Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Ein Auge für Stammzellen

Stammzellen sind in der Lage, aus nur einer Zelle Nachkommen mit jeweils unterschiedlichen Spezialisierungen zu generieren. Das belegen Untersuchungen Heidelberger Biologen am Modellorganismus des Medaka-Fisches mittels einer dauerhaften genetischen Zellmarkierung in der adulten Netzhaut. Dabei konnten die Wissenschaftler um Prof. Dr. Joachim Wittbrodt und Dr. Lázaro Centanin vom Centre for Organismal Studies (COS) der Ruperto Carola zeigen, dass alle retinalen Stammzellen Universalisten und Ursprung sämtlicher in der Retina vorkommenden Zelltypen sind. Die Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Cell Stem Cell“ veröffentlicht.

Stammzellen helfen dem Körper, zu wachsen oder defekte Bereiche zu regenerieren. Diese universelle Antwort auf unterschiedliche Probleme im erwachsenen Organismus, selbst im Gehirn, wird derzeit weltweit intensiv erforscht. Eine Schlüsselfrage blieb aber bislang offen: Handelt es sich bei der „Einsatztruppe“ der Stammzellen um eine Gruppe von Spezialisten oder um individuelle Universalisten?

In anderen Worten: Wird für jeden zu reparierenden Zelltyp ein spezieller Typ von Stammzellen benötigt oder kann eine einzige Stammzelle Nachkommen generieren, die in ihrer jeweiligen Umgebung alle Probleme beseitigen? Um diese Frage beantworten zu können, haben die Heidelberger Wissenschaftler eine permanente genetische Zellmarkierung mit Einzelzelltransplantationen am Modellorganismus des Medaka-Fisches kombiniert. So konnte die Arbeitsgruppe unter der Leitung von Prof. Wittbrodt einzelne Stammzellen in der Netzhaut, der Retina, und damit auch alle ihre Nachkommen in einem kompletten Stammbaum markieren. Auf diese Weise war es möglich, das Verhalten von Stammzellen in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren, der wachsenden Fisch-Retina. Die Untersuchungsergebnisse belegen, dass die retinalen Stammzellen multipotent sind und aus ihnen sämtliche in der Retina vorkommenden Zelltypen hervorgehen.

Experimentell zeigte sich dies in der Ausbildung von sogenannten „Arched Continuos Stripes“ (ArCoS). Dabei handelt es sich um Streifen, die die Retina durchziehen, alle Zelltypen umfassen und jeweils von einer Stammzelle ausgehen. „Interessanterweise sind damit verschiedene Zelltypen innerhalb eines ArCoS näher miteinander verwandt als benachbarte Zellen eines Zelltyps“, so Lázaro Centanin, der als Postdoktorand der Arbeitsgruppe von Prof. Wittbrodt angehört.

Durch Einzelzelltransplantation aus vier verschiedenen genetisch markierten Fischlinien (rechts) wurde eine Retina mit mehreren verschieden markierten „Arched Continuous Stripes“ (ArCoS) erzeugt. Die konzentrischen Schichten in jedem einzelnen ArCoS stellen alle verschiedenen Zelltypen der Retina dar. Zur Orientierung: Das Fischauge wird von der Seite betrachtet und die weiße runde Struktur in der Mitte ist die Linse.
Abbildung: Centre for Organismal Studies Heidelberg

Die Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Wachstum durch die Kontrolle der Stammzellvermehrung reguliert wird, während die Differenzierung in verschiedene Zelltypen als intrinsisches Programm abläuft. „Das ist so, als ob ein Haus von einem universellen Handwerker aufgebaut wird, der mauert, verputzt, installiert und auch das Dach deckt – und zwar alles gleichzeitig, weil der Handwerker in der Lage ist, sich zu teilen“, erklärt Joachim Wittbrodt, der Direktor des Centre for Organismal Studies Heidelberg ist und zugleich das Institut für Toxikologie und Genetik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) leitet.

Die Wissenschaftler konnten darüber hinaus aufzeigen, dass im selben Organ – der Retina des Fisches – neben den multipotenten retinalen Stammzellen eine zweite Klasse von Stammzellen existiert. Dies sind die Stammzellen der Pigmentschicht, deren Wachstumsverhalten mit dem der retinalen Stammzellen korreliert. Die Pigmentstammzellen haben jedoch nur ein begrenztes Potenzial und bringen lediglich einen Zelltyp hervor.

Neben der Bedeutung für die Grundlagenforschung zum Wachstum und der Regeneration des Auges hat insbesondere die angewandte Methodik der Heidelberger Forschungsarbeiten großes Potenzial für weitere Studien. Die genetische Markierung im Auge des Medaka-Fisches, das lebenslang in räumlich-zeitlich eng koordinierter Folge wächst, soll Einblicke in das Verhalten und die entscheidenden Entwicklungsprozesse von einzelnen Stammzellen und ihrer Nachkommen im intakten Organ ermöglichen. Darauf aufbauend wird die Gruppe um Prof. Wittbrodt nun die regulatorischen Mechanismen in Stammzellen in vivo und in ihrer natürlichen Umgebung weiter untersuchen.

Kontakt:

Prof. Dr. Joachim Wittbrodt
Universität Heidelberg – Centre for Organismal Studies
KIT – Institut für Toxikologie und Genetik
Telefon: 0 62 21/54-64 99
E-Mail: jochen.wittbrodt@cos.uni-heidelberg.de

L. Centanin, B. Hoeckendorf, J. Wittbrodt: Fate Restriction and Multipotency in Retinal Stem Cells. Cell Stem Cell (2011), doi: 10.1016/j.stem.2011.11.004