Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Allein unter Vögeln

Von Ute von Figura

Die Alltagsgeräusche schwellen zu einem dröhnenden Lärm an, alles um ihn herum scheint sich rasend schnell zu bewegen. Moritz Mercker sitzt auf dem Beifahrersitz. Der Verkehr um ihn herum droht ihn zu überwältigen. Sieben Monate Einsamkeit hat er hinter sich – sieben Monate nur er, das unendliche Meer und Abertausende Vögel. Gerade befindet er sich auf dem Weg zurück in die Zivilisation. Ein paar Wochen später tritt der Mathematiker und Hobby-Ornithologe an der Universität Heidelberg eine Stelle als Postdoc an.

Eineinhalb Jahre ist es nun her, dass Moritz Mercker (Fotos: privat) die Tür des kleinen Stelzenhäuschens auf der Nordsee-Insel Trischen ein letztes Mal hinter sich verriegelte, um die Insel im Winter sich selbst zu überlassen. Von Mitte März bis Mitte Oktober 2012 arbeitete er als Vogelwart für den Naturschutzbund Deutschland auf Trischen: einem „Haufen Sand im Meer“, wie er sagt. Mehrere Monate nahezu völlig abgeschieden von der Außenwelt, ohne fließendes Wasser, ohne Heizung, lediglich mit ein wenig Strom für Internet und Telefon, erzeugt durch sechs kleine Solarzellen und dementsprechend wetterabhängig.

Was für viele wie ein Albtraum klingt, bedeutete für den gebürtigen Oldenburger die Erfüllung eines Lebenstraums: „Trischen ist das Paradies für die Vogelbeobachtung.“ Jedes Jahr fliegen Zigtausende Zugvögel über die Nordsee – im Frühjahr Richtung Sibirien, im Herbst Richtung Afrika. Da kommt das kleine halbmondförmige Eiland gerade recht, um Kraft für die lange Reise zu sammeln.

Über die Sommermonate dient Trischen vielen Vogelarten als Brutplatz, darunter Rotschenkeln, Regenpfeifern, Silbermöwen oder auch Wanderfalken. Um sie nicht zu stören, ist das Betreten der Insel verboten. Einzige Ausnahme: der Vogelwart. Tag und Nacht verbringt er hier, ganz auf sich allein gestellt. Zu seinen Aufgaben gehört es, die beobachteten Vögel und Meeressäuger zu erfassen, das Watt zu vermessen und die Homepage der Insel zu pflegen.

Mit Begeisterung denkt Mercker an seine Zeit auf Trischen zurück: „Am liebsten wäre ich noch länger geblieben, aber sobald die Herbststürme kamen, musste ich zurück aufs Festland.“ Auch in den Sommermonaten bläst der Wind oft garstig über die Insel, ungebremst von Bäumen, Anhöhen oder Häusern. „Manches Mal hat es mich förmlich weggeknallt, wenn ich aus der Tür trat“, erinnert sich der 33-Jährige. An solchen Tagen erreichte nicht einmal mehr der pensionierte Krabbenfischer die Insel, der seit Jahren immer samstags mit Essensvorräten, Trinkwasser und Post vom Festland herüberschippert.

Die wöchentlichen Besuche des Versorgungsschiffs waren für Moritz Mercker denn auch der einzig direkte Kontakt zur Außenwelt. Dennoch habe er sich nie einsam gefühlt, nie sei ihm die Zeit zu lang geworden: „Im Gegenteil! Ich wusste, dass ich diese Erfahrung nur einmal im Leben mache und wollte das Maximum rausholen.“ Aus Angst vor Langeweile hatte er vor seiner Abreise noch vorsorglich einen großen Stapel Bücher eingepackt – nicht eines davon hat er in den sieben Monaten auf Trischen gelesen. „Außer das Vogelbestimmungsbuch“, räumt Mercker lachend ein, „das habe ich bestimmt Hundert Mal von vorne bis hinten durchgeblättert.“

Der Mathematiker weiß, dass nur wenige seine Leidenschaft für die Ornithologie vollends nachvollziehen können: „Mich faszinieren die Ästhetik der Vögel und die Lust am Sammeln. So richtig spannend wird es aber erst durch das Wissen um die Biologie der Tiere.“ Wenn er beispielsweise im Herbst ein Rotkehlchen sehe, das sich mit nur wenigen Gramm Fett auf den Rippen Richtung Afrika aufmache, erfülle ihn das mit Ehrfurcht: „Zu wissen, dass diese winzigen Geschöpfe jedes Jahr viele Tausend Kilometer zurücklegen, ist der Wahnsinn.“ Rund 150 Singvögel erkennt Mercker mittlerweile allein an ihrer Stimme, insgesamt 394 gesichtete Vogelarten verzeichnen seine Notizen bislang.

Das aufregendste Erlebnis auf Trischen war für Moritz Mercker die Entdeckung eines Grünlaubsängers – eines unscheinbaren Zugvogels, der in Indien überwintert und im Sommer gewöhnlich auf russischem Gebiet brütet. Nur vereinzelt kreuzen Exemplare dieser Art deutschen Boden. Umso begeisterter war der Hobby-Ornithologe, als er den kleinen Vogel eines Tages bei einer Tasse Kaffee plötzlich auf dem Geländer vor seiner Holzhütte erblickte. Erst habe er sich möglichst still verhalten, dann aber schnell seine Kamera gezückt, um den seltenen Anblick festzuhalten. „Vor Aufregung habe ich so gezittert, dass die ersten Bilder alle verwackelt sind“, erzählt er mit einem Lachen. Später konnte er unter einem Tarnnetz verborgen indes noch reichlich Fotos des Grünlaubsängers schießen.

Kein Wunder, dass Moritz Mercker die Rückkehr in den Alltag nach sieben Monaten allein unter Vögeln schwerfiel. Auf der Insel herrsche ein anderes Verhältnis zur Zeit, den Tagesablauf bestimmen Sonnenstand und Tide. An der Universität Heidelberg forscht der Mathematiker seit seiner Rückkehr in der Arbeitsgruppe „Angewandte Analysis und Modellierung in Biologie und Medizin“. Und nach Feierabend nutzt er seine mathematischen Kenntnisse, um die vielen Daten auszuwerten, die er und andere Vogelwarte auf Trischen gesammelt haben – die perfekte Verbindung von Vogelkunde und Mathematik, wie Mercker findet.

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