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Er verachtet auch die Anekdote nicht

10. April 2007

Horst-Jürgen Gerigk erinnert in vier Porträts an seine akademischen Lehrer – Ein Beitrag zur Heidelberger Geistesgeschichte


Die Anschaulichkeit seines Schreibens wird hier erneut unter Beweis gestellt, denn der publikationsfreudige Slavistik-Professor an der Ruperto Carola ist dafür bekannt, selbst komplexe Zusammenhänge erfrischend lebendig ausbreiten zu können, und dies vor einem weiten geistigen Horizont. Horst-Jürgen Gerigk ist nicht nur in der russischen Literatur zu Hause, sondern auch eng verbunden mit den Autoren der Vereinigten Staaten.

Wer das Schriftenverzeichnis des 1937 geborenen Berliners liest, muss einige Zeit investieren. Zahlreiche seiner Bücher haben wir in der RNZ rezensiert wie zum Beispiel "Unterwegs zur Interpretation", "Lesen und Interpretieren" oder "Die Russen in Amerika". In der Tat haben nicht nur Dostojewski – Gerigk war von 1998 bis 2004 Präsident der Internationalen Dostojewski-Gesellschaft, die er 1971 in Bad Ems mitbegründete –, sondern auch Tolstoi, Turgenjew (Hemingway) oder Tschechow (Joyce Carol Oates) Amerikas Dichter inspiriert. In zahlreichen Studien ist der seit 1974 an der Universität Heidelberg wirkende Professor für Russische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft diesen fruchtbaren Wechselbeziehungen auf der Spur.

Der komparatistische Ansatz ist Gerigk, der auch deutsche (Gegenwarts-) Dichter in seine Untersuchungen mit einbezieht, in Fleisch und Blut übergegangen. Er sieht ein Werk der Literatur nie losgelöst, sondern bettet es stets in seinen geisteswissenschaftlichen Kontext ein. Diese Methode fördert auch beim Rezipienten die Weite des Blicks, wenn der Forscher beispielsweise dem Phänomen "Die Kindfrau als Archetypus" anhand von Salome und Lolita nachgeht, seine Ikonologie des nackten Mannes am Beispiel von Tarzan und heiligem Sebastian festmacht oder in der Festgabe zu Reinhard Düchtings 65. Geburtstag Wyatt Earp und Doc Holliday als Exempla für "Amicitia im Wilden Westen" wählt.

Über den Hollywood-Film der goldenen Fünfziger kann man sich mit Gerigk – ihm begegnen wir regelmäßig auf seinem Weg von Neuenheim in die Uni – trefflich austauschen. Er hat die bahnbrechenden Filme seinerzeit alle gesehen, angefangen bei "High Noon" über Elia Kazans "Die Faust im Nacken", "Endstation Sehnsucht", "Jenseits von Eden" mit dem jungen James Dean, "Die Caine war ihr Schicksal" oder "Verdammt in alle Ewigkeit". Diese Filme haben ihn geprägt, auch im Hinblick auf seine literaturwissenschaftliche Profession.

Einige Reminiszenzen an die cineastischen Erfahrungen seiner jungen Jahre finden sich auch in Horst-Jürgen Gerigks jüngster Veröffentlichung "Die Spur der Endlichkeit", in der er an seine akademischen Lehrer erinnert. Dies auf so plastische Weise, dass auch derjenige eine lebhafte Vorstellung von den Eigenarten der vier Persönlichkeiten erhalten mag, der ihnen nicht leibhaftig begegnete, denn ihr Schüler verachtet auch die Anekdote nicht, gehört sie doch zur lebensvollen Charakterisierung eines Individuums dazu.

Der Wissenschaftler schildert Vita und Werk der vier Denker im Zusammenhang mit seinem eigenen universitären Werdegang, denn sie haben ihn entscheidend geprägt und in den Heidelberger Geisteswissenschaften ihre Spuren hinterlassen, sei es sein Doktorvater Dmitrij Tschizewski (1894-1977), der Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900-2002), der Literaturwissenschaftler René Wellek (1903-1995), der gemeinsam mit seinem amerikanischen Kollegen Austin Warren ein Standardwerk der Literaturwissenschaft schrieb ("Theory of Literature") und Paul Fussell, der, 1924 geboren, in seinem Fulbright-Jahr 1957/58 Gerigk zufolge in Heidelberg die Amerikanistik begründete.

Zu allen vier Personen, deren Lebensläufe stark von der Weltpolitik des 20. Jahrhunderts bestimmt waren, hatte der Gelehrte ein freundschaftliches Verhältnis, und darüber hinaus weiß er auch durchaus Spektakuläres zu berichten. So hatte sich der Österreicher René Wellek als 20-jähriger Student in Heidelberg, abgestoßen von Gundolfs selbstherrlichem Gehabe, 1923 entschlossen, sein Germanistikstudium abzubrechen und lieber in Prag bei Vilem Mathesius Englische Literatur zu studieren, und Horst-Jürgen Gerigk erwähnt auch die Tatsache, dass sich noch 1952 in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie der Eintrag fand, die Universität Heidelberg werde von den "Besatzern" zur Vorbereitung eines neuen Weltkriegs benutzt.

So geht es in vorliegender Studie also nicht um die Wissenschaft allein, sondern auch um Implikationen, die weit in politisch-gesellschaftliche Bereiche vordringen.

Heide Seele
© Rhein-Neckar-Zeitung

 

Info: Horst-Jürgen Gerigk: "Die Spur der Endlichkeit. Meine akademischen Lehrer. Vier Porträts. Dmitrij Tschižewski, Hans-Georg Gadamer, René Wellek, Paul Fussell". Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2007. 100 S., 16 Euro



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