Quantenphysik – heiß und kalt zugleich
17. April 2015
Bild: Sebastian Erne, Universität Heidelberg, Institut für Theoretische Physik
Eine Wolke aus Quantenteilchen kann mehrere Temperaturen gleichzeitig aufweisen. Das zeigen Experimente, die im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von Wissenschaftlern der Universität Heidelberg und der Technischen Universität Wien (Österreich) durchgeführt wurden. Die Ergebnisse der Studie machen es möglich, dass sich die Gesetze der Quantenwelt besser mit einer statistischen Beschreibung zusammenführen lassen. „Dies ist für das Verständnis einer Vielzahl von Quantensystemen bedeutsam und eröffnet einen neuen Blick darauf, wie aus der Welt der Quanten unsere alltägliche Welt mit ihren ,klassischen‘ statistischen Eigenschaften wie der Temperatur hervorgeht“, sagt Prof. Dr. Thomas Gasenzer, der als Physiker an der Ruperto Carola lehrt und forscht. Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten wurden jetzt in „Science“ veröffentlicht.
Abbildung: Tim Langen, TU Wien, Atominstitut
Die Luft um uns herum besteht aus unzähligen Molekülen, die ununterbrochen wild durcheinander fliegen. Jeder Versuch, alle diese Teilchen zu verfolgen und ihre Flugbahnen zu beschreiben, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Doch für viele Anwendungen ist dies auch gar nicht erforderlich, da sich Eigenschaften finden lassen, die das gemeinsame Verhalten aller Moleküle statistisch beschreiben – etwa die Temperatur, die sich aus den Geschwindigkeiten der Moleküle ergibt. Nach den Worten von Prof. Gasenzer ist die Temperatur eine außerordentlich nützliche Größe, da sie eine einfache statistische Aussage über die Energie eines hochkomplizierten Teilchengewirrs ermöglicht. Die Wissenschaftler in Heidelberg und Wien haben nun untersucht, auf welche Weise Quantenteilchen einen statistisch beschreibbaren Zustand erreichen. Prof. Gasenzer arbeitete dazu mit dem Team von Prof. Dr. Jörg Schmiedmayer am Atominstitut der Technischen Universität Wien zusammen.
Wie Prof. Gasenzer betont, ist die statistische Betrachtungsweise außerordentlich erfolgreich. Sie beschreibt viele physikalische Vorgänge – vom kochenden Wasser im Topf bis zu Phasenübergängen in Flüssigkristallen, die in Flachbildschirmen Anwendung finden. Trotz intensiver Forschungsanstrengungen gibt diese Betrachtungsweise aber immer noch Rätsel auf, vor allem wenn es um Quantensysteme geht. Wie aus vielen quantenmechanischen Einzelteilen die bekannten Gesetze der statistischen Physik – und damit letztlich auch unsere „klassische“ Welt – hervorgehen, ist eine der großen offenen Fragen der Physik. Mit den aktuellen Forschungsarbeiten in Heidelberg und Wien ist es gelungen, Vorgänge in einem Quanten-Vielteilchensystem in Experimenten präzise zu beobachten, um die Ausbildung statistischer Eigenschaften besser zu verstehen. Die Wissenschaftler haben dazu Wolken aus wenigen tausend Atomen auf einem speziellen Mikrochip eingefangen und auf Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt von -273 Grad Celsius gekühlt. Dabei treten die Quanteneigenschaften der Atome hervor.
Die Experimente brachten Erstaunliches zu Tage: Nach einer plötzlichen Änderung der äußeren Bedingungen am Mikrochip strebt das Quantengas hin zu einem Gleichgewichtszustand, der durch ein statistisches Modell mit mehreren Temperaturen beschrieben wird. Das Gas kann also heiß und kalt zugleich sein. Die Anzahl der Temperaturen hing davon ab, wie die Forscher die Gase manipulierten. Nach den Worten von Dr. Tim Langen, der die Studie am Atominstitut leitete, können diese komplexen Quantensysteme mit den Mikrochips sehr gut kontrolliert und ihr Verhalten untersucht werden. Dies ist aus seiner Sicht besonders wichtig, da es bereits zuvor entsprechende theoretische Vermutungen gab, das vorhergesagte Verhalten aber noch nie direkt beobachtet und kontrolliert erzeugt werden konnte.
Die Experimente in Wien wurden an der Universität Heidelberg mit umfangreichen numerischen Berechnungen begleitet. Die Wissenschaftler berechneten die Quantendynamik der Gase, um die theoretischen Vorhersagen überprüfen und die Messdaten korrekt interpretieren zu können. „Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist vor allem die Möglichkeit, hochkomplexe Zusammenhänge zwischen Messgrößen an unterschiedlichen Positionen in dem System direkt zu messen“, sagt der Heidelberger Physiker Sebastian Erne, der für den Vergleich zwischen Theorie und experimentellen Daten geeignete numerische Algorithmen entwickelt hat. Mit Hilfe von Hochleistungsrechnern konnte er zeigen, dass die gemessenen Korrelationen die vorausgesagten speziellen statistischen Eigenschaften bedingen. „Das Gas muss also als heiß und kalt zugleich aufgefasst werden, damit die experimentellen Beobachtungen in sich schlüssig sind und sowohl den etablierten Gesetzen der Quantenphysik als auch der statistischen Beschreibung genügen“, betont Prof. Gasenzer.
Originalveröffentlichung:
T. Langen, S. Erne, R. Geiger, B. Rauer, T. Schweigler, M. Kuhnert, W. Rohringer, I. E. Mazets, T. Gasenzer, J. Schmiedmayer: Experimental observation of a generalized Gibbs ensemble, Science 10 April 2015: Vol. 348 no. 6231 pp. 207-211, doi: 10.1126/science.1257026