Was ist »der Bologna-Prozess«?

 

1999 unterschrieben in Bologna 29 BildungsministerInnen eine Absichtserklärung, die die Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums bis 2010 vorsieht. Seitdem treffen sich die MinisterInnen regelmäßig, um die nächsten Ziele abzusprechen. ‚Den‘ Bologna-Prozess gibt es also überhaupt nicht. Es gibt keine parlamentarisch verabschiedeten  Gesetze, die einzuhalten sind, sondern nur eine Reihe von Vereinbarungen. In einigen Landeshochschulgesetzen wurden Regelungen festgeschrieben; umgesetzt wird aber vor Ort – je nachdem, was dort durchgesetzt werden soll. „Die Fakultäten haben die Ausgestaltung der Lehrpläne selbst in der Hand“ (Ex-Rektor Hommelhoff).

Elemente des Prozesses sind: Schaffung vergleichbarer Abschlüsse, Einrichtung zweistufiger Abschlüsse, Einführung eines Leistungspunktesystems, Qualitätssicherung auf europäischer Ebene und Verbesserung der Mobilität. Doch die Umsetzung geschieht unterschiedlich, oft katastrophal schlecht, und die ursprünglichen Ziele werden dabei oft aufgegeben.

Tücken des sogenannten Bologna-Prozesses:

1. Punktesammeln statt Studieren

Im European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS) wird bei der Planung eines Studiengangs berücksichtigt, wie viel Zeit man durchschnittlich für aktive Teilnahme, Vor- und Nachbereitung einer Veranstaltung aufwendet. Die Einheit 1 „Leistungspunkt“ (entspricht ca. 30 h Zeitaufwand) ist hierbei unglücklich gewählt. Es geht nicht um Leistung, sondern um die Vergleichbarkeit von Studiengängen sowie um Arbeitsschutzbestimmungen (hochgerechnet kommt man auf die jährliche gesetzliche Arbeitszeit).

Sehr oft wird in sechs Semester BA ein alter Studiengang gepackt. Die Folge: überfrachtete Studiengänge, die krank machen und Studierende, die sich nicht mehr für Themen von Veranstaltungen, sondern für die Punkte interessieren. Für Eigenstudium, Engagement außerhalb des Studiums oder den Blick über den Tellerrand bleibt keine Zeit mehr.

Aus Fehlern kann man auch nicht mehr lernen: da fast alle Studienleistungen in die Endnote einfließen, wird man lieber keine ausgefallenen Fragestellungen bearbeiten und Misserfolge nicht als Lernwege sehen, sondern als Bedrohung fürs weitere Studium.

2. Modularisierung als Überregulierung und Prüfungsinflation

In der Theorie bedeutet Modularisierung die inhaltliche und methodische Abstimmung von Veranstaltungen, die mit einer Modulprüfung abgeschlossen werden. Dabei sollen die Lernenden und die jeweils erarbeiteten Lernergebnisse im Mittelpunkt stehen. Die Praxis sieht anders aus: kaum abgestimmte Veranstaltungen, die einzeln abgeprüft werden, d.h.: Verschulung und Prüfungsinflation. Dies wird durch studienbegleitende Abschlussprüfungen verschlimmert – da fast alle Teilnoten in die Endnote eingehen, gibt es nicht mehr einen Prüfungszeitraum am Studierende, sondern permanenten Prüfungsdruck. Aufgrund der Verschulung kann man zudem den Hochschulort nicht mehr wechseln, d.h. die Mobilität wird gerade nicht erhöht.

3. Wissenshäppchen statt Wissenschaft

Eine große Gefahr ‚des‘ Bolognaprozesses liegt darin, dass es nicht um das geht, was Studierende können, sondern um abprüfbares Wissen, das in standardisierten Veranstaltungen dargeboten und in Prüfungen reproduziert wird. Dies versperrt sich jeder Fortentwicklung und ist von vorneherein nicht offen für neue Probleme und Sichtweisen jenseits des Mainstreams. In der Folge werden zudem Stellen und Forschungsmittel für ‚Rand‘-Bereiche gestrichen.

4. Verwertbarkeit (employability) als Ziel des Studiums

Im März 2000 verabschiedeten die EU-Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in Lissabon die sogenannte Lissabon-Strategie. Sie sieht vor, die EU innerhalb von zehn Jahren, also bis 2010, zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Das Studium – und jede Form der Bildung – wird damit für kurzfristige und rein wirtschaftspolitische Zwecke instrumentalisiert, die Persönlichkeitsbildung wird nebensächlich und durch den Erwerb sogenannter soft skills ersetzt, Ziel des Studiums ist die Verwertbarkeit der AbsolventInnen im Arbeitsmarkt.

5. Zweistufigkeit und Auslese

Der berufsqualifizierende Bachelor (BA) soll nach mindestens 6, der wissenschaftsorientierte Master (MA) nach weiteren mindestens 2 Semestern zu einem Abschluss führen. In Deutschland soll nur ein Teil der BA-AbsolventInnen zum Master zugelassen werden – sie haben ja angeblich bereits einen „berufsqualifizierenden“ Abschluss. Diese Bestimmung, die in keinem „Bologna-Papier“ vorgesehen ist, wurde in Deutschland bereits in den 60er Jahren angedacht, um ein Zweiklassenstudium zu ermöglichen. Diese Auslese ist unsozial und erzeugt weitere Probleme: Stichwort Zulassungschaos. Erste Beobachtungen lassen befürchten, dass der Frauenanteil beim Übergang zum Master sinkt.

 

Studierende müssen sich endlich umfassend und selbstbestimmt bilden können – dies war auch in den „alten“ Studiengängen nur selten möglich. Die existierenden Studiengänge müssen daher komplett überarbeitet werden. Die Studiendauer darf hierbei nicht das entscheidende Kriterium sein. Die lange überfällige Reform des Studiums kann sinnvoll nur vor dem Hintergrund einer neuen Lehr- und Lernkultur geschehen. Lehre wird nicht innovativ durch sogenannte „neue“ Lehrformen oder zusätzlichen Medieneinsatz: Schlechte Aufgaben werden nicht dadurch besser, dass man sie am Computer oder in Gruppen löst! Lehre wird zum Studium, wenn motivierte Lehrende und Studierende gemeinsam Lehr-Lern-Arrangements entwickeln. Wissens- und Methodenvermittlung müssen durch Problem- und Kompetenzorientierung ergänzt werden - auch bei den Leistungsnachweisen muss dies berücksichtigt werden.

Der Übergang zum MA darf nicht beschränkt werden. Inzwischen gibt es eine E-Petition hierfür: https://epetitionen.bundestag.de/index.php?action=petition;sa=details;petition=5178

Hierzu bedarf es grundsätzlich fairer Arbeitsverhältnisse, ausreichender Ausstattung, entsprechender Ausbildung der Lehrenden, einer bedarfsdeckenden Studienfinanzierung und gegenseitiger Wertschätzung aller Beteiligten – sei es in Lehrveranstaltungen oder in einzurichtenden demokratischen Gremien.

vom Referat für Studienreform und hochschulpolitische Entwicklungen der FSK

 

erschienen in un!mut no. 199: Themenheft Bildungsstreik vom 2. Juli 2009

Letzte Änderung: 27.11.2011
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