Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Der viel zitierte Leisetreter war er gewiss nicht“

Am 19. April 2010 jährte sich zum 450. Mal der Todestag des Humanisten und Reformators Philipp Melanchthon (1497 bis 1560), der einst einen Teil seines Studiums an der Ruperto Carola absolvierte. Vier Studenten – Jasper Bittner, Michael Roth, Raphael Diegelmann und Philipp Meller – eines Hauptseminars von Dr. Isabelle Deflers am Historischen Seminar, das Melanchthons Leben, Werk und Wirkung zum Thema hatte, haben dazu Dr. Heinz Scheible interviewt (Fotos: privat). Den Mann, der 50 Jahre seines Lebens dem nahezu 10 000 Stücke umfassenden Briefwechsel des Reformators und seiner Edition widmete.

Herr Scheible, wann begann Ihre wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Humanisten und Reformator Philipp Melanchthon?

„Die Forschung zu Melanchthon lag lange im Argen. Dass sein Briefwechsel ediert werden musste, war unbestritten. Ich war dazu bereit. Meine Promotion erfolgte zufällig im 400. Todesjahr Melanchthons. Dies erleichterte die Finanzierung. Zunächst bewilligte die Badische Landeskirche für mich ein Stipendium auf zwei Jahre. In dieser Zeit habe ich mich in die Texte eingearbeitet und den Plan zur Gründung eines Instituts entworfen, den mein Lehrer, der Theologe und Kirchenhistoriker Prof. Heinrich Bornkamm, dann bei der Fritz Thyssen Stiftung einreichte. 1963 konnte die Melanchthon-Forschungsstelle Heidelberg gegründet werden. 1965 wurde sie von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften übernommen, wo sie bis heute angesiedelt ist.

Durch Ihre langjährige Tätigkeit als Leiter dieser Forschungsstelle sind Sie zu einem exzellenten Melanchthon-Kenner geworden. 1997 haben Sie auch eine Biographie zu ihm verfasst. Warum eine neue Lebensbeschreibung?

„Weil man ein Buch für ein allgemeines Publikum brauchte. Jubiläen bieten immer eine Gelegenheit, eine Person oder ein Ereignis zumindest für einen kurzen Moment in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Gerade bei Melanchthon, der gemeinhin allzu schnell hinter Luther zurücktreten muss, ist so ein Jubiläum ein guter Anlass dafür. Ich habe bei meiner Darstellung nicht die Sicht von außen gewählt sondern die Sicht Melanchthons, die ich aus seinen Briefen kannte. Dadurch, dass ich mich mein ganzes Arbeitsleben mit Melanchthon befasst habe, ist in diese Biographie mein gesamtes Wissen aus all diesen Jahren eingeflossen.“

Wie erklären Sie sich, dass Melanchthon stets im Schatten Martin Luthers geblieben ist?

„Allein aufgrund seines Alters und seiner Rolle als Initiator gebührt Luther die historische Priorität. Auch Zwingli und Calvin sind bekannter als Melanchthon, weil sie die Gründerväter von heute noch existierenden Konfessionen sind. Philipp Melanchthon verblieb jedoch bereits in zeitgenössischer Sicht keineswegs im Schatten Luthers und der anderen Reformatoren; im Gegenteil, die Rezeption seines Werks und Melanchthons europaweite Ausstrahlung dürften die Luthers zeitweise noch übertroffen haben. Der viel zitierte ,Leisetreter’ im Gegensatz zum kämpferischen Luther war er gewiss nicht.“

Woher rührt das stellenweise eher schlechte Bild dieses Reformators?

„Häufig wurden Melanchthon fehlende Konsequenz und zu große Kompromissbereitschaft vorgeworfen. Doch diese Anschuldigungen werden dem Charakterbild dieses Mannes nicht gerecht. Die theologischen Streitigkeiten wurden meist mit seinen Schülern ausgetragen. Diese vereinfachten nicht selten die überlegten Aussagen Melanchthons in fataler Weise.“

Bieten Melanchthons theologische Bemühungen um Koexistenz der Glaubensrichtungen nicht einen herausragenden Ansatzpunkt für die heutige Ökumene?

„So viel ist gewiss: Nicht ohne Grund beschäftigen sich auch katholische Theologen mit Melanchthon. In der Ökumene macht sich eine zunehmende Annäherung bemerkbar; selbst der Laienkelch stellt bei den Katholiken kein unüberwindliches Hindernis mehr dar. Diese Entwicklung ist hoffnungsvoll, wenn auch in Bezug auf Priesterehe und Ordination der Frauen vorläufig keine Einigung zu erwarten ist.“

Melanchthons Wirkungsstätte Wittenberg liegt im Gebiet der ehemaligen DDR. Sie waren oft in Ostdeutschland, um neue Quellen zu suchen. Gab es da seinerzeit Schwierigkeiten?

„Ich erhielt quasi durch Naturalwirtschaft Zugang zu den Archiven und Mikrofilmen: Die Library of Congress in Washington, die viele Akten der Nazi-Vergangenheit aufbewahrt, publizierte viele dieser Dokumente damals in Form von Mikrofilmen. Daran waren natürlich die DDR-Archive interessiert, hatten aber Schwierigkeiten, da ranzukommen. Nach deren Vorgaben kaufte ich diese Mikrofilme und tauschte sie gegen Mikrofilme von Melanchthon-Handschriften aus der DDR.“

Passt Melanchthons humanistisches Bildungsideal eigentlich noch in unsere Zeit?

„Die Humanisten kritisierten zum Beispiel die unverständliche Fachsprache der Scholastik. Analoges gilt für manche Wissenschaften der späteren Zeit bis hin zu unseren Universitäten. Zeitlos gültig ist Philipp Melanchthons Forderung nach Klarheit des Denkens und Klarheit der Sprache. Seine humanistischen Grundsätze gelten auch heute noch, selbst wenn man seine theologischen Ziele nicht teilt. Daran können wir uns ein Beispiel nehmen.“