Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Von einer religiösen Idee getrieben

Am Abend des Ersten Weihnachtstags des Jahres 800 wurde Karl der Große im Petersdom in Rom zum Kaiser gekrönt. Damit stieg er in die Riege der mächtigsten Herrscher der Geschichte auf. Anlässlich seines 1200. Todestags am 28. Januar 2014 wurde vielerorts in Deutschland mit Ausstellungen und Veranstaltungen an den Karolinger erinnert. Prof. Dr. Stefan Weinfurter (Foto: privat), Mittelalter-Experte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg und Leiter der „Forschungsstelle Geschichte und kulturelles Erbe“, hat zum Karls-Jubiläum eine umfassende Biographie veröffentlicht.

Heroische Sagengestalt, heiliger Nationalheld und Bildungsmäzen, aber auch grausamer Feldherr, gnadenloser Machtmensch und genusssüchtiger Herrscher – wie um so viele historische Persönlichkeiten ranken sich auch um Karl den Großen zahlreiche, teils widersprüchliche Mythen. Knapp ein halbes Jahrhundert lang, von 768 bis 814, regierte er das Frankenreich. Damit zählt er zu den einflussreichsten Akteuren der europäischen Geschichte. In seiner kürzlich erschienenen Biographie „Karl der Große. Der heilige Barbar“ (Piper) nähert sich Weinfurter der vielschichtigen Persönlichkeit des römisch-fränkischen Kaisers.

Karl Weinfurter IrKarl der Große gilt als Wegbereiter der christlichen Kirche und des Abendlandes. Deutsche wie Franzosen führen die Anfänge ihrer Nation auf den Frankenkönig zurück. „Jahrhundertelang sah man in ihm das Vorbild des gerechten, barmherzigen, siegreichen und untadeligen Herrschers“, erklärt Stefan Weinfurter. Gleichzeitig, so der Heidelberger Historiker, weise die Forschung schon lange auf die dunklen Seiten Karls hin: Er ließ seine Gegner samt Frauen und Kindern töten, hatte tausende Opfer von kriegerischen Auseinandersetzungen zu verantworten und führte ein liederliches, ausschweifendes Leben.

In seiner Analyse identifiziert Weinfurter ein Leitmotiv, das allem Handeln Karls des Großen zugrunde lag: das Streben nach Eindeutigkeit. „Karl war von einer religiösen Idee getrieben“, weiß der Mittelalter-Experte. Die Grundlage seiner Gesellschafts- und Staatsordnung stellte das Gesetz Gottes als absolute, einzig gültige Wahrheit dar. Die Eindeutigkeit dieser Wahrheit wurde zum alles bestimmenden Programm, das Karl der Große mit eiserner Hand durchsetzte. Weinfurter: „Sein Ziel war es, im europäischen Raum eine nie dagewesene Friedensordnung zu schaffen – allerdings mit Mitteln, wie wir sie heute nicht mehr teilen.“

Gleichzeitig erkannte der Frankenkönig, dass eine „Wahrheitsordnung“ in seinem Sinne nur auf Basis eines hohen Bildungsstandes gedeihen konnte. Und so setzte er eine Bildungsoffensive um, die unsere Wissenschaftskultur bis heute prägt. „Unser universitäres System würde ohne Karl den Großen nicht existieren“, ist sich der Historiker sicher: „Vielen Disziplinen wie beispielsweise den Altertumswissenschaften und der Philosophie würden die Grundlagen fehlen.“ Denn unter der Ägide Karls gelang es den Gelehrten in einem beispiellosen Kraftakt, antike Schriften zu retten, ohne die uns heute die Gedankenwelt der alten Griechen und Römer nur zu einem Bruchteil überliefert wäre.

Stefan Weinfurter bringt dem Leser die historische Persönlichkeit des Karolingers auf den 352 Seiten seines Werks in ihren unterschiedlichen Facetten näher und erläutert die Motive des mächtigen Herrschers. Er beleuchtet auch die Unterschiede zu unserer heutigen Wahrheitsauffassung, die sich grundlegend von der Karls des Großen unterscheidet. Denn anstelle des Glaubens an die eine, die absolute Wahrheit ist die Offenheit gegenüber der Vielfalt getreten, die Überzeugung, dass auf dieser Welt ebenso viele Wahrheiten existieren wie Kulturen. Weinfurter: „Welche Auswirkungen dieser Wandel für die Wissenschaften hat, ist eine hochspannende Frage, die noch nicht geklärt ist.“

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