Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Zwischen den Aktendeckeln steckt die Dokumentation eines Verbrechens

Von Tina Schäfer

Aufnahmebögen, Diagnosehefte, Gutachten, Korrespondenz, Baupläne, Verwaltungsakten, Nachlässe – Zehntausende von Unterlagen aus der Geschichte der Psychiatrischen Universitätsklinik lagern in Schränken im Dachgeschoss des Gebäudes. Sie bilden das Historische Archiv der Institution.

Ein Teil der Personaldokumente aus der Gründungszeit der „Großherzoglich Badischen Universitäts-Irrenklinik“ ab 1878 ist ebenso archiviert wie Akten aus beiden Weltkriegen, als das Gebäude der Psychiatrie als Lazarett genutzt wurde. Zu den bedrückenden Zeugnissen aus der NS-Zeit gehören Forschungsunterlagen zur sogenannten Kinder-Euthanasie. Zahlreiche Gutachten, etwa zur Schuldfähigkeit von Angeklagten in Strafprozessen oder Beurteilungen zur Entschädigung von Verfolgten des Nationalsozialismus, aus den 1950er- und 1960er-Jahren sind ebenfalls Teil des Archivs. Auch Aufnahmekarten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden aufbewahrt. Der Bestand umfasst ferner Akten aus dem Sanatorium Neckargemünd, wo um 1900 viele jüdische Bürger behandelt wurden – „Dokumente einer verschwundenen Welt“, so Dr. Maike Rotzoll, die das Archiv betreut.

„Es ist großartig, dass die Klinik so geschichtsbewusst ist, diese Bestände zu erhalten und für wissenschaftliche Zwecke nutzbar zu machen“, betont die Leiterin des Archivs. Das Forschungsinteresse gilt vielfach der Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und der Entwicklung der modernen Psychiatrie. Zudem besteht eine enge Zusammenarbeit mit der Sammlung Prinzhorn: So ist etwa deren aktuelle Ausstellung „Uniform und Eigensinn“ zu Militarismus, Weltkrieg und Kunst aus dieser Kooperation hervorgegangen.

In der Lehre werden einzelne Archivalien für Seminare zur Medizingeschichte herangezogen. Gelegentlich erhalten auch Schulklassen Einsicht in die Dokumente. „Leider fehlen die Ressourcen, um dem Interesse der Öffentlichkeit mit einem adäquaten Angebot zu begegnen“, bedauert Maike Rotzoll. Ein Ziel ist die Erschließung und Katalogisierung der sehr diversen Bestände. Auch die Digitalisierung mancher schlecht erhaltener Dokumente soll in Zukunft angegangen werden.

Fotografie von Anita A. aus Mannheim, die mit vier Jahren umgebracht wurde.
Bild: Archiv

Der unscheinbare Stapel blauer Aktenmappen, die mit F1 bis F52 durchnummeriert sind, sieht nach gewöhnlicher Bürokratie aus. Zwischen den Aktendeckeln jedoch steckt die Dokumentation eines Verbrechens: 1943/44 wurden in der Psychiatrisch-Neurologischen Klinik Heidelberg 52 Kinder im Alter von drei bis 17 Jahren untersucht, die an verschiedenen Formen von „Schwachsinn“, also an geistiger Behinderung litten. Das „Forschungsprojekt“ im Auftrag der „Euthanasiedienststelle“ in Berlin sollte Kriterien entwickeln, wann Kinder als „lebensunwert“ gelten und Eltern zur Sterilisierung gezwungen werden sollten.

Die „Forschungskinder“ kamen vor allem aus einer „Erziehungs- und Pflegeanstalt für Geistesschwache“ in Mosbach in die Heidelberger Klinik. Das jeweilige Akteninhaltsverzeichnis listet den typischen Ablauf auf: Psychologische Tests und körperliche Untersuchungen, darunter auch Röntgenaufnahmen des Gehirns, sowie eine arbeitstherapeutische Beurteilung gehörten dazu. Nach vier bis sechs Wochen wurden die Kinder zunächst zurückverlegt und später in die „Kinderfachabteilung“ der Landesheilanstalt Eichberg bei Wiesbaden überführt. Viele von ihnen wurden in dieser Einrichtung des NS-Euthanasieprogramms nach weiteren Untersuchungen ermordet. Dazu wurde das Beruhigungsmittel Luminal eingesetzt, das die Atmung erschwert und tödliche Lungenentzündungen bewirkt. 21 der 52 Kinder haben das „Forschungsprojekt“ nicht überlebt.

Eine Sektion des Gehirns – dies wiederum in Heidelberg – war laut Akteninhaltsverzeichnis ebenfalls standardmäßig vorgesehen. Allerdings wurden nur drei Gehirne tatsächlich untersucht. Die Wirren des ausgehenden Krieges verhinderten den weiteren Organtransport und letztlich auch den Abschluss des „Projekts“. Ein Mahnmal vor dem Eingang der Klinik erinnert an das Schicksal der 21 ermordeten Kinder. Am 27. Januar, dem jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, soll jetzt eine Hinweistafel installiert werden, die die näheren Umstände erläutert.

www.uni-heidelberg.de/unispiegel/psychiatrie.html

Siehe auch: Gedenkstunde für die Kinder als Opfer der medizinischen Forschung in der NS-Zeit