Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Klonkrebs für die Krebsforschung

Heidelberger Wissenschaftler haben eine neue Tierart entdeckt: Der Marmorkrebs (Foto: Chris Lukhaup, DKFZ) ist vermutlich vor 30 Jahren in einem einzigen Schritt aus dem Everglades-Sumpfkrebs hervorgegangen und hat sich seither weltweit verbreitet. Alle bisher untersuchten Tiere sind weiblich, pflanzen sich ohne männliche Hilfe durch Jungfernzeugung fort und weisen exakt das gleiche Erbgut auf, sind also Klone. Daher müssen durchaus vorhandene Unterschiede einzelner Exemplare in Aussehen oder Verhalten auf epigenetische Vorgänge zurückzuführen sein. Weil auch die Krankheit Krebs häufig epigenetische Ursachen hat, ist der Marmorkrebs damit ein höchst interessantes Modell für die Krebsforschung.

Prof. Dr. Frank Lyko, Wissenschaftler im Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und am Exzellenzcluster „Cellular Networks“ der Universität Heidelberg, interessiert sich für Epigenetik. PD Dr. Günter Vogt, ein Zoologe der Ruperto Carola, hatte dem Wissenschaftler vom DKFZ den Tipp gegeben, sich mit dem Marmorkrebs zu beschäftigen. „Ich hatte vermutet, dass sich dieser Krebs durch Klonen fortpflanzt, weil es von ihm ausschließlich Weibchen gibt“, erzählt Vogt: „Die Tiere müssten daher alle das gleiche Erbgut besitzen und ihre große Vielfalt in Aussehen oder Verhalten könnte nur auf epigenetische Ursachen zurückzuführen sein.“

Anders als in der Genetik geht es in der Epigenetik nicht um Fehler im Erbgut, die dazu führen, dass ein Gen ein falsches Produkt liefert, komplett fehlt oder mehrfach vorhanden ist. Vielmehr beschäftigt sich die Epigenetik mit kleinsten Veränderungen am Erbgut, die zur Folge haben, dass ein Gen stärker oder weniger stark aktiv ist. Das spielt eine Rolle bei der Anpassung des Organismus an verschiedene Umweltbedingungen, wie etwa die Ernährung, die Populationsdichte oder die Temperatur.

„Epigenetische Faktoren können aber auch das Krebsrisiko beziehungsweise den Verlauf einer Krebserkrankung beeinflussen“, erklärt Frank Lyko. So konnten Kollegen aus dem DKFZ erst kürzlich zeigen, dass beim Medulloblastom, einem aggressiven Hirntumor bei Kindern, epigenetische Faktoren die Hauptrolle spielen. „Um die Grundlagen der Epigenetik zu verstehen, benötigen wir Modelle, und da sind die typischen ‚Haustiere‘ der Krebsforscher wie Maus oder Ratte weniger gut geeignet“, sagt Lyko. Und deshalb wurde der Krebsforscher nun zum „Krebs-Krebsforscher“.

Der Marmorkrebs ist ein Süßwasserkrebs, der weltweit verbreitet ist: Auf Madagaskar vermehrt er sich derzeit so schnell, dass er nicht nur eine ökologische sondern auch eine ökonomische Bedrohung darstellt, weil die Tiere die Reisfelder abfressen. Sie kommen in süddeutschen Badeseen vor, in Schweden, Japan und in jedem Aquarienhandel. Frank Lyko holte die Tiere ins Labor und bestätigte die Vermutung von Zoologe Günter Vogt: „Wir haben bei vier Tieren aus verschiedenen Quellen das Erbgut entschlüsselt. Alle Tiere waren identisch, wir haben keinen einzigen genetischen Unterschied gefunden. Es handelt sich beim Marmorkrebs also tatsächlich um einen Klon, bei dem Millionen von Tieren aus einem einzigen Ursprungskrebs hervorgegangen sind.“

Der Marmorkrebs hat sich aus dem Everglades-Sumpfkrebs entwickelt. Den züchten Aquarianer seit vielen Jahren. Vermutlich hat ein Kälteschock bei einem Weibchen verhindert, dass die Eizellen eine Reifeteilung durchlaufen, bei der der Chromosomensatz halbiert wird. Die Krebse legen dann diploide Eier mit doppeltem Chromosomensatz. Werden diese befruchtet, entstehen triploide Krebse – mit dreifachem Chromosomensatz. Diese sind zwar größer als ihre Eltern, jedoch normalerweise steril und können keine Nachkommen mehr bekommen. „Im Fall des Marmorkrebses hat sich aber etwas im Erbgut ereignet, wodurch die Tiere die Fähigkeit erlangt haben, sich durch Jungfernzeugung fortzupflanzen“, erläutert Lyko. Die Tiere legen triploide Eier, die sich alleine und ohne Befruchtung zu vollständigen Krebsen entwickeln.

Die Wissenschaftler vermuten, dass dieses „Ereignis im Erbgut“ dazu geführt hat, dass sich der Marmorkrebs als eine eigene Art etabliert hat, was Biologen als freiwillige fruchtbare Fortpflanzungsgemeinschaft bezeichnen. Um das zu überprüfen, setzten sie Marmorkrebsweibchen mit Everglades-Sumpfkrebsmännchen zusammen. Frank Lyko: „Die Tiere haben auch sofort miteinander kopuliert, aber als Nachkommen haben wir ausschließlich reine Marmorkrebse erhalten. Das genetische Material der Florida-Sumpfkrebse fand sich nirgends. Ob das daran lag, dass keine Befruchtung stattfindet oder dass das Spermienerbgut nach der Befruchtung nicht mehr verwendet wird, wissen wir noch nicht. Aber auf jeden Fall handelt es sich beim Marmorkrebs um eine eigene Art.“

Lyko und seine Kollegen durften daher als Entdecker der Art dem Marmorkrebs einen lateinischen Namen geben. Sie entschieden sich für „Procambarus virginalis“, was soviel wie „jungfräulicher Krebs“ bedeutet.

Die Wissenschaftler stellten bei ihren Untersuchungen auch fest, dass der Marmorkrebs im Vergleich mit dem Everglades-Sumpfkrebs nur etwa die 1,4-fache Menge an Erbmaterial besitzt. Erwartet hatten sie bei triploidem Chromosomensatz die 1,5-fache Menge. Es scheint bei der Artbildung also etwas verloren gegangen zu sein. „Jetzt untersuchen wir, welche Teile des Erbguts aus dem Florida-Sumpfkrebs beim Marmorkrebs fehlen, vielleicht liegt hier der Schlüssel zur Jungfernzeugung“, so Lyko.

Bevor Frank Lyko den Marmorkrebs ins Labor holte, hatte seine Gruppe schon einige Tiermodelle getestet, bei denen die Epigenetik eine große Rolle spielt: Etwa Bienen, bei denen die mit Gelee Royal gefütterten Larven zur Bienenkönigin heranwachsen – mit Nektar allein aber nur kleine Arbeiterinnen werden. Oder Heuschrecken, die allein im Käfig dezent grün, in Schwarmhaltung jedoch auffällig braun-gelb getönt sind. Beide Tiere indes erwiesen sich nicht als geeignetes Modell für die Krebsforschung, weiß Frank Lyko: „Bienen lassen sich nicht im Labor züchten. Und vor den Heuschrecken ekeln sich alle.“

Günter Vogt, Cassandra Falckenhayn, Anne Schrimpf, Katharina Schmid, Katharina Hanna, Jörn Panteleit, Mark Helm, Ralf Schulz, Frank Lyko: The marbled crayfish as a paradigm for saltational speciation by autopolyploidy and parthenogenesis in animals. Biology Open, 2015, doi: 10.1242/bio.014241