Institutsabend mit Prof. Dr. Annette Riedel

Frau Prof. Dr. Annette Riedel

 

 



Die immensen Herausforderungen, vor denen Einrichtungen der Altenpflege - und mit ihnen auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - stehen, standen im Mittelpunkt des Institutsabend des Wintersemesters 2009/2010, der am 26.01.2010 im Diakoniewissenschaftlichen Institut stattfand.


Als Referentin konnte die Pflegewissenschaftlerin Frau Prof. Dr. Annette Riedel von der Hochschule Esslingen gewonnen werden, die mit dem DWI seit vielen Jahren verbunden ist, unter anderem durch ihre Promotion am DWI zum Thema „Professionelle Pflege alter Menschen – Ausbildung im Kontext gesellschaftlicher Bedarfsentwicklungen und pflegeberuflicher Reformen“.

 

Gleich zu Beginn ihres Vortrags wurden Spannungsfelder deutlich, in denen Pflege aktuell erfolgt. So führt beispielsweise die insgesamt reduzierte Verweildauer älterer Menschen in deutschen Pflegeeinrichtungen zu einer deutlichen Verschiebung der Bewohnerstruktur hin zu schwerer pflegebedürftigen, komplexeren Fällen, die eine pflege- und auch zeitintensivere Betreuung, damit aber auch umfassender qualifiziertes Personal erfordern. Zudem wird Altenpflegeeinrichtungen die Quadratur des Kreises abverlangt: bei möglichst günstigen Pflegesätzen soll ein möglichst vielfältig qualifiziertes Personal – natürlich bei angemessener Entlohnung – hohe Kundenzufriedenheit erzeugen und eine hohe Pflegequalität sicherstellen. Allein, Pflege entzieht sich ihrem Charakter als Dienstleistung entsprechend einer einfachen und eindeutigen Bewertung; vielmehr ist man zur Beurteilung ihrer Qualität oftmals auf Indikatoren angewiesen, die nicht immer messen, was sie zu messen vorgeben, oder das, was sie messen, nur sehr unzureichend widerspiegeln.

 

 

So nimmt es nicht Wunder, dass Altenpflegeeinrichtungen sich im Widerstreit von Anforderungen, die aus externen Prüfungen und den Erkenntnissen evidenzbasierter Pflegewissenschaft resultieren, behaupten müssen. Frau Prof. Riedel identifizierte drei daraus resultierende Spannungsfelder, deren Widersprüchlichkeiten sie exemplarisch am Beispiel der Mangelernährung verdeutlichte.
 

 

 

 

 

 

 

Institutsabend des DWI im WiSe 2009/10

Offensichtlich wird in der stationären Altenpflege nicht immer das geleistet, was fachlich geboten erscheint. Das mag im Einzelnen vielfältige Ursachen haben. Frau Riedel stellte die bisweilen fatale Anreizwirkung einer externen Prüflogik in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen.

 

 


So gerieten Pflegeeinrichtungen in den Druck, ihre Pflegeleistungen nicht evidenzbasiert nach pflegewissenschaftlichen Kriterien auszurichten, sondern auf die nächste Überprüfung durch den Medizinischen Dienst hin zu optimieren, dessen Messkriterien antizipiert würden und damit der eigenen Arbeit als Maßstab dienten.

 


Worin beispielsweise Mangelernährung (Malnutrition) bestehe und wie sie sich messen lasse, sei aber aus pflegewissenschaftlicher Perspektive keineswegs so eindeutig bestimmbar und klar, wie der Medizinische Dienst der Krankenversicherung in seinen Prüfungen unterstelle, schlicht deshalb, weil es an einem entsprechenden Standard mangele. Evidenzbasierung und Prüforientierung stünden so in Spannung zueinander. Woran sich Einrichtungen orientieren sollten, bleibe unklar.

 

Damit einher gehe eine Spannung zwischen einer Bedürfnis- und einer Bedarfsorientierung. Dieser ordnet Riedel eine „quantifizierbare“, jener eine „ethisch-wertorientierte Grundhaltung“ zu. Ein „Ernährungsmanagement“, das unter Absehen individueller Gründe eine aus Nahrungsverweigerung resultierende Mangelernährung als Defizit an Energie- und Nährstoffzufuhr begreife, das sich erfassen, bewerten und steuern lasse, ohne Gründe für das Nicht-essen-wollen zu ermitteln, und demgegenüber auf der Sicherstellung eines allgemeinen Zustandes ziele, verstoße in seiner Ausrichtung am Bedarf gegen das Bedürfnis der versorgten Person. Fürsorge und Autonomie gerieten mithin in einen Widerspruch zueinander, der sich nicht direktiv auflösen lasse, sondern pflegeethisch aus der Perspektive der Menschenwürde dialogisch zu klären sei.

 

Die daraus resultierenden hohen professionellen Anreize bei gleichzeitig kontingentierten Rahmenbedingungen würden schließlich zur Spannung von Qualifikation und Delegation führen. Die vermeintlich schlichte, weil aus der Alltagswelt jeder und jedem vertraute Nahrungsaufnahme stelle sich als komplexes und verantwortungsvolles Geschehen dar, das zwar professionelles Handeln erfordere, aber gerade aufgrund seiner Zeitintensivität oftmals Hilfspersonal übertragen würde.

 

Die anschließende Diskussion unterfütterte die Analyse von Frau Riedel mit zahlreichen Eindrücken aus der Praxis und verdeutlichte, dass es neben einer Stärkung der professionsethischen Identität der Pflegenden einer klaren Positionierung der jeweiligen Einrichtung bedarf. Im Interesse der Betroffenen wird man gleichwohl kaum umhin kommen, differenzierte und differenzierende Instrumente der externen Steuerung und Kontrolle in der Altenpflege zu entwickeln.

 

Dietmar Becker

 
 
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Letzte Änderung: 29.05.2018