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Deutschland – der hilflose Vermittler

26. Januar 2007

Warum sich die Ziele für EU-Präsidentschaft und G8-Vorsitz schwer umsetzen lassen – Von Detlef Junker, Gründungsdirektor des Heidelberg Center for American Studies


Durch die Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen entstand 1990 fast das beste aller möglichen Deutschlands: Ein demokratischer Staat mittlerer Größe in der Mitte Europas, der seine Interessen nur auf friedlichem Wege, nur in Zusammenarbeit mit anderen Staaten und nur im Rahmen internationaler Institutionen verfolgt.

Dieses außenpolitische Ideal einer europäischen, atlantischen, ja globalen "Zivil- und Friedensmacht" gründet in den Bedingungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages und in der Verneinung der deutschen Vergangenheit. Die Deutschen wissen nach der Erfahrung zweier Weltkriege und der Blockpolitik im Kalten Krieg, dass Deutschland zu klein für eine Hegemonial-, gar Eroberungspolitik in Europa ist – und für seine Nachbarn zu groß, um seine Interessen im nationalen Alleingang durchzusetzen. Gegen dieses Ideal gibt es deshalb in Deutschland, von wenigen Rechtsradikalen abgesehen, keine Opposition – auch nicht gegen Artikel 26 des Grundgesetzes, der einen Angriffskrieg verbietet, oder gegen Artikel 24. Dieser ermächtigt Deutschland, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Organisationen zu übertragen und zur Wahrung des Friedens Systemen kollektiver Sicherheit wie der UNO, der NATO oder einer Europa-Armee beizutreten.

Aus diesem rechtlich verankerten Ideal kann allerdings nicht abgeleitet werden, wie die deutsche Außenpolitik in einer grundlegend veränderten Welt das tun soll, was man von der Außenpolitik eines Staates erwartet: nämlich die Sicherheit, die Wohlfahrt und die Rechte seiner Bürger in und gegenüber der Außenwelt zu verteidigen und zu fördern.


Putin beginnt, mit Europa Katz und Maus zu spielen


Was angesichts der Umwälzungen der Weltpolitik seit 1990 die nationalen Interessen Deutschlands sind und wie sie erfolgreich vertreten werden können, steht nicht im Himmel über Berlin geschrieben, sondern muss in der politischen Auseinandersetzung entschieden werden. Die nationalen Interessen zu definieren ist deshalb so schwer, weil die Deutschen es seit 1990 mit weltgeschichtlichen Veränderungen zu tun haben, die sie kaum beeinflussen können, auf die sie aber reagieren müssen. Sie durchzusetzen ist deshalb so schwer, weil die deutsche Regierung allein fast nichts mehr erreichen kann, sondern alles in wechselnden internationalen Konstellationen aushandeln muss. Ein Heer von deutschen Politikern und Diplomaten ist ständig damit beschäftigt, in Dauerdiplomatie Herausforderungen zu bewältigen, die ständig wechseln. Die wichtigsten Veränderungen seien in vier Problemkreisen zusammengefasst.

Erstens: Der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums markiert, wenn man die Sowjetunion zu Europa zählen will, einen Wendepunkt Europas, nämlich das Ende der europäischen Kolonialreiche und der Versuche, Europa zu unterjochen: Das Osmanische und Habsburgische Reich, Nationalsozialismus und Kommunismus, die Kolonialreiche der Engländer, Franzosen, Spanier, Portugiesen, Belgier und Holländer – alle diese Imperien sind untergegangen. Nur weil die klassischen europäischen Nationen, mit kräftiger amerikanischer Hilfe, zurückgestutzt und damit weltgeschichtlich marginalisiert wurden, waren die Europäer überhaupt fähig, das revolutionäre Projekt der Europäischen Union im Westen zu beginnen und seit 1990 nach Mitteleuropa, Osteuropa und Südosteuropa voranzutreiben, eben die gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung Europas.

Deshalb ist Europa seit 1990 zum entscheidenden Bezugspunkt deutscher Außen- und Innenpolitik geworden. Auf diesem Feld hat die Bundesrepublik alle säkularen Entscheidungen mitgetragen. Heute allerdings steckt das Projekt Europa, und damit auch die deutsche Außenpolitik, in einer schweren Krise: Die Reform der Entscheidungsstrukturen kommt nicht voran, der Entwurf einer gemeinsamen Verfassung ist gescheitert. Eine gemeinsame Außen-, Sicherheits-, Einwanderungs-, Klima- und Energiepolitik, die diesen Namen verdient, gibt es nicht. Putins Russland beginnt, mit Europa Katz und Maus zu spielen. Die Erweiterung Europas um die Türkei bleibt ein explosives Problem. Zugleich wachsen der Unmut und der Widerstand in der deutschen Bevölkerung, weil die Summe der europäischen Entwicklungen sie unter einen Anpassungsdruck setzt, der Angst und Unsicherheit verbreitet.

Zweitens: Eine weitere weltgeschichtliche Entwicklung, auf die die deutsche Außenpolitik nur sehr geringen Einfluss nehmen kann, ist das seit 1990 grundlegend veränderte und verschlechterte Verhältnis zu den USA. Das liegt einerseits an der Unfähigkeit Europas zu einer gemeinsamen Außenpolitik, andererseits an dem Entwurf einer unilateralen Pax Americana, besonders in der Amtszeit von Präsident George W. Bush, der lange meinte, auf eine europäische Unterstützung amerikanischer Weltpolitik weitgehend verzichten zu können. Die Arroganz amerikanischer Macht traf auf die Arroganz europäischer Ohnmacht. Auch das Scheitern der amerikanischen Politik im Irak hat am Bedeutungsverlust Europas nichts geändert.

Jeder, der einmal länger in Washington gelebt hat, erfährt unmittelbar, was der Gemeinplatz bedeutet, die USA hätten einen globalen außenpolitischen Interessenradius. Die muslimisch-arabische Problemzone, Asien, insbesondere die aufsteigende Weltmacht China, aber auch Japan, Indien und Pakistan, der Irak, der Iran und Nordkorea, der israelisch-palästinensische Konflikt, die Entwicklung in Russland und in Zentralasien, gelegentlich auch die Entwicklungen in Lateinamerika und Afrika, die Probleme des Terrorismus, des asymmetrischen Krieges, der Massenvernichtungswaffen und des Drogenhandels beschäftigen die außenpolitische Entscheidungselite und die US-Medien weit mehr als das vergleichsweise befriedete Europa.

In den Korridoren der Macht in Washington wird fast reflexhaft die Frage gestellt: Was kann und will Europa, insbesondere Deutschland, zur Lösung dieser Probleme beitragen? Diese Frage wird oft mit dem Vorwurf gekoppelt, dass das vergleichsweise reiche Europa handlungsunfähig sei, den Kopf in den Sand stecke und sich als Trittbrettfahrer der Weltgeschichte eingerichtet habe.

Drittens: Während die wiedervereinigte Bundesrepublik in Europa ein zentraler Akteur ist, die gegenüber der Supermacht USA kaum noch über Einfluss verfügt, gibt es auf einem dritten Feld Handlungsbedarf, der sich dem Zugriff der Nationalstaaten, auch der Bundesrepublik, völlig zu entziehen scheint, obwohl die Folgen auf die Bürger der Bundesrepublik massiv zurückschlagen und sie oft in ein Gefühl erschreckter Ohnmacht versetzen, nämlich die Folgen dessen, was wir "Globalisierung" nennen.

Gemeint ist mit Globalisierung die rapide Vermehrung, Verdichtung und Beschleunigung grenzüberschreitender Interaktionen gesellschaftlicher, nicht-staatlicher Akteure; gemeint ist die Verflechtung von Wirtschaften, Unternehmen, Finanzmärkten, von Wissen, Kommunikation, Transport und Gütern, aber auch die Globalisierung von organisiertem Terror, organisierter Kriminalität, von illegaler Einwanderung, und das alles im Zeichen von Internet und Cyberspace. Auch die Globalisierungsgegner haben sich inzwischen globalisiert, wie ihre fernsehgerechten Proteste bei internationalen Konferenzen zeigen.

Durch die Folgeprobleme der Globalisierung entsteht ein Handlungsbedarf, der weder von einem Nationalstaat noch von internationalen Organisationen befriedigt werden kann. Überall gibt es Probleme, Konflikte und Widersprüche zuhauf. Nur ein Beispiel: Dem verschärften globalen Wettbewerb, der Abwanderung von Industrien in Billiglohnländer und dem Abbau von Arbeitsplätzen ist mit den klassischen Mitteln von Außenpolitik nicht beizukommen, er verstärkt aber den innenpolitischen Druck innerhalb unseres Staates, mit den sozialen Kosten der Globalisierung fertig zu werden.

Viertens: In einem besonders diffusen Licht erscheint die deutsche Sicherheitspolitik im militärischen Sinne. Einerseits, so heißt es seit 1990, sei Deutschland zum ersten Male in seiner Geschichte nur von Freunden umgeben. Andererseits wurde in den letzten Jahren der deutsche Sicherheitsradius global entgrenzt, nach dem Motto "Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt" oder "Das Einsatzgebiet der Bundeswehr ist die ganze Welt". Kritiker sehen in dieser Entgrenzung einen neuen "Wilhelminismus", der überall in der Welt dabei sein wolle.

Begründet wird der Satz, dass das Einsatzgebiet der Bundeswehr die ganze Welt sei, gemeint ist natürlich potentiell die ganze Welt, durch eine gegenüber dem Kalten Krieg radikal verwandelte Sicherheitslage und Sicherheitsstrategie: Auch außerhalb des Natogebietes müsse man vorbeugend und stabilisierend verhindern, dass gefährdete Länder und Staaten von Terrororganisationen beherrscht würden, die versuchen könnten, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu kommen. Unausgesprochen liegt diesem Denkansatz eine Art von Domino-Theorie zugrunde, die die Politiker der USA und der Sowjetunion im Kalten Krieg entscheidend geprägt hatten: wenn z.B. der Domino Afghanistan falle, fallen womöglich auch andere Dominosteine, die näher an der Bundesrepublik liegen.

Wenn diese Analyse stimmte, ergäbe sich die größte Paradoxie und Schwäche der deutschen Außenpolitik: Die Bundeswehr ist für eine solche Aufgabe viel zu klein, hoffnungslos unterfinanziert und teilweise schlecht ausgerüstet. Sie kann mit Ach und Krach 10000 Soldaten für humanitäre und friedenserhaltende Maßnahmen bereitstellen, nachdem die Waffen geschwiegen haben. Auf keinem Feld der deutschen Außenpolitik gibt es so viel Wirklichkeitsverweigerung wie in der Diskussion um militärische Einsätze. Was die in exponierter Lage in Afghanistan eingesetzten deutschen Soldaten angeht, so kann man nur hoffen, dass diese im Ernstfall von den Amerikanern ausgeflogen werden und die Nato nicht an der Aufgabe in Afghanistan zerbricht.


Die Handlungsfähigkeit der Außenpolitk hat abgenommen


Was bedeuten diese grundlegenden Veränderungen seit 1990 für die deutsche Außenpolitik? Zunächst und vor allem, dass ihre Handlungsfähigkeit abgenommen hat. Deutschland hat nicht die Kraft, als vermeintliche Zentralmacht, als bevölkerungsreichster und wirtschaftlich bedeutendster Staat Europas, dem Alten Kontinent Handlungsfähigkeit zurückzugeben und zugleich zum gewichtigen Partner Amerikas zu werden.

Die Stärkung Europas und die Verbesserung der Beziehungen zu den USA sind noble und richtige Ziele der Bundesregierung und der Bundeskanzlerin. Es grenzte allerdings an ein Wunder, wenn die Bundesrepublik während des halben Jahres der EU-Präsidentschaft und des einjährigen Vorsitzes der G8-Staaten irgendeines der langen Liste von Problemen einer Lösung näherbringen könnte, die Angela Merkel bei ihrem Blitzbesuch in Washington Präsident George W. Bush vorgelegt hat. Im Lichte einer historischen Lagebeurteilung sollten wir uns eingestehen, dass die "Zivil- und Friedensmacht" Deutschland auch im nächsten Jahr ein hilfloser Vermittler bleiben wird.

© Rhein-Neckar-Zeitung Heidelberg


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Prof. Dr. Detlef Junker
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Dr. Michael Schwarz
Pressesprecher der Universität Heidelberg
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