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Er zählte zu den originellsten Köpfen der Moderne

16. Januar 2007

Theaterstar Sunnyi Melles und der Heidelberger Germanist Prof. Dieter Borchmeyer zelebrierten Texte von Robert Walser bei der Goethe-Gesellschaft Heidelberg


Er war ein Außenseiter der literarischen Welt, lebte fast 30 Jahre lang in Nervenheilanstalten, hinterließ Romane ("Geschwister Tanner", "Der Gehülfe") und unzählige kurze Texte, die, ebenso tiefgründig wie abgründig, zugleich humorvoll und anarchisch, mit dem Entsetzen Scherz treiben. Der 1878 im schweizerischen Biel geborene Robert Walser, der am ersten Weihnachtstag 1956 tot im Schnee zusammenbrach, stand im Mittelpunkt des traditionellen Neujahrsempfangs, zu dem die Heidelberger Goethe-Gesellschaft gemeinsam mit der Literarischen Gesellschaft – zum zweitenmal ins Rudolf Steiner Haus in der Klingenteichstraße – eingeladen hatte.

Letizia Mancino-Cremer, die Vorsitzende der Goethe-Gesellschaft, präsentierte stolz einen Theaterstar, die zum Ensemble des Münchner Residenztheaters gehörende Schauspielerin Sunnyi Melles, auch bekannt von Film und Fernsehen und jahrelang als Buhlschaft bei den Salzburger Festspielen verpflichtet – im letzten Jahr war sie beim Eröffnungskonzert des "Heidelberger Frühlings" zusammen mit Thomas Hampson in der Stadthalle aufgetreten – , die gemeinsam mit Dieter Borchmeyer, Emeritus der Heidelberger Germanistik und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, die gehaltvolle Lesung zu einem Erlebnis machte. Mit von der Partie war der Pianist Bernhard Maier, der teils feinfühlig, teils dramatisch, die sprachgewaltigen Texte mit dazu korrespondierenden Kompositionen von Chopin, Scarlatti und Peerson illustrierte.

Mit "Chopin", einem feinsinnig-assoziierenden Prosastück, als Auftakt gab das gut aufeinander eingespielte Duo lohnende Einblicke in den nicht unkomplizierten Gedankenkosmos des Literaten, der zu den originellsten Gestalten der literarischen Moderne zählt. Der Meister der kleinen Form, den man heute (zu seinen Lebzeiten erst recht) als gescheiterte Existenz bezeichnen würde, ließ es in seinen Geschichten oft schneien. Die rezitierte "Weihnachtsgeschichte" war dafür ein gutes Beispiel, und Sunnyi Melles, die in der Schweiz aufgewachsen ist, servierte den in schwyzerischem Idiom vorgetragenen Essay über das Ein- und Zuschneien als wahres Kabinettstückchen: genialer Text, einfallsreiche Wortspielereien und kongenial gelesen. Da hätte Walser, dessen Todestag sich im vergangenen Dezember zum 50. Male jährte, begeistert applaudiert. Die Wortfindungen des Autors, dessen Assoziationskraft keine Grenzen kannte, der es in seiner "Riesin" "beineln", "ameiseln" und "abenteuern" lässt, war ein exakter Beobachter seiner Umwelt, der die Schrecken der Existenz im Alltäglichen entdeckte und sie mit schaurigem Humor sezierte. Das ließ Dieter Borchmeyer, der sich schon mancherlei Meriten als Rezitator erwarb und Robert Walser als "Orpheus aller Zurückgesetzten" apostrophierte, in seiner Textinterpretation mehrfach durchscheinen.

Höhepunkt seiner Vortragskunst war der bravourös servierte Monolog "Nervös". Elaborierte Prosa erlebten die aufmerksamen Zuhörer auch in dem Mikrogramm "Die Stadt", in der absurd-grausigen Geschichte "Der Mann mit dem Kürbiskopf", die Sunnyi Melles fast naiv, dadurch umso wirkungsvoller zelebrierte und in dem Text "Welt", einer dichterischen Variante des widersinnigen "Schnitzelputzhäusel". Zum Abschluss trugen die zwei Sprachartisten mit "Basta" eine virtuose Endlos-Suada über das für einen guten Bürger zu anstrengende Denken vor, das er nach Meinung des hinterlistigen Dichters lieber den Staatsmännern überlassen sollte.

Die Neujahrs-Veranstaltung der Heidelberger Goethe-Gesellschaft sollte als implizite Aufforderung verstanden werden, den von manchen Literaturfreunden vernachlässigten Robert Walser wieder zu entdecken.

Heide Seele
©Rhein-Neckar-Zeitung



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