Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

„Die Realität“ der Wirtschaftskrise gibt es nicht

Von Rita Hackl und Éva Hozleiter

Im Zuge eines Parallelseminars „Linguistische Mediendiskursanalyse: Regierungen in der (Wirtschafts-)Krise“ der beiden Dozenten András Komáromy (Eötvös-Loránd-Universität Budapest) und Friedemann Vogel (Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg) haben 17 ungarische und deutsche Studierende ihre Ergebnisse am Germanistischen Seminar der Ruperto Carola vorgestellt. Gegenstand ihrer Untersuchung war die Darstellung der Weltwirtschaftskrise in deutschen Medien und der deutschsprachigen Presse in Ungarn.

Während eines einwöchigen Gastaufenthalts der deutschen Studierenden in Budapest (Foto: privat) hatten sich die beiden Gruppen mit den theoretischen und methodischen Grundlagen der linguistischen Mediendiskursanalyse auseinandergesetzt. Beim anschließenden Heidelberger Aufenthalt der ungarischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnte dann unter Anleitung beider Seminarleiter der Feinschliff der einzelnen Untersuchungen vorgenommen werden.

Auch ein Besuch bei der größten ungarischen Tageszeitung Népszabadság in Budapest sowie eine Redaktionssitzung der Frankfurter Rundschau standen auf dem Programm. Dabei erhielten die Studierenden einen Einblick in den Alltag und die Arbeitsweise von Journalisten, die bei der Textanalyse berücksichtigt werden mussten.

Grundlage der sprachwissenschaftlich orientierten Untersuchung war die diskurstheoretische Feststellung, dass es „die Realität“ der Wirtschaftskrise an sich nicht gibt. Sie ist nichts zum Anfassen sondern wird durch Medientexte und -bilder erst geschaffen und zugleich sprachlich perspektiviert. Im alltäglichen Konsumieren von Medienerzeugnissen bleibt das meist unreflektiert, ebenso der Einfluss der medialen Wirklichkeitskonstruktion auf unser Denken und Handeln.

Bei der Analyse ging es unter anderem darum, wie Journalisten versuchen, ihre Perspektive auf Sachverhalte und Gegenstände im Diskurs durchzusetzen (sogenannte Semantische Kämpfe). Während des Seminars war auch zu klären, ab welchem Zeitpunkt und mit welchen sprachlichen Mitteln und Bildern die „Krise“ in den Medien in Erscheinung trat. Die Texte wurden dabei anhand eines komplexen Analyse-Rasters untersucht.

Besonders im Bereich der Metaphorik kamen die Kleingruppen zu aufschlussreichen Ergebnissen: Die Krise wird meist als unvorhersehbares, unaufhaltbares, nicht regulierbares, streckenweise sogar als mystisches Phänomen konstituiert, beschrieben durch Bilder wie „kriegsähnliche Zustände“, „Naturkatastrophe“ oder „ansteckende Krankheit“. Während Ausdrücke wie „Schützengraben“, „explodierende Kosten“ oder „Zeitbombe“ samt ihrem Kontext auf ein von Menschen verursachtes Ereignis hindeuten, lassen andere Belege wie „Sturm“ oder „Sintflut“ die Krise als eine unbeherrschbare, von Menschen unabhängige Katastrophe erscheinen.

„Jeder kann sich nur noch festklammern und hoffen, dass das Schiff nicht kentert. Und natürlich, dass der Sturm bald vorüber ist. Denn ebenso wie der Sonnenschein nicht ewig anhalten konnte, wird sich auch der gegenwärtige Sturm wieder verziehen“, hieß es etwa in der Budapester Zeitung. Solch sprachliche und konzeptuelle Muster sind in der Berichterstattung über die Weltwirtschaftskrise in dem untersuchten Zeitintervall immer wieder zu finden. Sie zeigen auch, wie die unterschiedlichen sprachlichen Zubereitungen der Krise in den Medien ganz unmittelbare Folgen für unsere Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten haben können: Denn wer wagte schon, gegen wiederkehrende und verselbstständigte „Stürme“ anzutreten?