Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

50 Billionen Jahre lang aufgetaut

Hat das Universum als heißer Urknall begonnen oder taut es aus einem extrem kalten und fast statischen Zustand langsam auf? Prof. Dr. Christof Wetterich, Physiker an der Universität Heidelberg, hat einen theoretischen Ansatz entwickelt, der das seit fast 100 Jahren gängige Standardmodell der kosmischen Expansion durch ein alternatives Bild ergänzt. Die Urexplosion hat demnach nicht vor 13,8 Milliarden Jahren stattgefunden – der „Beginn des Universums“ dehnt sich vielmehr über einen unendlich langen Zeitraum in der Vergangenheit aus. Dabei nimmt die Masse aller Teilchen stetig zu. Statt zu expandieren, schrumpft das Universum über ausgedehnte Zeitabschnitte, wie der Heidelberger Wissenschaftler erklärt.

Den „Beginn des Universums“ beschreiben Kosmologen zumeist als Urknall. Je näher man zeitlich an den Urknall heranrückt, desto stärker krümmt sich die Geometrie von Raum und Zeit. Physiker nennen dies eine Singularität – der Begriff bezeichnet Gegebenheiten, deren physikalische Gesetze nicht definiert sind. Im Fall des Urknalls wird die Krümmung der Raumzeit unendlich groß. Kurz nach dem Urknall war das Universum extrem heiß und dicht.

Aber auch ein anderes Bild ist nach den Worten von Christof Wetterich möglich: Wenn die Massen aller Elementarteilchen mit der Zeit wachsen und die Gravitationskraft schwächer wird, könnte das Universum auch extrem kalt und langsam begonnen haben. Danach hat das Universum immer schon bestanden; und der früheste Zustand war fast statisch. Die Urexplosion dehnt sich über einen unendlich langen Zeitraum in der Vergangenheit aus. Der Wissenschaftler vom Institut für Theoretische Physik geht davon aus, dass sich die ersten heute indirekt beobachtbaren „Ereignisse“ vor 50 Billionen Jahren zugetragen haben – und nicht im Milliardstel eines Milliardstels einer Milliardstel Sekunde nach dem Urknall. „Eine Singularität gibt es in diesem neuen Bild des Kosmos nicht mehr“, so Professor Wetterich.

Wurden die Dichte-Variationen, aus denen die Strukturen des Universums entstanden sind, im Milliardstel eines Milliardstels einer Milliardstel Sekunde nach dem Urknall erzeugt oder vor 50 Billionen Jahren in einem schon immer existierenden Universum? Die Anisotropien der vom Weltraumteleskop „Planck“ beobachteten kosmischen Hintergrundstrahlung sind ein Schnappschuss des ältesten Lichts in unserem Universum. Das Bild zeigt die winzigen Temperaturschwankungen, die Regionen mit leicht unterschiedlichen Dichten entsprechen und somit die Ursprünge aller zukünftigen Strukturen darstellen – der heutigen Sterne und Galaxien.
Bild: ESA and the Planck Collaboration

Die Hypothese von Wetterich beruht auf einem Modell, das die Dunkle Energie und das frühe „inflationäre Universum“ durch ein einziges, zeitlich veränderliches Skalarfeld beschreibt. Danach wachsen alle Massen mit dem Wert des Feldes. „Dies erinnert an das kürzlich in Genf entdeckte Higgs-Boson; dieses Elementarteilchen hat die Physiker in der Vorstellung bestätigt, dass Teilchenmassen von Feldwerten abhängen und damit veränderlich sind“, erläutert der Heidelberger Wissenschaftler. In Wetterichs Ansatz sind alle Massen proportional zum Wert des sogenannten Kosmonfeldes, der im Laufe der kosmologischen Evolution zunimmt. Wetterich: „Natürliche Konsequenz dieses Modells ist das Bild eines Universums, das sich sehr langsam aus einem extrem kalten Zustand entwickelt und dabei über lange Zeitabschnitte schrumpft anstatt zu expandieren.“

Die bisherige Vorstellung vom Urknall wird damit aber nicht „ungültig“, wie der Professor betont: „Physiker sind es gewohnt, beobachtete Tatsachen in verschiedenen Bildern zu beschreiben.“ So kann Licht sowohl durch Teilchen als auch als Welle dargestellt werden. Wie Wetterich weiter darlegt, lässt sich sein Modell äquivalent im Bild des Urknalls beschreiben: „Dies ist sehr nützlich für viele praktische Vorhersagen zu den Konsequenzen, die sich aus diesem neuen theoretischen Ansatz ergeben. Stellt man allerdings die Frage nach dem ,Beginn‘ des Universums, so scheint die Beschreibung ohne Singularität eine Reihe von Vorteilen zu bieten. Und für das oft geäußerte Unbehagen, dass es doch auch vor dem Urknall etwas gegeben haben muss, gibt es in der neuen Beschreibung keine Grundlage mehr.“

www.thphys.uni-heidelberg.de/~wetteric

C. Wetterich: Hot big bang or slow freeze? arXiv:1401.5313 [astro-ph.CO]
C. Wetterich: Variable gravity Universe, Physical Review D 89, 024005 (6 January 2014), doi: 10.1103/PhysRevD.89.024005
C. Wetterich: Universe without expansion, Physics of the Dark Universe, Vol 2, Iss 4 (December 2013), 184-187, doi: 10.1016/j.dark.2013.10.002