Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Immer wieder die gleichen Wege

Auch wenn es gerade in der Adventszeit bisweilen so aussieht, als ob die Einkaufswütigen immer wieder völlig orientierungslos umherirren: Um sich auf unbekanntem Terrain bewegen zu können, nutzt der Mensch individuelle „Ankerpunkte“, die ihm nach kurzer Zeit eine Orientierung ermöglichen, ohne dass er das gesamte Gelände erkunden muss. Das gilt auch für abstrakte Umgebungen – selbst in der Gedankenwelt eines Wortspiels, wie eine Gruppe junger Informatiker an der Universität Heidelberg jetzt zeigen konnte.

Für ihre Theorie zum Orientierungsverhalten des Menschen verwendeten die Wissenschaftler ein computerbasiertes Spiel mit Wörtern und werteten die Spielverläufe von Probanden mithilfe einer Software zur Netzwerk-Analyse aus. Dr. Katharina Zweig vom Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) der Ruperto Carola arbeitete dabei mit Forschern aus dem indischen Bangalore zusammen.

„Anfang der 1990er-Jahre berichtete eine Studie, dass Krankenhausschwestern selbst nach zweijähriger Tätigkeit immer wieder die gleichen Wege in einem fünfstöckigen Krankenhaus nutzten, um von A nach B zu gelangen, obwohl sie kürzere Wege kannten“, erläutert Katharina Zweig, die am IWR eine Nachwuchsgruppe leitet. Gemeinsam mit dem indischen Gastwissenschaftler Sudarshan Iyengar vom Indian Institute of Science in Bangalore analysierte die Informatikerin die Spielverläufe eines Wortspiels, das Aufschluss geben sollte über die Frage, warum Menschen immer wieder den selben Weg wählen und wie sie diesen festlegen. Die Forscher interpretierten dabei das Spiel als Simulation einer Umwelt, in der sich der Spieler nur nach bestimmten Regeln bewegen kann und sein Verhalten dadurch analysierbar ist.

Die Abbildung zeigt ein Wort-Netzwerk, in dem die Spieler die Lösung suchen. Zwei Wörter sind jeweils miteinander verbunden, wenn sie sich in nur einem Buchstaben unterscheiden. Beispielsweise enthält das blaue Teilnetzwerk alle Wörter mit einem A in der Mitte. In einem solchen Netzwerk gibt es viele Möglichkeiten vom Ausgangs- zum Endpunkt zu gelangen, aber die Probanden suchen sich jeweils Ankerpunkte für ihre Navigation.
Abbildung: Dr. Katharina Zweig

Für das Spiel wurden aus dem Oxford Dictionary alle Wörter mit drei Buchstaben ausgelesen und in ein Computerspiel generiert. Aus dieser Sammlung von fast 1000 Wörtern erhielten die Spieler ein Anfangs- und ein Endwort. Ihre Aufgabe war es, so schnell wie möglich von dem einen zum anderen zu gelangen, wobei pro Spielzug nur ein Buchstabe getauscht werden durfte.

Bei der Beobachtung der Testpersonen stellten Dr. Zweig und ihr Team fest, dass nach etwa 15 Spielen jeder Proband sehr viel schneller vom Anfangs- zum Endwort gelangen konnte als zu Spielbeginn. In den ersten Spielrunden fiel ihnen dies extrem schwer, weil sie mit einer nur wenig effektiven Strategie arbeiteten: Sie versuchten, zunächst einen Buchstaben des Endwortes in einem neugebildeten Wort unterzubringen, um von dort aus zur Lösung zu gelangen. Sehr viel einfacher kamen sie jedoch zum Ziel, wenn sie immer wieder bestimmte Wörter bildeten, um sich damit durch das Spiel zu navigieren.

Die Spielverläufe, die am Computer erfasst wurden, werteten Katharina Zweig und Sudarshan Iyengar mit einer speziellen Software zur Netzwerk-Analyse aus. Die von den Probanden gebildeten Worte wurden mitgeschrieben und als Punkte in einem Netz möglicher Wörter dargestellt. Damit erhielten die Wissenschaftler eine „Wolke“ aus Punkten, die für jede Testperson charakteristisch war. Sudarshan Iyengar: „Nach den Anfangsschwierigkeiten hat sich gezeigt, dass die Spieler ,Lieblingsworte‘ haben, die sie während der Spiele immer wieder bilden. Wir haben diese Worte als Ankerpunkte in dem Wort-Netzwerk identifiziert und analysiert. Dabei konnten wir feststellen, dass die Ankerpunkte nicht immer innerhalb des kürzesten Weges vom Anfangs- zum Endwort liegen, die Spieler aber dennoch damit sehr viel schneller ans Ziel kommen.“

Die Erklärung der Forscher dafür ist, dass die Ankerpunkte der Lieblingsworte stets zentral innerhalb des Netzwerkes angesiedelt sind – und zwar nicht nur in jenem des jeweiligen Spiels sondern im gesamten Netzwerk aller Wörter aus dem Wörterbuch, wie die Auswertungen am Computer gezeigt haben. „Bewegen wir uns auf fremdem Terrain, bilden wir uns individuell Stützpunkte, die wir immer wieder aufsuchen, um so schnell wie möglich die Umgebung zu erkunden. Die Ankerpunkte helfen uns also, einen Teil des großen Netzwerkes zu verstehen und eine Lösung zu finden, ohne dass wir das gesamte Netzwerk durchsuchen müssen“, erklärt Dr. Zweig.

Für die Publikation „A Network Analysis Approach to Understand the Human Way-finding Problem“ wurde das Team um Katharina Zweig während der Konferenz für Kognitionswissenschaften „CogSci 2011“ Ende Juli von der Cognitive Science Society mit einem Preis ausgezeichnet.

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Kontakt:

Dr. Katharina Zweig
Interdisziplinäres Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR)
Telefon: 0 62 21/54-81 90
E-Mail: katharina.zweig@iwr.uni-heidelberg.de
www.ninasnet.de