelesen werden kann.

Wie die Skizze des in Assur gefundenen Textvertreters der elften Tafel des Gilgamesch-Epos zeigt, sind bisher nur etwa 5% der vermutlich in viele kleine Bruchstücke zerborstenen Tafel bekannt geworden. Es erscheint daher nicht unwahrscheinlich, daß sich in Zukunft unter den kleineren unpublizierten Tontafelfragmenten aus Assur, die im Vorderasiatischen Museum zu Berlin aufbewahrt werden, noch weitere Bruchstücke dieser Tafel finden lassen. Zwar sind viele der besser erhaltenen literarischen Keilschrifttexte aus Assur in den großen Keilschrifteditionen von E. Ebeling und F. Köcher [6] vorgelegt worden, aber dennoch lassen sich, wie das hier vorgestellte Stück VAT 11000 zeigt, unter den zahlreichen kleineren und stark beschädigten Tontafelfragmenten wichtige Funde machen. In den folgenden Jahren soll daher die Arbeit von E. Ebeling und F. Köcher fortgeführt werden.

[1] Der Keilschrifttext der elften Tafel des Gilgamesch-Epos findet sich in der 1930 erschienenen und bis heute noch nicht ersetzten Edition von R. C. Thompson, The Epic of Gilgamish, Oxford 1930, Pl. 44-54. Eine moderne Umschrift des größeren Teils dieser Tafel legte R. Borger in seinem Lehrbuch Babylonisch-Assyrische Lesestücke, 2. Auflage, AnOr 54, Rom 1979, auf den Seiten 105-111 vor. Unter den zahlreichen, in der jüngsten Zeit entstandenen Übersetzungen des Gilgamesch-Epos sei neben der von A. Schott und W. von Soden (Das Gilgamesch-Epos, Reclam, Stuttgart 1977 [zur elften Tafel siehe S. 86-98]) auf die ebenfalls deutschsprachige Übersetzung von K. Heckerverwiesen (in: O. Kaiser u.a. [Hrsg.], Mythen und Epen II, Texte aus der Umwelt des Alten Testamentes III/4, Gütersloh 1994 [zur elften Tafel siehe S. 728-738]). Auf einer grundlegend neuen, bisher aber noch nicht veröffentlichten Textedition des Gilgamesch-Epos beruht die gerade erschienene Übersetzung von A. R. George: The Epic of Gilgamesh: A New Translation, London 1999 (zur elften Tafel siehe S. 88-99). Der Sintflut-Mythos ist auch Gegenstand des Atramchasis-Epos. Hierzu und zu weiteren Keilschrifttexten, die von der Sintflut handeln, vgl. W. G. Lambert, A. R. Millard, Atra-hasis. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969.
[2] VAT 11087 wurde als Textvertreter der elften Tafel des Gilgamesch-Epos bereits von W. G. Lambert und A. R. Millard, in ihrem Buch Atra-hasis. The Babylonian Story of the Flood, Oxford 1969, auf S. 164 erwähnt. Auf der Vorderseite des Fragmentes (= Kol. III), in dem ein Teil des unteren Tafelrandes erhalten ist, sind die Zeilen 162-170 und auf der Rückseite (= Kol. IV) die Zeilen 171-184 der elften Tafel des Gilgamesch-Epos erhalten (Zeilenzählung nach A. R. George, The Epic of Gilgamesh: A New Translation, London 1999). Eine Keilschriftkopie sowie eine Umschrift des bisher unpublizierten Tontafelfragmentes VAT 11087 wird A. R. George demnächst in seiner neuen Gilgamesch-Edition vorlegen.
[3] Siehe Z. 49.
[4] Die hier gegebene Zeilenzählung richtet sich nach der neuesten Rekonstruktion des Textes, die A. R. George in The Epic of Gilgamesh: A New Translation, London 1999, S. 90 vorgelegt hat.
[5] Zu der Ergänzung vgl. A. R. George, ebd., S. 90.
[6] E. Ebeling, Keilschrifttexte aus Assur religiösen Inhalts Bd. I, WVDOG 28, Leipzig (1915-) 1919; ders., Keilschrifttexte aus Assur religiösen Inhalts Bd. II, WVDOG 34, Leipzig (1920-) 1923; E. Ebeling und F. Köcher, Literarische Keilschrifttexte aus Assur, Berlin 1953.

 


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Letzte Änderung: 17.03.2008
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